Das Exilleben Stefan Zweigs in sechs Episoden
Maria Schraders „Vor der Morgenröte“
Von Janina John
Welche Funktion kommt der Literatur in politisch bewegten Zeiten zu und welche Verantwortung trägt somit ein Autor? Diese Fragen werden in den ersten Szenen in Vor der Morgenröte im Rahmen des P.E.N.-Kongresses, der 1936 in Buenos Aires stattfand, diskutiert. Die versammelten Künstler werden zur politischen Parteinahme gegen den Faschismus aufgerufen. Verpflichtend sollen Mitglieder zur Bekämpfung von Rassen-, Klassen- und Völkerhass mitwirken. Unter ihnen Stefan Zweig (Josef Harder), der zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren seiner Zeit zählt. Von ihm erwartet die Weltöffentlichkeit eine Stellungnahme zu den politischen Ereignissen in Deutschland.
Bekanntlich wurde Zweig selbst aufgrund seiner jüdischen Wurzeln Opfer des zunehmenden Antisemitismus, sodass er sich zunächst gezwungen sah, nach London und später nach Brasilien zu emigrieren. Als einen „Juden aus Zufall“ bezeichnet sich Zweig, da weder er noch seine Familie religiös waren. Dennoch war für den Österreicher ein Leben in seiner Heimat nicht länger möglich. Auch wenn er sich großer Berühmtheit erfreute, zählte er fortan zu den verbotenen Autoren, seine Werke wurden auf die Liste der Bücherverbrennung gesetzt.
In der ersten Episode des Films positioniert sich Zweig auf dem Kongress – zum Entsetzten seiner Kollegen und der Presse und entgegen ihrer Erwartungen – auch 1936 weiterhin neutral: Nach wie vor plädiert er für die kategorische Trennung von Kunst und Politik. Denn als Intellektueller habe man nicht die Aufgabe, Politik zum Gegenstand der Literatur zu machen. Obwohl sich Zweig selbst aufgrund seiner jüdischen Abstammung in seiner Heimat Österreich bedroht fühlte und zur Flucht entschloss, erwähnt und beurteilt er das aufsteigende Naziregime sowie die Vertreibung und Verfolgung der Juden mit keinem Wort. Schließlich sei jede Widerstandsgeste, die kein Risiko berge und keine Wirkung habe, nichts wert, so erklärt er einem Journalisten unter vier Augen seine Haltung.
Die Regisseurin Maria Schrader, die das Drehbuch gemeinsam mit Jan Schromburg verfasste, verzichtet bei ihrer Darstellung auf eine detaillierte Abbildung der Gesamtbiographie. Die elliptische Darstellung konzentriert sich ausschließlich auf die sechs letzten Lebensjahre Zweigs und greift dabei nur einzelne Stationen auf. Über sechs Episoden begleitet man ihn durch sein Leben im Exil: Hinweg über die Zuckerrohrplantagen Südamerikas bis zu Pflichtbesuchen bei Provinzeliten. Eine der letzten Stationen ist ein Aufenthalt bei seiner Exfrau (Barbara Sukowa) und den Kindern in New York. Begleitet wird Zweig dabei von seiner jüngeren Frau Lotte Zweig (Aenne Schwarz).
Von Brasilien aus beobachtet Zweig den Zusammenbruch Europas, sodass er sein freies und geordnetes Leben in Brasilien nicht genießen kann, während die westliche Zivilisation dem Untergang geweiht ist. Fortan versucht er, Frieden im Schreiben zu finden und wünscht sich Rückzugsmöglichkeiten aus der Öffentlichkeit. Mit der Veröffentlichung seiner Monografie Brasilien (1941) kann er erneut internationale Erfolge verbuchen und sich ein Dauervisum verschaffen. Für seine Hommage an Brasilien als ein Land der Zukunft wird Zweig von den Staatseliten gefeiert und zugleich von der Bevölkerung in Frage gestellt, zu unkritisch und einseitig beschreibe er vor allem die politische Situation des Landes. Ihm gelingt es zudem nicht, ein zurückgezogenes Leben zu führen, denn auf öffentlichen Veranstaltungen ist Zweig ein gern gesehener Gast. Aufgrund seiner Berühmtheit genießt er auch Privilegien, die in ihm Schuldgefühle aufkommen lassen.
Besonders durch den Besuch bei seiner Exfrau in New York wird Zweig mit den aktuellen Geschehnissen in Europa konfrontiert. Über sie erreichen ihn unzählige Bittbriefe von Freunden und fernen Bekannten, die dort zurückgeblieben sind. In diesem Setting erlebt man Zweig erstmals privat, fernab von Kongressen und öffentlichen Auftritten. Schnell realisiert er, dass er nicht alle retten kann, wenn nahezu ein ganzer Kontinent versucht, auf einen anderen zu fliehen. Das Leid der anderen setzt ihm sichtlich zu. Zwar ist es ihm gelungen, ein neues, wohlhabendes Leben zu beginnen, doch seine Heimat hat er verloren und schmerzlich muss er feststellen: Wer keine Heimat hat, hat auch keine Zukunft.
