Return of the Jedi?

Alles immer schneller im Kapitalismus bis zum Stillstand: Jonas Fricks Studie zum „Rasenden Stillstand in der Zwischenkriegszeit“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Literaturwissenschaftler Jonas Frick hat eine Studie zur „Dialektik der Beschleunigung und Beschleunigungswahrnehmung“ im frühen 20. Jahrhundert vorgelegt, die an einige neuere Tendenzen in der Forschung zum frühen 20. Jahrhundert anschließt (Zeitverständnisse), zugleich aber als Neuauflage ideologiekritischer Ansätze der 1970er Jahre auftritt. Das weckt Erwartungen, die allerdings nicht erfüllt werden.

Das Konzept der Arbeit ist auf den ersten Blick plausibel: Frick nimmt den Titel eines Essays Paul Virilios auf (Rasender Stillstand, deutsche Fassung 1992) und wendet ihn auf das frühe 20. Jahrhundert an. Dabei fokussiert er darauf, dass gesellschaftliche Beschleunigungen in der Moderne paradoxerweise zu Zuständen führen können, die als Stillstand wahrgenommen werden. Bei Virilio ist das auf die Entwicklung technischer Medien bezogen, die die Ubiquität von Wahrnehmung mit der Position des unbewegten Beobachters kurzschließt. Frick betont seinerseits einen anderen Aspekt der Modernekritik bei Virilio, der die Paradoxie der Dynamisierung gesellschaftlicher Entwicklung ins Visier nimmt. Knapp formuliert, geht es ihm darum, den widersprüchlichen Zusammenhang von Beschleunigung und Entschleunigung herauszuarbeiten und als Ausdruck der Unterwerfung der Gesellschaft unter den Kapitalismus vorzuführen (nur um das Wort „entlarven“ nicht zu verwenden).

Eingebettet sei das, so Frick, in die Chronopolitik des Kapitalismus, über die die Ausbeutung menschlicher Ressourcen fortgeschrieben und vervollständigt werden soll. Der Mensch soll als Produktions-Ressource und Konsument funktionalisiert werden. Abweichende Zeitregime (Chronodiversität) müssten deshalb „vernichtet“ werden. Sämtliche gesellschaftliche Prozesse würden einem, Virilios Begrifflichkeit folgend, „dromologischen“ Konzept unterworfen, in dem konkurrierende und beschleunigende Verfahren verbunden werden: „Geschwindigkeit“, zeitgemäß formuliert, „Tempo“, werde so zum zentralen Mythos der Zeit, der in der Wahrnehmung eine zentrale Stelle einnimmt, sei sie kritisch oder affirmativ. In diesem Beschleunigungsregime würden freilich zugleich „Prozesse der Erstarrung, Entschleunigung und Verlangsamung“ vorangetrieben, was wiederum die Literatur auf den Plan ruft, die solche Momente widersprüchlich, um nicht zu sagen dialektisch aufzunehmen versuche.

Im Zentrum von Fricks Studie stehen literarische Texte aus den Jahren 1912 bis 1931, die Bewegung thematisieren, mithin Rennbahnen, Rundkurse, Zirkus- und Trapezkünstler, Transportwege oder auch die spezifische Struktur der Angestelltenkultur, in der Beschleunigung und Wiederholung miteinander verbunden werden. Frick beginnt mit Reportagen zu den in den 1920ern sehr populären Sechstagerennen, geht dann zu Kafka-Texten über, die über das Zirkus-Motiv miteinander verbunden sind, schließt daran drei große Abhandlungen zu Bernhard Kellermanns Der Tunnel, zu Franz Kafkas Der Verschollene und schließlich Robert Müllers Tropen an (die als Amerika-Romane zusammengefasst werden). Den Abschluss bilden Abhandlungen zu zwei Angestelltenromanen der frühen 1930er Jahre, Gabriele Tergits Käsebier erobert den Kurfürstendamm und Martin Kessels Herrn Brechers Fiasko. Das ist im Ganzen eine aufschlussreiche und zwingend Interesse weckende Auswahl, zumal Frick die unterschiedlichen Dynamisierungskonzepte extensiv vorführt. Das Ziel, die literarisch verarbeitete Kulturkritik als Gesellschaftskritik vorzuführen, scheitert jedoch.

Die Kritik an der Formalisierung von Zeit durch feste Arbeitszeiten („leere Zeit“) wird als Kernelement von Entfremdung angeführt. In den Texten finden sich freilich auch andere Formen moderner Zeitzustände, die mit der gern „fordistisch“ genannten Dressur nichts zu tun haben. Kreisläufe, lineare Fortbewegungen, Pendel oder Leerlauf prägen das moderne Zeitempfinden – egal was, entfremdet ist das alles. Was eben auch heißt, dass Frick beim Attest vielfältiger Entfremdungssachverhalte stehen bleibt und sie gegen den zum – pardon – Popanz aufplusterten Kapitalismus wendet, der wahlweise als Struktur, als Zirkusdirektor, als Geldgeber oder wie auch immer auftritt, wie auch alle aufgenommenen zeitlichen Muster auf Entfremdung als Grundkonzept verweisen: Stetige Wiederkehr, Beschleunigung, Stillstand, der Anpassungswunsch der Zeitgenossen ans Tempo – sicherlich nichts weniger als Entfremdung.

