Kaliforniens falsche Versprechen

Joan Didion dekonstruiert in ihrem Essayband „Woher ich kam“ den Mythos ihres Heimatstaates

Von Felix HaasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Haas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die unbegrenzten Möglichkeiten des amerikanischen Traums sind genauso Bestandteil des Gründungsmythos der Vereinigten Staaten wie der ewige Drang nach Westen. Kaum ein anderer Ort verkörpert diese Versprechen so wie Kalifornien, das westliche Ende des amerikanischen Festlandes, Heimat von Hollywood und Silicon Valley. Und kaum ein anderer Essayist ist so mit der Kritik der Kalifornischen Kultur verbunden wie die gebürtige Kalifornierin und heute 84-jährige Grande Dame des New Journalism, Joan Didion.

Ihr nun erstmals bei Ullstein in deutscher Übersetzung erhältlicher Essayband Woher ich kam hat seit dem Erscheinen des englischen Originals 2003 nichts an Aktualität verloren. Didion verwebt darin die Entstehungsgeschichte Kaliforniens eng mit der ihrer eigenen Familie und entzaubert dabei beide. „Meine Urururururgrossmutter Elizabeth Scott wurde 1766 geboren“ beginnt ihr erster Satz, und ihr letztes Kapitel schließt, wie sie und ihre Tochter 2001 in Monterrey, nach dem Tod von Didions Mutter, durch deren Nachlass gehen. Doch egal ob sie ihre Familie oder Teile kalifornischer Gesellschaft allgemein schildert, Didion bleibt durchweg konsequent persönlich.

Woher ich kam erhebt weder Anspruch auf Objektivität noch den irgendeiner Form von Vollständigkeit. So geht Didion zwar ausführlich auf ihren ersten Roman Menschen am Fluss ein, gar nicht jedoch auf ihren ersten Essayband Slouching Towards Bethlehem, obwohl sich beide ausführlich mit Aspekten kalifornischer Kultur befassen. Sie greift verschiedenste Teile kalifornischer Geschichte auf, ohne jedoch den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg zu erwähnen, welcher Kalifornien erst 1850 zum 31. Staat der USA machte.

Genau so wenig wie Vollständigkeit oder Wissenschaftlichkeit sucht die Autorin ihre Thesen und Argumente in geschlossener Form vorzubringen. Oft deutet sie nur an, schildert Thesen implizit durch Anekdoten ihrer Mutter oder kurzen Episoden aus den frühen Jahren ihres Staates. Ihr Hauptfokus ist dabei keine Ausnahme. Wir merken erst mit der Zeit, was neben der Aufarbeitung ihrer eigenen Kindheit und Familiengeschichte ihr zentrales Anliegen ist: Über die „Wirrnisse und Widersprüche im Leben Kaliforniens“ nachzudenken und zu hinterfragen, in wie weit wir den Versprechen ihres Geburtsortes glauben dürfen. Bemerkenswert ist an Didions Vorgehen, dass sie sich, ihre Familie und ihr Werk keineswegs von der Kritik ausnimmt. Auch sie habe viele Facetten des Mythos Kalifornien lange nicht angezweifelt.

Aber um was geht es Didion genau? Es geht ihr um den Mythos des offenen, gerechten, des freien Kaliforniens und seiner Unabhängigkeit vom Rest der Vereinigten Staaten, um den Mythos des reichen, des klassenlosen Kaliforniens, des sich ständig verändernden Kaliforniens. Didion führt uns durch die Tristesse ehemalig blühender Industriestädte, die nach dem Zweiten Weltkrieg um einzelne Großfabriken entstanden waren und heute wenig von dem damaligen Versprechen nach Prosperität und Idylle halten können. High School Sport, die Fabrik und Jugendkriminalität dominieren die Kultur dieser Fabrikstädte Kaliforniens, die einst „Brutkästen für den Aufschwung“ waren. In einer vermeintlich gerechten, sich als klassenlos verstehenden Gesellschaft sind Zeltstädte Obdachloser vor dem Hintergrund der Hollywood Hills und seiner Villen genauso schwer zu verstehen wie die Tatsache, dass das kalifornische Strafvollzugsystem heute „zum größten der gesamten westlichen Hemisphäre“ geworden ist.

Doch ist Didions Entzauberung Kaliforniens mehr als nur das. Sie ist auch eine Demaskierung des amerikanischen Traums und des Versprechens nach dem „Pursuit of Happiness“ (Streben nach Glück) allgemein. In den Ausführungen über den „Golden State“ erkennen wir Parallelen zur heutigen Spaltung der amerikanischen Gesellschaft, in der Enttäuschung und Marginalisierung von vielen Kaliforniern die Frustration jener Menschen, welche Donald Trump 2016 zum 45. Präsidenten der Vereinigen Staaten machte.

In wahrer Didion-Manier hält die Tragik des Vergleichs zwischen ihren Schilderungen in Woher ich kam und unserer Gegenwart nicht vor ihrem eigenen Leben inne. Das Sterben ihrer Familie sollte mit dem Tod der Mutter im letzten Teil des Essaybands nicht aufhören. Noch 2003, dem selben Jahr in dem der Band im Original publiziert wurde, starb ihr Ehemann John Gregory Dunne an einem Herzinfarkt, zwei Jahre später ihre Tochter Quintana als Folge einer Lungenentzündung.

Woher ich kam hat nicht die gleiche emotionale Tiefe wie Das Jahr magischen Denkens, in dem sie 2005 den Tod ihres Mannes aufarbeitete, oder Blaue Stunden, welches 2011 das gleiche für den Tod ihrer Tochter tat. Und sicher gibt es vollständigere und strukturiertere Zugänge zur Geschichte Kaliforniens, doch ist es durchaus bemerkenswert, wie Didion in ihren Essays Gesellschafts- mit Selbstkritik und die Geschichte ihres Staates mit der ihrer eigenen Familie durchzieht. Stilsicher und nichtlinear entkleidet sie den Mythos Kalifornien, an dem sie selber lange festgehalten hat, und entlarvt den Amerikanischen Traum, der heute für immer mehr Amerikaner unerreichbar bleibt.

Titelbild

Joan Didion: Woher ich kam.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel.
Ullstein Verlag, Berlin 2019.
270 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783550050213

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