Zeit für Kakao

John Burnside schreibt in „Wie alle anderen“ über selbstzerstörerische Männlichkeit und das irgendwie übliche unerreichbare Leben

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„È quindi uscimmo a riveder le stelle“ – dann traten wir hinaus, die Sterne anzusehen: sicher tritt John Burnside in Wie alle anderen nicht mit einem Schritt aus der Finsternis der Dante’schen Hölle ins Licht, jedoch lässt sich, was er erzählt, doch als Aufstieg in erträgliches Dunkel deuten. Das hier ist ein Bildungsroman der moderneren Sorte. Ein kohärentes Ich ist nicht mehr vorhanden, aber immerhin verordnet es sich am Ende ein neues Leben. Wie alle anderen scheint die Fortsetzung von Burnsides erstem autobiographischen Buch Lügen über meinen Vater zu sein, ein Roman über das Leben nach der Zeit mit dem Vater, und doch auch nicht.

Wie soll man sich Burnsides zweiter Erkundung der „heimeligen Ecken und Winkel“ seiner „ureigenen Vorhölle“ annähern? Möglich wäre erstens: Burnside will sein wie alle anderen, normal – doch Normalität ist überschätzt. A-normalität aber auch. Vielleicht taugt diese Dichotomie einfach nichts, dieses Schwarzweiß mit der je pingpongartig eingebauten Zulassung des Gegenteils. Zweitens: Wer Burnsides Vater-Buch las und wer aus einer irgendwie vergleichbaren Schicht stammt (wenig stolzer, aber selbstverständlicher Sohn der schottischen Arbeiterklasse), ist vertraut mit Männern dieses Schlags (Burnside jun. et. sen.).

Und was sind das für Männer, die durch Leben und Literatur geistern? Sie benutzen ihren Körper als Werkzeug zum (Selbst-)Zerstören, wobei sie sich selber nicht verstehen, denn um eine Auseinandersetzung mit dem eigenen inneren Selbst ging es nie. Funktionieren, Rhythmen des Körpers, sei es beim Arbeiten, beim Rauchen, beim Saufen, beim Sex. Männer, die mit ihren Gefühlen nicht zu Rande kommen, weil sie nicht einmal wüssten, wie man das Wort buchstabiert, da dort, wo sie herkommen, meist geschwiegen wird, bestenfalls für Schweinebraten gibt es ein Wort – kurz: dies Buch ist auch ein Buch über eine bestimmte, vielleicht vielen fremde Art Männlichkeit. Drittens: Es gibt ja das Klischee, dass es Beatles- und Stones-Anhänger gäbe, wechselseitig exklusive Klassen und tertium non datur. Aber es gibt noch eine dritte eher seltene Möglichkeit: The Who, die etwas verkörperten, was Burnside verkörpert: Wucht und Energie, die gar nicht wissen, wohin sie mit sich sollen – und dann in Metaphern und Bilder transformiert werden, die brillant sind und eine eigene Welt erschaffen.

Burnside will ein normales Leben: „frei von Drogen, von Träumen, mit einträglicher Arbeit. Wie alle anderen wollte ich sein, ein Hausbesitzer, Steuerzahler“, eben unauffällig und betäubt: „Das war Anfang der Achtziger: Höhepunkt des konservativen Rückschlags. Das große Bild war […] schmerzlich grau geworden, […] und mir waren die Alternativen ausgegangen. Als einzige Hoffnung blieb, in die Normalität zu verschwinden“. Solch einem Vorhaben zu folgen ist allemal interessant.

Das Buch beginnt mit dem „Schlusswort (I)“. Burnside, moderner Dante, ist in einer Irrenanstalt: weder weiß er, wie er dort hinkam, was er dort soll, noch, was um ihn herum vorgeht. Er ist also irgendwie verschwunden. Und dies, zu verschwinden, wird in allen brauch- und unbrauchbaren Varianten (Alkohol, Drogen, stundenlang Löcher in die Luft starren) ein wiederkehrendes Motiv in diesen Erinnerungen bleiben. Das blieb nicht der einzige Aufenthalt in der Psychiatrie. Burnside selbst sieht sich als Apophäniker, womit er auf Klaus Conrads Konzept der beginnenden Schizophrenie rekurriert. Apophäniker haben ein abnormes Bedeutungsbewusstsein, erkennen (schräge) Zusammenhänge, wo Normalos passen müssen.