Bei der Darstellung der inneren Zerrissenheit Zweigs wird darauf verzichtet, seine Befindlichkeit nach außen zu tragen, doch lassen seine leeren Blicke in die Ferne einen tiefen Schmerz vermuten. Josef Hader gelingt es, in einer für ihn ungewohnt ernsten Rolle zu überzeugen und die Überforderung Stefan Zweigs eindrucksvoll darzustellen.
Die Stückelung, die durch das Stilmittel der Episodeneinteilung entsteht, ermöglicht zwar den Effekt der Zeitraffung, erschwert dem Zuschauer jedoch eine genauere Rekonstruktion seiner Biographie. Die vielen verschiedenen Stationen und Beziehungen werden nur oberflächlich angeschnitten, sodass es dem Zuschauer nicht immer gelingt, Zweigs Entscheidungen und seinen Gemütszustand nachzuvollziehen. Zweigs Seelenleben bleibt verborgen und ist nur zu erahnen. Ausschließlich sein gelegentliches Innehalten und seine leeren Blicke lassen vermuten, dass seine stoische Haltung nur eine Fassade ist. Allein durch das Stilmittel der Projektion erhält der Zuschauer eine Vorstellung von Zweigs Gefühlsleben. So spiegelt sich in der Autoscheibe, durch die Zweig auf dem Weg zum Flughafen unbewegt starrt, das Bild einer Brandrodung, sodass man ein brennendes, vom Krieg zerstörtes Europa assoziiert. Zudem lässt sich erahnen, dass Zweig allmählich realisiert, dass in Brasilien nicht alles so großartig ist, wie zunächst erhofft. Anfänglich geblendet von seinem Glück, eine sichere Zuflucht in Brasilien gefunden zu haben, scheint Zweig die dort herrschenden Probleme sowie die Tatsache, dass die Brasilianer ebenfalls in einer Diktatur leben, auszublenden.
Das naturalistische und ruhige Kamerabild von Wolfgang Thaler verstärkt das Gefühl des melancholischen Schweigens. Der Zuschauer bekommt die Möglichkeit, in die Szenen einzutauchen, ohne dass die Kamera aufdringlich wirkt. Mithilfe einer unmittelbaren, aber zugleich eleganten Bildsprache wird dem Zuschauer ein Stefan Zweig auf seiner Reise durch die dünnbesiedelten Landschaften Brasiliens präsentiert, der weniger an einen international renommierten Schriftsteller erinnert, als vielmehr wie ein erschöpfter und niedergeschlagener alter Mann erscheint. Von der Veranda aus blickt man über Zweigs Schulter auf die paradiesische Natur, doch seine Verzweiflung ist ganz deutlich zu spüren. Die feinnervigen Bilder deuten vieles nur an. So ist die Schlusszene, zugleich die letzte Episode des Films, mit nahezu unbewegter Kamera und ohne Schnitt gedreht und evoziert ein bedrückendes Gefühl von Ruhe und Stillstand. Durch eine geöffnete Spiegeltür bekommt der Zuschauer nur indirekt Einblick in das Zimmer, in welchem die Leichname der Eheleute Zweig nach deren Selbstmord liegen. Mit der Verlesung seines Abschiedsbriefes ist Zweigs große Leidenschaft, das Schreiben und Gelesenwerden, das Letzte, was von ihm bleibt. Durch Schraders Inszenierung begleitet der Zuschauer Zweig auf eine sehr diskrete Weise durch die letzten Stationen seines Lebens, wobei der schwindende Lebensmut melancholisch mitschwingt.
Die Thematik rund um politische Flucht sowie die Frage nach Verantwortung und Engagement in politisch bewegten Zeiten ermöglicht einen aktuellen Bezug aus historischer Perspektive. Stefan Zweig entscheidet sich für Enthaltung. Wenn er auch versucht, eine klare Linie zwischen seiner Rolle als bekannter Autor sowie seinen Werken und der politischen Realität zu ziehen, wird er in der Ferne von dieser eingeholt. Zweig erliegt letztendlich auf stille und bescheidene Weise seiner Ohnmacht, dem Gefühl, nichts verändern zu können, sodass er keinen anderen Ausweg sieht, als sich das Leben zu nehmen.
Vor der Morgenröte
Deutschland 2016
Regie: Maria Schrader
Darsteller: Josef Hader, Barbara Sukowa
Länge: 105 Minuten
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen