Banale Selbstbespiegelungen aus dem Nirgendwo

Marc Degens versucht sich in „Toronto“ an der Autofiktion eines Schriftstellerdaseins

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den Jahren zwischen 2014 und 2018 begleitete Marc Degens, Schriftsteller und Leiter des Sukultur-Verlages in Berlin, seine Frau Alexandra nach Kanada, wo sie das Auslandsbüro des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) leitete. „Ihre Tätigkeit war mit vielen Reisen durch Kanada verbunden“, schreibt Degens in der Einleitung zu seinem Aufzeichnungsbuch Toronto, „und so oft es ging, versuchte ich sie zu begleiten“. 

Im Zeitalter der katastrophalen Ökobilanz durchquert Degens per Flugzeug das Land – von Neufundland bis nach British Columbia. „In den vergangenen drei Tagen haben wir 3 von 10 kanadischen Provinzen besucht und sind dementsprechend erschöpft“, berichtet er in einer Notiz, ohne dass in diesem hastigen Durcheilen der weiten Territorien Zeit für eine kritische Reflexion blieb.

Die Aufzeichnungen vermitteln das Eintauchen in die popmoderne Kulissenwelt des schreibenden Berufsjugendlichen, die sich primär um Comics, Indie-Musik, Fast Food, Supermärkte, Zines und Clubs dreht. „Nette Läden und Buchhandlungen mit Jazzmusik“, beobachtet er an einer Stelle. „Ich fühle mich wie in einem amerikanischen Independent-Film.“ In einer narzisstischen Autofiktion verschwindet die gesellschaftliche Realität hinter einem popmodernen Schleier. Blaubeerkuchen zum Frühstück oder Gammeln in der Flughafen-Lounge mit kostenlosen Getränken und Snacks sind wichtiger als die soziale Realität jenseits der kulturellen Blase subventionierter Veranstaltungen im Umfeld des DAAD und Goethe-Instituts.

Lesungen, Signierstunden, Konzerte, Shopping-Touren spielen sich auf einer blasierten Oberfläche ab, wobei selbst Don DeLillo zu einem charmanten, schlagfertigen und bescheidenen Akteur der Spektakelgesellschaft verkommt, der auf sein „Meisterwerk“ White Noise reduziert wird. Degens‘ autofiktionale Repräsentation erinnert (wenn dies nicht zu sehr „highbrow“ wäre) an T. S. Eliots The Waste Land („öd und leer“) oder (in der populären Form) an Woody Allens Stadtneurotiker, in der ein Paar sein Glück damit begründet, dass es „sehr seicht und hohl“ sei.

Die „große Tour“ endet mit der Rückkehr in die rheinische Provinz und dem Ansehen der schmählichen Niederlage der deutschen Nationalmannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2018. Von den politischen Ereignissen der zurückliegenden vier Jahre – abgesehen vom Wahlsieg des popmodernen Sunnyboys Justin Trudeau – weiß Degens nichts zu berichten: Wen interessiert schon die Flüchtlingskrise, wenn man an einer Signierstunde von Joe Sacco teilnehmen kann?

Bereits zu Beginn des Jahrtausends diagnostizierte Lothar Baier einen „quietistischen Biedersinn“ in der gegenwärtigen Literatur und sprach von einer „Stoffwechselstörung“, bei der eine krude Mischung aus Professionalismus und Dilettantismus zu einem Verlust der kritischen Fakultäten führe. Einerseits „ist man“, beschrieb Baier diesen Typus des Gegenwartsschriftstellers, „über den Betrieb mit seinen Stipendien und Literaturpreisen genauestens informiert, kennt sich bei den überregionalen Feuilleton- und Literaturredaktionen und natürlich beim Fernsehen bestens aus, läßt nach Möglichkeit clevere Agenten die Verträge aushandeln, doch schreibend kommt man über den Amateurstatus nicht hinaus.“

Gegenwärtig hat der professionelle Dilettantismus des Schriftstellerunternehmers seinen Ort in den „sozialen Medien“, wie Degens mit seinen „Instagrammen“ unter dem Hashtag #kanadischeaufzeichnungen demonstriert. Darüber hinaus begleiten mediale PR-Agenten mit aufgebauschtem Getöse diesen banalen Bric-à-Brac in einschlägigen Journalen wie der FAZ, schwafeln von „Matadoren der Feder“ und feiern Degens im Burschenschaftsjargon als „Autor, Formate-Erfinder (meist im Bereich digitaler Autofiktion) und Verlagsgründer (des wackeren Sukultur-Verlags)“. So wird über die „nordamerikanische Mentalität“ und die „kanadische Freundlichkeit“ schwadroniert, während die koloniale Geschichte, die imperiale Ausbeutung der Ressourcen oder die Entrechtung der Ureinwohner (wie sie Naomi Klein jüngst in ihrem Buch On Fire beschrieb) mit keinem Wort erwähnt werden.

Im vor kurzer Zeit bei Gallimard neu aufgelegten Plaidoyer pour les intellectuels hatte Jean-Paul Sartre auf den von Roland Barthes definierten Unterschied zwischen écrivants (Schreibenden) und écrivains (Schriftstellern) rekurriert, wobei der Schreibende sich der Sprache bedient, um (ins Milieu der Gegenwart übertragen) die Konsumenten der „sozialen Medien“ mit Informationen und Sonstigem zu versorgen, während der Schriftsteller die Sprache als kritisches Kommunikationsmittel begreift und auf die „Mitteilung des Nicht-Mitteilbaren (des erlebten In-der-Welt-Seins)“ abzielt.

Das geht über die Degens-Depeschen „Bis halb 8 geschlafen. Duschen, rasieren und gemütliches Frühstück“ hinaus. Vor allem gehört dies nicht zu den „größten Vorzüge[n] am Schriftstellerdasein“, die Degens in seiner Einleitung beschwört. Vermutlich besteht der größte Vorzug für den Startup-Unternehmer in der verselbständigten „Logik des Warenumlaufs“ (wie der Kritiker Baier diesen Prozess nannte), deren Agenten selbst solche banalen Selbstbespiegelungen für zirkulationswert halten.

Titelbild

Marc Degens: Toronto. Aufzeichnungen aus Kanada.
Mairisch Verlag, Hamburg 2020.
144 Seiten , 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783938539590

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