Die Kraft der Bilder

Der Anthropologe Philippe Descola zeichnet in seinem Opus magnum „Die Formen des Sichtbaren“ ein fulminantes Tableau der Figurationen

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zugegeben, eine leichte Kost ist es nicht, Descolas umfangreiches (783 Seiten) und schwergewichtiges (1,16 kg) Buch. Nichts, das sich einfach so lesen und dann beiseite legen ließe. Nichts, das diejenigen nicht veränderte, die sich ihm widmen. Denn widmen muss man sich ihm, diesem Buch. Es lässt sich nicht konsumieren wie Junkfood, sondern will gut gekaut werden. Ein paar Federn lässt man bei der Lektüre – die Federn einer behausten Weltsicht, die Nabelschau betreibt und die eigene (eurozentrische) Anschauung so kategorisch wie selbstgefällig über die Existenz anderer existierender Welt-Sichten stellt. Doch: Beginnen wir am Anfang.

Philippe Descola gilt als der bedeutendste französische Anthropologe der Gegenwart. Er ist emeritierter Professor für Anthropologie am Collège de France und entwickelte in seinem vielfach ausgezeichneten Werk – so gewann Die Formen des Sichtbaren 2021 den „Prix Fondation Martine Aublet“ – eine vergleichende Anthropologie, die sowohl die Humanwissenschaften als auch die Reflexion über die ökologischen Herausforderungen unserer Zeit revolutioniert hat.

In einem Interview, das die Soziologin Tanja Bogusz im April 2013 anlässlich des Erscheinens seines Buchs Jenseits von Natur und Kultur mit Descola in dessen Büro im Collège de France führte, bemerkte dieser, dass es für einen deutschen Leserkreis wichtig sei, den spezifischen Charakter der französischen Anthropologie, die eng an den philosophischen Debatten orientiert sei, zu betonen. Seit Durkheim und bis in die Gegenwart hinein durchliefen die französischen Soziologen und Anthropologen häufig eine philosophische Ausbildung: „Also betreiben sie Soziologie und Anthropologie, indem sie philosophische Fragen an ihr empirisches Material herantragen“. Seiner Beobachtung nach resultiere hieraus ein signifikanter Unterschied im Vergleich zu Deutschland, wo es zwar eine philosophische Anthropologie gebe, die eher theoretisch ausgerichtet sei, und eine ethnologische Sozialanthropologie, die empirisch verfahre, ihrerseits aber „ganz losgelöst von den großen konzeptuellen Fragen“ vorgehe, mit denen die französische Anthropologie ringe. Genau diese Verbindung von Philosophie und Feldforschung aber sei wichtig, wenn man die französische Anthropologie verstehen wolle, und sie kennzeichne auch seine Arbeit, „denn auch ich bin von Haus aus Philosoph und habe mich sehr früh auf Fragen konzentriert, die sowohl die politische Philosophie als auch das philosophische Verständnis von Natur betrafen“.

Ihn habe die Frage interessiert, welche Rolle die Natur im politischen Denken Europas und dann später im Kontext der materialistischen und idealistischen Philosophien des neunzehnten Jahrhunderts eigentlich gespielt habe. Die mit dieser Frage in Zusammenhang stehenden Problemstellungen hätten ihn intellektuell geprägt. Hinzu seien sein lebhaftes Interesse an und eine große Neugier für Zivilisationen gekommen, „die sich von der unsrigen unterscheiden“: „Beides hat mich dazu gebracht, der traditionellen Philosophie den Rücken zuzukehren und anstelle dessen zu versuchen, mir philosophische Fragen in spezifisch ethnographischen Kontexten zu stellen.“ Statt weiter Gedankenexperimente anzustellen oder Philosophiegeschichte zu betreiben, sei es vielmehr sein Impuls und Bestreben gewesen zu schauen, „wie Gesellschaften Lebenserfahrungen machen, die als solche ja schon ein faszinierender Gegenstand des Nachdenkens sind“.

Die Formen des Sichtbaren, Descolas großer (Ent-)Wurf einer „Anthropologie der Bilder“, ist vor genau diesem Hintergrund zu verstehen. In seinem Vorwort beschreibt Descola, wie dieses Buch den Abschluss einer Reihe von Experimenten bilde, deren Verknüpfung den Umständen geschuldet sei: „Zunächst einmal den Lebensumständen, die mich Mitte der 1970er Jahre zu den Achuar am oberen Amazonas führten, um die Beziehungen zu untersuchen, die sie zu ihrer Umwelt unterhielten“ – wobei er zu dem Schluss kam, dass keine der Beschreibungskategorien, die er in seinem „Ethnologenköcher“ mitgebracht hatte, sich als adäquat für das erwies, was seine Gastgeber taten und sagten. „Ich habe bei ihnen vergeblich nach etwas gesucht, das an Natur oder Kultur erinnern würde“, schreibt Descola, „an Geschichte oder Religion, an ein sauber von den magischen Praktiken trennbares ökologisches Wissen oder an eine systematische, allein technischer Effizienz gehorchende Ressourcennutzung“. Schon der Gesellschaftsbegriff habe eine ziemlich schlechte Beschreibung der „Ansammlung von Menschen, Tieren, Pflanzen und Geister“ geliefert, deren alltäglicher Umgang miteinander sich über artspezifische Schranken zwischen den Wesen und ihre unterschiedlichen Fähigkeiten hinweggesetzt habe. Alle analytischen Ebenen, die zu unterscheiden er gelernt hatte, hätten sich hier vermischt.

Die Achuar machten ihm bewusst, dass die geistigen Werkzeuge der Sozialwissenschaften einen ganz bestimmten, auf die Aufklärungsphilosophie zurückgehenden Typus von kosmologischer und epistemologischer Konfiguration fortschrieben, die dem, was er im Rahmen der Feldforschung beobachtete, und dem, was andere Ethnographen über andere Weltregionen berichteten, genauso wenig entsprach wie dem, was Historiker im Hinblick auf andere Zeiträume der Menschheitsgeschichte beschrieben. In der Absicht, auf etwas aufmerksam zu machen, das man als „Formen der Welterschaffung“ bezeichnen könne, habe er deshalb eine vergleichende Untersuchung der verschiedenen Weisen in Angriff genommen, „wie sich Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Menschen und Nichtmenschen ausfindig machen und verstetigen lassen, für die ethnographische und historische Zeugnisse Anhaltspunkte bieten“.

Entgegen der klassischen anthropologischen und historischen Vorstellung, dass es lediglich eine einzige Welt in Gestalt einer sich selbst genügenden Totalität gebe, war es seiner Meinung nach sachdienlicher, jene verschiedenartigen Bräuche als Verfahren zu betrachten, „wie die Welt jeweils zusammengesetzt ist“.

Descola entwickelt, wie Peter Geimer es in seiner Besprechung Vertraute Kunst in fremdem Licht (FAZ, aktualisiert am 05.04.2022) formuliert, eine „Ontologie im globalen Maßstab“, wobei er verschiedene „ontologische Filter“ beziehungsweise „vier gegensätzlichen Weisen, in den Falten der Welt Kontinuitäten und Diskontinuitäten aufzuspüren“ beschreibt. Diese Filter respektive „Identifikationsmodi“ – worunter während der Sozialisierung in ein bestimmtes soziales und natürliches Milieu inkorporierte kognitive und sensomotorische Schemata zu verstehen seien, die als Rahmenbedingungen unserer Praktiken, Anschauungen und Wahrnehmungen fungierten, ohne propositionales Wissen in Anspruch zu nehmen – seien entscheidend dafür, ob die Welt, in der man sich bewege, der Ordnung des Animismus, des Totemismus, des Analogismus oder des Naturalismus entspreche. Lediglich die Denktradition des Naturalismus, die Descola der westlichen Welt seit dem Mittelalter zuordnet, unterscheide kategorisch zwischen einem geistbegabten Wesen namens „Mensch“ auf der einen und „nichtmenschlichen Wesen“ auf der anderen Seite. Die Welt des Totemismus beispielsweise sehe eine solche Trennung nicht vor: Hier gehörten Menschen, Tiere und Pflanzen einem gemeinsamen „Prototyp“ an (etwa der Klasse des Adlers), da sie bestimmte Eigenschaften teilten.

Wenn die Identifikationsmodi, deren Existenz er behaupte, wirklich die strukturierende Rolle spielten, die er ihnen zuschreibe, wenn sie die Quelle der ursprünglichen, von menschlichen Kollektiven geteilten „Welterschaffungsformen“ seien, dann, so Descola weiter, müssten sie sich auch auf den Bildern entdecken lassen, die diese Kollektive hervorgebracht hätten: Denn man bilde nur das ab, was man wahrnehme oder sich vorstelle, und man stelle sich nur das vor oder nehme nur das wahr, was „im Rahmen unserer Traumbilder aufzunehmen und in der Flut der sinnlichen Eindrücke zu erkennen die Gewohnheit uns gelehrt hat“.

Descola betont, in seinem „Versuch über die Figuration“ Bilder nicht wie „Symbolpäckchen“ behandeln zu wollen, die einen „Sinn“ in sich trügen, der sich mit dem vergleichen ließe, den Sprache übermittele. Er wolle sie auch nicht „als Widerspiegelungen historischer Umstände oder kultureller Eigentümlichkeiten“ behandeln, sondern als figurative und „zugleich zum Handeln bereite ikonische Akteure“ (Hervorhebung im Original, K. H.), als „Indikatoren der unsichtbaren Schicht, die sie aktualisieren“, und gleichzeitig „als mit der kausalen Autonomie all jener Menschen und Nichtmenschen ausgestattet, die zu ihrer Erschaffung beigetragen haben“. Bilder verfügen Descola zufolge über eine spezifische Existenzweise, sind Akteure, die sich in spezifischen Formen aktualisieren, und sie verfügen über eine je eigene Lebendigkeit.