Freilich ist eine solche Adaption von historischen Zeitmetaphern konsequent, als sich Frick bei der Entwicklung seiner Thesen der Verarbeitung von Beschleunigungsphänomenen in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts zwingend auf das Be- und Verarbeitungsniveau seiner Quellen beziehen muss. Die Idee einer nicht-entfremdeten Gesellschaft ist aber auf beiden Ebenen – den historischen Quellen wie dem heutigen Interpreten – bestenfalls als Prämisse präsent, mit der die Komplexität der modernen Massengesellschaft schlichtweg abgetan wird. Darüber wird man dennoch diskutieren können, allerdings zeigt sich Fricks Studie nicht in einem Zustand, der das anbieten würde.

Das beginnt bereits bei einer Petitesse: Frick will sich auf Texte der „Zwischenkriegszeit“, also der Jahre 1918 bis 1939 konzentrieren. Das Material, das er jedoch für die Untersuchung heranzieht, stammt aus den Jahren 1912 bis 1931. Ein solcher Anachronismus hätte sich durch eine kleine Titeländerung vermeiden lassen (etwa „frühes 20. Jahrhundert“).

Frick hingegen versucht sich an einer halbherzigen Legitimierung, etwa indem er seinen Texten attestiert, sie nähmen „Elemente der Zwischenkriegszeit“ vorweg. Später ergänzt er dies, indem er beispielsweise Kellermanns Roman Der Tunnel (1913) stilistisch der Neuen Sachlichkeit zuschlägt und daraus ableitet, man könne den Roman mit gutem Recht auch als Produkt der Zwischenkriegszeit lesen. Die Einordnung von Kafkas Romanfragment Der Verschollene (1911/1914) ist ihm hingegen nicht einmal eine Begründung wert.

Ähnlich großzügig ist Frick bei der Durchführung seiner Studie: Dem „Kapitalismus“ werden sämtliche als „entfremdet“ gekennzeichneten Phänomene zugeordnet, unabhängig davon, ob sie sich im Kreis drehen, vorwärts drängen, sich nicht weiterbewegen oder innehalten, was als spezifische Dialektik des Zeitregimes der Zwischenkriegszeit herhalten muss. Ob etwa hier konservative Zeitmodelle (vor allem Kreisläufe) mitzudenken sind, wird nicht einmal in Betracht gezogen.

Hinzu kommen die stilistischen Mängel. Ein Beispiel: „Die durch die Masse getätigte Nivellierung wirkt dadurch als fragwürdiger Ausdruck einer Menge an Individuen, die sich eigentlich diametral voneinander unterscheiden.“ Im Vorfeld ist davon die Rede, dass die Zuschauer in der Reportage Kischs zum Sechstagerennen (Elliptische Tretmühle, 1923 entstanden) einerseits als Masse agieren (was zu Hoffnungen Anlass geben mag), andererseits Masse nur anlassbezogen, nämlich als Zuschauer dieser Sportveranstaltung bilden, so dass sie kaum als revolutionäre Masse aktiv gemacht werden können. Was der Satz wohl meint, ist, dass eine Ansammlung von Leuten noch keine Revolution macht, wenn der Anlass der falsche ist, davon abgesehen, dass eine „Masse“ keine „Nivellierung“ „tätigen“ kann.

An anderer Stelle vergleicht Frick Kellermanns Tunnel, 1913 erschienen, mit dem ein Jahr später beginnenden Krieg, wofür es „auf mehreren Ebenen Indizien“ gebe, insbesondere den „groben Handlungsablauf“: „Auf das enthusiastische Projekt folgen Leichen und eine niedergeschmetterte Revolution, bis sich die von Krisen durchdrungene Normalität erneut einzustellen vermag“. So lässt sich ein Romanplot zur Folie eines Kriegsverlaufs aufwerten.

Im Abschnitt zu Robert Müllers Tropen findet sich – um damit zu schließen – der folgende Satz: „Solche Umkehrungen sind historisch im Kontext einer ‚Krisenzeit‘ zu verorten, ‚die wesentlich ein Beschleunigungsschock ist‘.“ Nun ist eine „Zeit“ kein „Schock“, sondern bestenfalls von Schockphänomenen geprägt. Was in der zitierten Quelle korrekt formuliert ist: „Auf den Modernisierungsschock, der wesentlich ein Beschleunigungsschock ist, reagieren Literatur und Kunst sehr unterschiedlich.“ Was etwas anderes heißt. Zudem wird erkennbar, dass Frick auch noch das Relativpronomen seines Zitats angepasst hat.

Problematisch an solchen Passagen ist, dass zwar irgendwie erkennbar wird, was Frick meint, aber die Formulierungen unsauber sind, ja nicht einmal korrekt wiedergeben wird, was als Beleg herangezogen wird – was das Vertrauen in die Verarbeitung der Forschung bei Frick ein wenig erschüttert.

PS: Bei dieser Gelegenheit sei auf den Bedeutungsunterschied zwischen „scheinbar“ und „anscheinend“ hingewiesen, der anscheinend (und eben nicht „scheinbar“) nicht einmal unter Literaturwissenschaftlern allgemein verbreitet ist.

Titelbild

Jonas Frick: Rasender Stillstand in der Zwischenkriegszeit. Zur Dialektik der Beschleunigung und Beschleunigungswahrnehmung.
Wallstein Verlag, Göttingen 2023.
631 Seiten , 49,00 EUR.
ISBN-13: 9783835353831

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