Die schöne Revolution
Larissa Reissners Reportagen in einer neuen Auswahl – wie immer lesenswert
Von Walter Delabar
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLarissa Reissner (1895–1926) gehört zu den erstaunlichsten Persönlichkeiten im Umfeld der Russischen Revolution. Ihre Interventionen in kritischen Situationen des Bürgerkriegs im Anschluss an die Revolution haben ihr nachhaltigen Ruhm eingetragen. Im Gedächtnis geblieben ist sie aber vor allem für ihre Reportagen aus dem Bürgerkrieg, aus Afghanistan, und eben auch aus der Weimarer Republik. Namentlich die Reportage zu ihrer Deutschlandreise Im Land Hindenburgs, 1926) und ihre Aufarbeitung des Hamburger Aufstand Ende 1923 (Hamburg auf den Barrikaden, 1925) gehören bis heute zu den aufregendsten Lektüren zur jungen deutschen Republik. Ihre Afghanistan-Reportagen haben heute neue Aktualität erhalten, während man zu ihren Revolutionstexten durchaus auf Distanz bleiben kann, zu sehr Revolutionsprosa, zu sehr auf das Lob der Partei hin geschrieben.
Steffen Kopetzky hat im Herbst 2023 einen begeisterten Roman über das kurze und ereignisreiche Leben Reissners vorgelegt (Damenopfer, Rowohlt, Berlin 2023), in der er sie als trotzkistischen Aktivistin porträtiert, was nicht ganz fern liegt. Nun hat er eine Neuauswahl der Schriften Reissners vorgelegt, die vor allem ihre Texte über den Bürgerkrieg und einer über die geopolitische Bedeutung Afghanistans (der aus postkolonialer Sicht sehr aufschlussreich ist). Anschließend folgen die Deutschlandreportagen von 1923 und 1924, die den Schwerpunkt des Bandes bilden, darunter Auskoppelungen aus der unmittelbar nach dem Erscheinen verbotenen Schrift zum Hamburger Aufstand.
Die Verschiebungen zur noch von Karl Radek posthum in Deutschland herausgegebenen Sammlung ihre Schriften, die den klingenden Titel Oktober (1926) trug, könnten deutlicher nicht ausfallen. Die Zahl der Berichte aus dem Russischen Bürgerkrieg die Mitte der 1920er Jahre noch großes Interesse auf sich zogen, ist deutlich reduziert, ebenso die zu Afghanistan. Ganz weggefallen sind die Texte zur Situation in der jungen Sowjetunion oder zum Offiziersaufstand 1825, der immerhin zur Vorgeschichte der Revolution von 1917 zählt. Die Berücksichtigung der Texte über den Hamburger Aufstand verbot sich seinerzeit. Rücksichten, die Kopetzky nicht zu nehmen brauchte. Von den Deutschland-Reportagen finden sich immerhin die zum Medienunternehmen Ullstein, zu Junkers als Schlüsselindustrie, zur prekären Situation weiter Teile der deutschen Bevölkerung und zu Krupp als industriellem Schwergestein.
Allesamt lesenswerte und beachtliche Texte, die ein anderes Licht auf das Deutschland der frühen 1920er Jahre ermöglichen. Die Macht der Unternehmen, die enormen Leistungen der Industrien stehen nahezu untermittelt neben den übelsten Formen von Unterdrückung und größter Not. Themen, die einer sozialistischen, hier sogar vielleicht wirklich trotzkistischen Autorin nahe lagen. Und die, auch wenn man der politischen Einschätzung Reissner nicht folgen mag, zweifelsohne die Weimarer Republik prägten. Die widersprüchliche Haltung Reissners, die Faszination der Leistungsfähigkeit dieser deutschen Vorzeigeunternehmen bei grundsätzlicher Kritik an ihrer Eigentumsstruktur ist kaum zu übersehen.
Auffallend ist, dass Kopetzky seiner Auswahl einen ganz anderen Schwerpunkt verpasste als noch Gisela Notz, die 2017 bei Promedia in Wien gleichfalls eine Textauswahl Reissners herausbrachte. Notz konzentrierte sich vollständig auf die russischen Themen und ließ die Texte zu Deutschland außen vor. Der Titel des Bandes „Oktober“ – mal wieder, in diesem Fall freilich nicht unangemessen.
Leser dürfen also nicht den Fehler begehen zu glauben, hinter den Reissner-Sammlungen die immergleiche Textauswahl zu vermuten. Selbst die Ausgabe 1929 unterschied sich bereits in der Auswahl der Texte bedeutend von der Vorgängerausgabe von 1926. Und so ging es immer weiter. Selbst wenn „Oktober“ drüber steht, ist lang nicht nimmer dasselbe drin. Aber was die Texte und die Textauswahl angeht, ist in Sachen Reissner sowieso alles möglich.