Bald findet sich Burnside im Versuch, normal zu werden, in einer AA-Gruppe wieder, nur um zu wissen, dass dies eine selbstinszenierte Lüge ist – aber immerhin ist das einen Versuch wert. Wie es auch einen Versuch wert ist, in die Vorstadt zu ziehen, um nicht unterzugehen. Dennoch: „Theoretisch“ wollte er ein normales Leben, das ihm doch nur als bloßes Vegetieren erscheint – drogenlos, belanglos. Dazu kommt ein Aushilfsjob in einer Altenheimanlage, gärtnern, anstreichen, Kleinkram reparieren. Burnside wechselt die Jobs, landet in einer Behörde, immer noch trocken. Das hält nicht lange an. Er lernt Greg kennen, der ihn ins „Kafkaland“ entführt, denn Greg, gefangen in einer Ehe, die ihm ausweglos erscheint, schlägt Burnside vor, seine Frau zu ermorden. Greg ist nur einer der ersten jener bizarr-normalen Burnside-Figuren, denen weitere folgen. So ist dieses Buch auch eins über Menschen, die unglücklich sind, das immer bleiben werden, aber glücksversessen weiterwursteln.

Die nächste Episode handelt von Gina, „nur ein bisschen zu reif, noch nicht ganz verblüht, aber auf dem besten Wege dahin“, ausgestattet mit einer gescheiterten Ehe und drei Kindern. Gina will auch ein normales Leben haben, das aber anders aussieht als das Burnsides. Als sie feststellt, dass er wohl mehr an der Normalität einer Familie, dem einschläfernden Trallala der Kinderaufzucht als womöglich an ihr interessiert ist, bleibt ihr nichts als ein entschlossenes „Verpiss dich“.

Helen, eine junge Frau, wird einfach so versterben, dann wird er Adele, einst eine große Liebe, wiedertreffen. Immerhin sind mit ihr Übungen in Normalität wie in japanischer Alltagsmystik möglich. Hier erreicht der Mystiker (aka Apophäniker aka Freund der eigenen psychologischen Verliese und deren Ecken) Burnside wabi-sabi, einen Zustand „alltäglicher Gnade, in dem gewöhnliche Dinge und Ereignisse zu Sakramenten werden“, jetzt endlich „brach also die Zeit für Kakao an, für Sonntagsspaziergänge und fürs Heimwerken“, das Saufen hört auf, das Joggen fängt an. Doch alles hat seine Zeit, wie der Katholik Burnside weiß. Adele trennt sich, als sie ein Kind von ihrem Mann erwartet.

Burnside arbeitet inzwischen in der Computerbranche und bekommt einen Job in Kalifornien angeboten – Anlass für eine lange Digression über Burnsides frühen Wunsch zu fliegen (nur eine weitere Art zu verschwinden). Mit vierzehn verliebte er sich in eine Flugpionierin, doch später galt: „Die Hoffnung fliegen zu können, hatte ich inzwischen fast aufgegeben; statt der Schwerkraft zu trotzen und ins All davonzufliegen, interessierte mich längst eher die Möglichkeit, gänzlich zu verschwinden“, was ihm durch ein jahrelanges Leben aus dem Koffer auf Flughäfen und in anonymen Hotels gelingt. Doch Verschwinden ist nicht so einfach, wenn man eines Tages von einer etwas esoterischen Beatrice im Innersten erkannt wird. In Heathrow trifft Burnside eine ältere (etwas arg weise) Frau, die ihm in Kalifornien in einer Buchhandlung wiederbegegnen und ihm dort Dantes La vita nuova schenken wird.

In der letzten Episode ist Burnside immer noch als Computerexperte tätig und wieder gelingt ihm eine missratene Liebesgeschichte mit Esmé, einer kaum 16-Jährigen: „Dennoch bleibt es wahr: Sich zu verlieben ist niemals eine gute Idee. Sich zu verlieben offenbart uns etwas über uns selbst, das wir lieber nicht wüssten. Sich zu verlieben bedeutet, Ordnung aufzugeben“ – aber war das nicht immer auch das, was Burnside wollte?

Am Ende muss Burnside, ehedem und nach wie vor ein eher eingemauerter wuchtiger Mann in seinen psychischen Verliesen, resümieren: „Es ist lange her, dass ich normal sein wollte. Ich hab’s probiert, aber es war nichts für mich“, doch verrückt sein konnte und wollte Burnside auch nicht mehr. Die Welt sei ihm heute „nicht mehr zu viel, sie ist mir mehr als genug – und nach langem Nachdenken frage ich mich seit Kurzem, ob es nicht eine Alternative zu den Zwillingspolen von verrückt und normal gibt, eine Disziplin, in etwa dem Fliegen vergleichbar oder dem Verschwinden“.

Titelbild

John Burnside: Wie alle anderen.
Übersetzt aus dem Englischen von Bernhard Robben.
Knaus Verlag, München 2016.
317 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783813507140

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