Gütig und erbarmungslos
Jennifer Clement blickt auf ein Amerika der Armut und Gewalt
Von Karsten Herrmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn eine Sammlung mit den schönsten Romananfängen sollten diese Sätze unbedingt mit aufgenommen werden: „Meine Mutter war eine Tasse Zucker. Man konnte sie jederzeit ausleihen.“ Kostbarkeiten von diesem Kaliber bietet gun love von Jennifer Clement am laufenden Band und sie führen hinein in einen tief berührenden Kosmos aus unbedingter Liebe, Güte, Gewalt und Tod: „Das Leben war wie ein Schuh am falschen Fuß.“
Die P.E.N.-Präsidentin Jennifer Clement erzählt in ihrem Roman die Geschichte der heranwachsenden Pearl, die mit ihrer Mutter seit ihrem ersten Lebensjahr vor einem Trailerpark in einem alten Ford Mercury Topas lebt. Die Vordersitze sind Pearls Zimmer, die Rücksitze das ihrer Mutter. Im Kofferraum haben sie sorgfältig in Tüten sortiert ihr Hab und Gut untergebracht – darunter auch Erbstücke aus dem begüterten Elternhaus, in dem Pearls Mutter aufwuchs und Klavierspielen und Französisch lernte. Zum Frühstück gibt es Brot mit Erdnussbutter oder Trockenmilch mit Cornflakes oder einfach eine Tüte Cheerios. Die einzige Freundin von Pearl ist April May, mit der sie Zigaretten klaut und unten am Fluss, wo eines Tages ein siamesisches Alligatorbaby auftaucht, raucht.
Im Trailerpark, durch den der Geruch der naheliegenden Müllkippe weht, lebt der Bodensatz der amerikanischen Gesellschaft – ein beinamputierter Ex-Soldat mit Frau und Kind, ein Ex-Lehrerin mit ihrer behinderten Tochter, ein mexikanisches Pärchen und der rührige Prediger Rex. Er versucht mit Aktionen wie dem „U-Turn“ oder dem „Drive-in-Gebet“ seine Schäfchen zu erreichen und startet in einer Welt, in der die Kinder statt mit Spielzeug mit Waffen spielen, die „Gebt-Gott-eure-Waffen-Initiative“.
Rex ist es auch, der den undurchsichtigen Eli Redmont in den Trailerpark bringt – und damit das Schicksal von Pearls Mutter besiegelt, die keiner Fliege etwas zuleide tun kann und von herzlicher Güte ist. Mit einer seiner Waffen wird sie eines Morgens von 20 Kugeln durchsiebt. Pearl kommt zu einem Pflegevater. Dort lebt sie zusammen mit Helen und Leo – zwei weiteren Kindern, die ihre Eltern durch Waffengewalt verloren haben und „Shots“ genannt werden. Nur kurz kann Pearl hier den „Kindheitstraum von Sicherheit und Zusammenhalt“ träumen, denn sie weiß, dass sie bald wieder woanders hinkommen wird. So bricht sie mit Corazón aus dem Trailerpark auf nach Mexiko, wo die Fäden des Unglücks wieder zusammenlaufen und in einer weiteren Gewalttat münden.
Clement führt den Leser mit gun love in ein Amerika der Armut und Gewalt und kontrastiert dies mit einer wohlig warmen, einhüllenden und poetischen Prosa. Wie helle Sternschnuppen ziehen immer wieder tief berührende, in sich oszillierende Sätze durch diesen Roman-Kosmos und heften sich ins Gedächtnis. Es sind Sätze voller Naivität und tiefer Einsicht, voller Tragik und Melancholie: „Wie kann ich dich vermissen, wenn du nicht weggehst?“ Dieser packende, begeisternde Roman ist ebenso gütig wie erbarmungslos, und am Ende kommt so selbst der kleinste Zipfel Glück unter die Räder von Zerstörung und Gier.
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