Das Irrsal der Gegenwart

Der neue Gedichtband „Wildniß“ von Daniela Danz ruft zur Selbstreflexion auf

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aktueller könnte ein Gedichtband nicht sein. Daniela Danz hat in ihren neuen Gedichtband Wildniß einen Zyklus zur Corona-Pandemie aufgenommen. Ausgangssperre und von Särgen beladene nächtliche Konvois bilden darin die angsterfüllte Realität des impliziten Autors. Die Bilder, welche die Realität nahezu des gesamten Jahres 2020 prägen, vermengen sich mit dem Erfahrungshaushalt des tatsächlichen Lesers. Angst, Zweifel und Hoffnung im Kampf gegen die Pandemie wechseln einander ab und gipfeln im Apell: „halt aus“. Der implizite Autor umfängt den Leser und nimmt in Anspruch, für ihn zu sprechen, indem häufig das Reflexivpronomen „uns“ genutzt wird. „Wir“ werden aufgerufen, zu handeln. So kann sich der Leser auch einer zwischen Erkenntnis und Selbstvergewisserung verorteten Schuldzuweisung nicht entziehen: Da „wir die Wildnis verzehren“, konnte das Virus sich ausbreiten. Auf Märkten brüten „in Käfigen gestapelt die Seuchen“. Die Welt „davor“ erscheint so fern, in eine „künftige“ muss noch eine Brücke gebaut werden.

Die Suche nach dem, wie eine Zukunft aussehen kann und was unsere Handlungsspielräume angesichts der Ausbeutung und Zerstörung der Natur (der mit verborgenem nuklearem Material „unsichtbar verstrahlten Wildnis“) sind, durchzieht den gesamten Gedichtband. Kann sich Wildnis zurückerobern, was Menschen angerichtet haben? Und was bedeutet das für den Menschen? Was kann unsere Gesellschaft zusammenhalten? Im Gedicht Wildnis der Rede werden Wortfelder aktueller politischer Debatten analysiert; kursiv gesetzte Begriffe verweben sich miteinander, sodass neue Sinnzusammenhänge entstehen („[…] Flüchtlingsströme die Dämme brechen hereinfluten verheerende Überschwemmungen überrollen […]“) – ein düsteres Bild, das als „Irrsal der Rede“ bezeichnet wird. Der Zusammenhalt der Gesellschaft ist ebenso gefährdet wie die Natur. Auch hier steht ein Apell am Ende der Verse: „hört auf so zu reden“.

Daniela Danz thematisiert die deutsche Gegenwart, aber auch die ihr biografisch vertraute ostdeutsche Geschichte. Danz wurde in Eisenach geboren. Das lyrische Ich erinnert sich an Orte – vom Bergbau ausgebeutete Gebiete und Bauruinen etwa, an denen es gewesen zu sein glaubt – oder auch nicht. An Orten der Kindheit gab es Dinge, die eine Bedeutung hatten (Sorgen von gestern). Sie hatten eine Bedeutung, die sie längst verloren haben, weil sie vergessen geht, behauptet das lyrische Ich. Alles wandelt sich in der Rückschau. Der Wald ist zunächst Metapher für negative Erinnerungen und verlorenen Optimismus. Er wird als locus veritatis gesehen, befallen von Pilzen und erfüllt von Verrottendem. Hölderlins Begriff der „Wildniß“ – in der Schreibweise des 19. Jahrhunderts –, auf die sich der Titel bezieht, ist bedrohend. Objekt und Subjekt werden voneinander getrennt: „Bis einer näher hinsieht und das Leben erkennt / wildes wucherndes nachgeborenes Leben“.

Dem Irrsal der Gegenwart kann man sich nicht entziehen. Und die Traurigkeit von gestern ist mächtig. Das Alleinsein mit dem eignen Schatten ist schwierig. Es wird eine Beziehung zu einem in die Irre gegangenen Sein aufgebaut, das vergessen und etwas ändern will. Dessen kognitive Dissonanzen, die Prägnanz der Motivik und eine sprachliche Verzahnung der Gedichte tragen zur Ästhetik bei und führen zu Erkenntnisgewinn: Nicht als Resignation, sondern als Warnung vor der Überforderung des Menschen können die Verse von Danz („wir stören alles immerzu“) gewertet werden. Der Gedichtband beginnt schließlich mit einem als Kaskaden bezeichneten Zyklus. In ihm sieht der Leser Worte Treppen hinunterfallen. Ihr Rhythmus und Versmaß lassen die Sprache atmen. Der Leser sieht gar „die Zeit abstürzen – alles arbeitet gegen uns“. Der Verlauf der Zeit kann nicht geändert werden. Man muss aber aufpassen, dass man sein Leben nicht vor sich hertreibt und nur überlegt, wer aus der Schulklasse vor zwanzig Jahren „hat einen guten Posten / wer vergibt Kredite […] wer lebt nicht mehr“. Man kann innehalten. Zwischen „Zorn“ und „Vergessen“ gibt es eine „Kaskade des Glücks“, „weil es / heute / gibt / und jetzt“. Das Glück findet sich in der Konzentration auf die Gegenwart.

Das lyrische Ich bleibt am Heimatort („kein Anderswo mehr, das ist schön.“), lässt die Rastlosigkeit der Vergangenheit hinter sich. Der Gedichtband ruft zur Selbstreflexion auf. Im Corona-Zyklus taucht der Begriff „Wildnis der Pause“ auf. Corona oder Coronata bezeichnet in der Musik die Pause, Fermate. Diese Pause wird benötigt. Wir haben noch einen kleinen „Vorrat fast nicht benutzter Tage“. Wildniß ist ein poetischer Weckruf, ein bemerkenswertes Buch, das mehr als einmal zur Hand genommen werden kann und sollte.

Titelbild

Daniela Danz: Wildniß. Gedichte.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
86 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783835338333

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