Das geht auf eine Unsicherheit zurück, die mit der Textgeschichte der Reissner-Ausgaben zusammenhängt. Ob Reissner ihre Texte auf deutsch oder russisch verfasst hat, ist offen. Die DDR-Ausgabe ihrer Reportagen gibt immerhin an, die Texte mit der russischen Ausgabe abgeglichen zu haben, was auf eine russische Vorlage hinweist. Lediglich für die frühen Bürgerkriegstexte ist ein Übersetzer bekannt. Helga Schwarz meinte, dass die Deutschlandreportagen auf deutsch verfasst worden sind, worauf einige sprachlichen Besonderheiten deuten. Eine Vorlage gibt es aber anscheinend nicht. Das führt dazu, dass die Texte Reissners in ihrer Gestalt nie wirklich fixierbar sind, verschiedene Varianten kursieren. Diese wiederum weisen einige Besonderheiten auf, die ihrerseits die Vermutung zulassen, dass die Herausgeber nicht nur korrigierend, sondern auch gestaltend eingegriffen haben, um eine – wie auch immer einzuschätzende – politische Agenda zu bedienen. Allein die Textvarianten zwischen den Ausgaben der 1920er und denen um 1960 wären Grund genug dafür.
Um so wichtiger wäre es, die jeweilige Textgrundlage anzugeben, was aber weder die Promedia-Ausgabe noch die bei Rowohlt tut. Mit anderen Worten, was die Reissner-Texte angeht, wird einem vorenthalten, um welche Fassung es sich jeweils handelt. Zur Not muss man sich darauf verlassen, dass Reissners Texte entschlossen genug geschrieben wurden, dass sich die Eingriffe von Herausgebern kaum entscheidend auswirken.
Bleibt noch das ausführliche Vorwort Steffen Kopetzkys, der sich hier nicht nur darum bemüht, das ereignisreiche Leben Reissners vorzustellen, sondern sie – analog zum Roman – als trotzkistische Akteurin zu profilieren sucht. Das mag eine gewisse Aktualität besitzen, da die Kritik an einem verkrusteten politischen System und der Macht internationaler ökonomischer Konzerne derzeit wieder stärker wird, allerdings eben nicht nur aus sozialistischer Perspektive, sondern eben auch nationalistisch verbrämt, gelegentlich mit antisemitischen Ausstattungen. Die neue Rechte bedient sich offensichtlich seit einiger Zeit wieder beim Instrumentarium linker Politik, was zu merkwürdigen Allianzen zumindest in der öffentlichen Rede führt. Bevors ans übellaunige Abwatschen geht, ist mithin ein wenig Zögern ganz hilfreich.
Daneben ist die Gemengelage, in die sich die kapitalismuskritische Globalisierungskritik begibt, ohne weiteres nicht zu klären. Den kleinen Fischer mit Industriekonglomeraten zu konfrontieren, ist schon – literarisch – bei Anna Seghers nach hinten losgegangen. Auch wäre es sinnvoll, wenn denn die Faszination der permanenten Revolution wenigstens ansatzweise reflektiert würde, auch auf die Auswirkungen auf Gesellschaften hin. Denn keine Kampagne, ließe sich aus den italienischen Kriegen der Renaissance lernen, lässt sich auf Dauer stellen, ohne dass es immense Opfer gibt. Und das Reich der Freiheit hat auch recht selten an dessen Ende gestanden.
Der Ruf nach der permanenten Revolution mag mithin leicht von der Zunge gehen, verpufft freilich, wenn er sich von einer fundierten Kritik der Kapitalismus löst und auf alles einschlägt, was Macht und Geld vorzeigt. Linke Ideologie und Politik scheint dann mit einem Mal wahlweise in schlichtem Sozialneid oder sich in die Vision einer einfachen dörflichen Gemeinschaft umzuschlagen, in der dann alle halbwegs gleich und alles besser zu regeln ist. Und ansonsten, alle Reichen sind böse? Möglicherweise, aber die Klassifikation der Systemgewinnler in Russland und Iran als „Extraktionskapitalisten“? Macht und Reichtum sind nicht zwingend an den Kapitalismus gebunden, und Systeme, in denen Eliten welcher Couleur auch immer erfolgreich die eigene Bevölkerung ausrauben, lassen sich nicht nolens volens als kapitalistisch auszeichnen. Gepaart mit einem nachgeholten lokalen Sozialismus à la Gustav Landauer, was als Anti-Globalisierung daherkommt, bleibt am Ende kaum mehr etwas von einer politischen Theorie und Praxis übrig, die sich die Befreiung des Proletariats zur Aufgabe gemacht hatte. Mit anderen Worten, so sehr Kopetzkys Roman fasziniert und so sehr man seine Textauswahl Reissners begrüßen mag, im Vorwort hätte er sich eher auf seine Autorin und ihre Texte verlassen sollen, als sie in der Gegenwart eines neuen Klassenkampfs zu verorten.
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