Bilder als „Formen des Sichtbaren“ und „figurative Systeme“ genügten einer „Syntax von anderer Art“ als der Syntax, in der sich die „Formen des Sagbaren“ artikulierten. Sie gewährten Einblicke in die Ausstattung einer Welt und die Beziehungen zwischen den Objekten, aus denen sie bestehe. Solcherart sind Bilder sowohl „Handlungsmächte“ als auch „Inkarnationen“. Der Drang, Bilder zu (er-)schaffen, wohnt dem Menschen inne wie die Eigenschaft, in Bildern zu denken. Der Mensch ist ein Bilder erschaffendes, in Bildern lebendes Wesen.

Im Kapitel „Die Belebtheit von Bildern“ erinnert Descola an den Berliner Biologen und Physiologen Max Verworn, einen Zeitgenossen Aby Warburgs, der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch den kognitiven Mechanismen der Bildproduktion in der „primitiven“ Kunst mit großer Leidenschaft nachgegangen sei. Verworn habe Kunst im allgemeinsten und ursprünglichsten Sinne als ein „Können“ gesehen, als eine Fähigkeit (hier zitiert Descola Verworn), „Bewußtseinsvorgänge mit selbstgeschaffenen Mitteln zum sinnlich-wahrnehmbaren Ausdruck zu bringen“. Verworn zufolge besäßen die visuellen Künste die Fähigkeit, mentale Zustände und Aktivitäten auf einem Bild dergestalt sinnlich erfahrbar zu machen, dass es über „intentionale Autonomie“ zu verfügen scheine, die wie ein Handlungsvermögen wahrgenommen werde. Figurationen wohnt mithin eine spezifische Form von Energie inne, ihnen eignen kommunikative und vitale Momente.

Descolas Anthropologie der Bilder, die er in Erinnerung an seine Eltern und Großeltern schreibt, „von denen ich gelernt habe, Fragen an Bilder zu stellen“, ist ein so exzeptionelles wie imposantes, fast schon einschüchterndes Werk über die Geschichte und Formen der Welt-Kunst respektive Figurationssysteme. Verhandelt werden nicht weniger als anthropologische, ontologische, ästhetische, historisch-ethnologische und bildtheoretische Fragen auf einem begrifflich hoch aufgerüsteten, gedanklich höchst komplexen Niveau. Die Formen des Sichtbaren schürft so tief, bis die Wurzeln freigelegt sind.

Das Buch ist anspruchsvoll nicht allein aufgrund der verwendeten Terminologien oder des Umfang des in ihm versammelten Wissens, dem ein immenser Schatz an Erfahrenem und Erlebtem zugrunde liegt, sondern auch in dem Sinne, dass es in seiner uns begegnenden Gestalt selbst ein künstlerisches Gebilde und Substrat, eine Figuration, darstellt, Begriff, Bild und Leben in sich zusammenführt, Diskursives und Erfahrenes in Metaphern bindet. Solcherart ist das Buch lesbar als Meta-Erzählung, ein Erzählen in Bildern und Begriffen, ein Erzählen über das Erzählen in Bildern. Descola schreibt über „die Falten der Welt“, „Präsenzen“ und „Unterfütterungen durch das Unsichtbare“, über „Geometrien der Figuration“, „Ordnungsstiftungen“ und „ontologische Tarnungen“. Es ist (bei allen Schwierigkeiten) eine Lust, in diesen aus Zeichen geformten, unendlich erscheinenden, unendlich verdichteten Kosmos einzutauchen.

Die Hervorbringung von Kunst – im Sinne der Erschaffung indexikalischer Zeichen und figurativer Systeme – ist, historisch wie kulturell, über Zeitalter und Weltregionen hinweg, ein tief im Menschen wurzelndes Bedürfnis, eine anthropologische Konstante von roher, unverbaubarer, unverfälschter Kraft. Die Auseinandersetzung mit einer Anthropologie der Bilder – gelesen als Anthropologie der Einbildungskraft und der Figurationen als Handlungsmächte – ist zugleich eine Auseinandersetzung mit den Ursprüngen der Menschheit und unseres Menschseins, mit Korrespondenzen und Verweisen, Wiederholungen und Verbindungen, Analogien und Simulakren. Descolas Buch lässt uns entdecken, was sein Autor selbst entdecken musste: „dass sich am Rande der Welt, in der ich mich eingerichtet hatte, noch andere Welten entfalten können“.

Titelbild

Philippe Descola: Die Formen des Sichtbaren. Eine Anthropologie der Bilder.
Aus dem Französischen von Christine Pries.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
800 Seiten , 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783518587997

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