Die philosophische Eiswaffel

Emily Cooper zelebriert in ihrem Gedichtband „Verlangsamung des Herzschlags“ eine Poetik des Unscheinbaren

Von Marie Isabel Matthews-SchlinzigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie Isabel Matthews-Schlinzig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann ein zu Boden gefallenes Eis denn ein erhebender Anblick sein?
Gedankentrick, zur Rettung der Situation: Ein überfahrener Dachs
ist immer noch ein Dachs, der einmal lebte.

So beginnt Das erste Missgeschick des Sommers, das Eröffnungsgedicht des nun auf Deutsch vorliegenden Debütbands der irischen Lyrikerin Emily Cooper, Verlangsamung des Herzschlags (Übersetzung: Astrid Köhler). Etwas auf den ersten Blick Unscheinbares, von dem man die Augen eher schnell abwendet, wird hier, in Ruhe betrachtet, zu einem janusköpfigen Symbol von Verletzlichkeit und Trost.

Die Vorgehensweise, mithilfe weniger Zeilen und ausgehend von einem täuschend einfachen Motiv oder einer Alltäglichkeit, komplexe Perspektiven auf Hintergründiges zu eröffnen, zieht sich wie ein roter Faden durch das schmale Buch. Nicht umsonst heißt es am Ende des Gedichts Kleines Knoblauchbrevier: „Es scheint ganz klar, dass alles mit allem zusammenhängt.“

Emily Coopers Gedichte erzählen Geschichten, in die man leicht hineingezogen wird und in denen man gern verweilt – aber durchaus auf eigene Gefahr: So wie das lyrische Ich, das um sich zu vergnügen An Minotaurus‘ statt für kleines Geld ein Labyrinth besucht – nur um festzustellen, dass es nicht dessen verschlungene Wege, sondern die bedenklich laxe Konstruktionsweise ist, die die Sicherheit der Besucher:innen gefährdet. Und dass im Zentrum des irremachenden Gangnetzes eine Leerstelle klafft, in der sich die Eintretenden nur selbst begegnen. Eine Metapher auf das menschliche Existieren in der Welt, gespickt mit einer nicht geringen Menge Selbstironie.

Spezifischer um die conditio feminae geht es in Vorstellungen von Sex: Hier verändert sich der mentale wie physische Aggregatzustand des lyrischen Ichs dadurch, dass es auf Berührungen mit anderen verzichtet: „in den Wäldern spüre ich die Bäume um mich herum wie Körper“ – ein schrittweiser Akt der Befreiung von (primär männlicher) Nachstellung, der nicht frei von zwiespältigen Gefühlen und Verhaltensweisen ist und sich nur langsam vollzieht.

niemand pfeift mir mehr nach / einmal ist mir jemand gefolgt / in einer Kleinstadt / ich war etwa zwölf / es wurde dunkel doch ich kam davon / das Gefühl vergisst du nie wenn jemand dir um die Ecke nachschaut / ist es besser nicht angeschaut zu werden? […] / ich löse mich aus Umarmungen / ich will keine Hände halten […] / sonnenbeschiene Steine wärmen mich / ich lege mich hin.

Sinnlichkeit ist ein zentrales Thema dieses Gedichts, spielt aber auch in den übrigen Texten des Bands eine wichtige Rolle: So geht es immer wieder um den Geruch, Geschmack, die ergreifbare (oder ergreifende) Konsistenz der Dinge, ihr Aussehen, die Geräusche, die sie machen. Wie zu Anfang angedeutet, liegt Coopers Stärke im genauen Beobachten und der subtilen Aufladung solcher Details.

Mehrfach begibt sich das lyrische Ich auf eine Art Spurensuche, sowohl in der eigenen Gegenwart und Erinnerung wie der anderer und schließlich auch in weiter zurückliegenden Schichten menschlichen Erfahrens und Erzählens. So führt in Ein Füllfeder ritzt mein Bein durch einen Müllsack, als ich mein neues Haus beziehe eine Verletzung von den nicht erfolgreich entsorgten Hinterlassenschaften vorheriger Hausbewohner zum Gedanken an die eigene Mutter und deren Haus, das immer mehr dem der Großmutter ähnelt.

In Glas werden auf Dias festgehaltene Familienerinnerungen ineinander geblendet mit selbst Gesehenem und Historischem wie etwa der Lichtarchitektur des alten Hauses, das das lyrische Ich beim Renovieren erfolglos gegen die Zumutungen moderner „industrielle[r] Standard[s]“ zu schützen versucht. In der Überschau scheinen diese Gedichte zu sagen: Erinnerung ist eine Wunde, die unvermutet aufbrechen kann; und: Jedes Bemühen, etwas auf Dauer zu bewahren und behüten, ist letztlich zum Scheitern verurteilt.

Bei all dem bleibt Coopers Sprache durchweg schmucklos, lakonisch und (manchmal bewusst aufschreckend) unaufgeregt. Reimlose Verse und Prosagedichte wechseln einander ab. Zudem setzt Cooper in mehreren ihrer Texte Satzzeichen eher sparsam sein, was gerade in den Prosagedichten den Eindruck eines Ineinanderfließens von Worten und Ideen verstärkt. Die Abwesenheit von formaler Überwältigung und hermetischen Konstruktionen schafft eine Zugänglichkeit, die allerdings nicht zu verwechseln ist mit mangelnder Tiefe und Komplexität.

Mehrfach operiert die Autorin mit den Prinzipien der Assoziation und der Koinzidenz: Unterschiedliche Schicksale werden ineinander geblendet; teils banal-alltägliche, teils außergewöhnliche, fast absurd wirkende Begebenheiten treffen aufeinander; Erzählstränge kreuzen sich: So berichtet Io am Tisch erst von der Sichtung einer Walmutter, die auf ihrem Rücken ihr totes Kalb trauernd an der Küste entlang durchs Meer trägt, und dann von einem Mann, der „in derselben Woche“ ein leichtes Flugzeug stiehlt und ohne professionelle Flugkenntnisse startet („er hatte sich selbst das Fliegen beigebracht, im Flugsimulator im Keller seines Hauses“), hinaus übers Meer fliegt, ohne landen zu können oder zu wollen, und der, als ihm die Walmutter einfällt, beschließt, nichts anderes mehr im Leben zu wollen, als sie zu sehen.

Ebenso wie diverse Nahrungsmittel (Eis, Knoblauch und Orangen – um nur einige zu nennen) und Tiere (zum Beispiel Eulen, Fische und immer wieder Katzen) als Motive in Coopers Gedichten auftauchen, greifen  gleich mehrere der Texte griechische Mythologien auf. Direkt wie indirekt illuminiert die Antike dabei auch die Landschaft und spezifischen Örtlichkeiten Irlands, die Cooper als Ankerpunkte immer wieder einstreut. Umgekehrt ist es das eigene, in einer konkreten Geografie verortete Erleben sowie der subjektive poetische Zugriff, die den Mythen zu neuem Glanz verhelfen.

Und schließlich enthält jedes individuelle Leben seine privaten Legenden, wie etwa die „winzige Person an Edith Piafs Grab“, die den Eltern des lyrischen Ichs in Erstaunliche Dinge geschehen begegnet und behauptet, die Schwester der berühmten Sängerin zu sein, oder der

junge[] Mann, der meiner Tante in Neary’s Bar
einen Riesenblumenstrauß schenkte,
einfach so.

In Astrid Köhlers Übersetzung finden die Lakonie Emily Coopers sowie ihre eigentümliche Verschränkung von trügender Schlichtheit und Zeitlosigkeit in eine überzeugende deutsche Form. Und es geht einem geradezu das Herz auf, den Namen der Übersetzerin nicht nur auf dem Titel, sondern gleich unter dem Namen der Autorin auf dem Cover gedruckt zu sehen. Ebenfalls erwähnt werden sollte Katarina Schröters sehr ansprechende graphische Gestaltung des Einbands, der an ein Bleiglasfenster erinnert, hinter dem ein ausdrucksstarkes Frauengesicht zu sehen ist.

Der den Inhalt und die Aufmachung des Bands betreffende Enthusiasmus wird allerdings durchaus gedämpft, wenn man die Gestaltung der Gedichttexte auf dem Papier betrachtet. Das Buchformat ist klein, die Zeilen entsprechend eng gesetzt. So bleibt den Texten, die förmlich nach langsamer und wiederholter Lektüre schreien, wenig Platz zum Atmen.

Ein vergleichender Blick in das englische Original (erschienen bei Makina Books), zeigt die Gedichte Emily Coopers in spannenderen Formaten. Besonders deutlich wird das bei Glas: Im Deutschen sind dessen Strophen in schlichten, aufeinander folgenden Blöcken angeordnet. Die englische Version dagegen druckt das Gedicht quer über mehrere Seiten und arrangiert – ein zentrales Motiv des Gedichts aufnehmend – die Abschnitte in der Graphik eines oben gewölbten Fensterrahmens.

Darüber hinaus wird beim Betrachten der englischen Fassung deutlich, dass neben der Anordnung der Strophen der großzügige Umgang mit dem weißen Raum bedeutungstragend ist – eine Dimension, die in der deutschen Version etwas untergeht: So erstreckt sich Die Griechischen Eulen im Original über vier Seiten, die deutsche Übersetzung lediglich über zwei. Besser abgebildet ist die Wichtigkeit der graphischen Gestaltung auch im Deutschen in Dinner mit Raymona, das sein Motiv der gehäuteten Aale und deren zerfetzter Haut spiegelt, indem die Zeilen über zwei Seiten hinweg ‚auseinandergerissen‘ werden.

Vielleicht in dem Bemühen, solche Verluste auszugleichen, weichen in der deutschen Fassung teils andere Gedichte als im Englischen von der üblichen Linksbündigkeit ab – so etwa das anfangs zitierte Erste Missgeschick des Sommers. Allerdings wirkt dies teils eher hilflos – beziehungsweise bei dem Gedicht Liebe verschlingt Alles, das aus nicht leicht ersichtlichem Grund gedrängt schräg auf eine Seite gedruckt ist, irritierend.

Diese gestalterischen Mängel, das sei am Ende hervorgehoben, sollten Leser:innen auf keinen Fall davon abhalten, diesen Band wenigstens einmal (und noch besser immer wieder) in die Hand zu nehmen. Denn das nachdenkliche Vergnügen, in der angenehmen Gesellschaft von Emily Coopers Verlangsamung des Herzschlags Zeit zu verbringen, sollte man sich wirklich nicht nehmen lassen.

Titelbild

Emily Cooper: Verlangsamung des Herzschlags. Gedichte.
Aus dem Englischen von Astrid Köhler.
INK Press, Zürich 2024.
48 Seiten , 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783906811192

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