Ein neues „Bild“ über das Mittelalter

Jérôme Baschet und Pierre-Olivier Dittmar vermitteln mit unüblichen Methoden der Bild-Analyse ein bislang ungewohntes Verständnis der mittelalterlichen Gesellschaften

Von Tom GoellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tom Goeller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Neigung, das, was man sieht, in Bildform darzustellen, ist so alt wie der Homo sapiens. Dies offenbaren schon die beeindruckenden Höhlenmalereien der Altsteinzeit, deren ältesten Ausführungen bis zu 40.000 Jahre alt sind. Seither unterlagen Darstellungen häufigen Veränderungen. Für mittelalterliche Künstler war es offenbar wichtiger, Bilder zu schaffen, die sich nicht an der Realität orientierten, sondern an Aussagen, die die „Kunst“ dem Betrachter vermitteln wollte. Vierzig internationale Historiker, Literaturwissenschaftler, Kunsthistoriker und Wissenschaftler anderer Disziplinen aus Europa, Brasilien, Korea und den USA haben sich nun intensiv der bildlichen Darstellung im mittelalterlichen Westeuropa gewidmet und erklären Formen, Inhalte, Zweck und Entwicklungen der mittelalterlichen darstellenden Kunst. Denn erst seit einigen Jahrzehnten hätten sich „Bilder ein Recht erworben, ebenfalls als historische Dokumente und als Beitrag für das Verständnis der mittelalterlichen Gesellschaften des Westens ernst genommen und zitiert werden zu dürfen“, heißt es in einem nicht namentlich gekennzeichneten Vorwort.

Buch schließt eine Forschungslücke

Die Aufgabe für die Autoren sei „nicht einfach gewesen, da die Analyse bildlicher Arbeiten mit besonderen Schwierigkeiten konfrontiert“ sei. Denn Historiker wären zwar insbesondere mit Texten und Archäologen mit archäologischen Materialien vertraut. Sie seien aber nicht gut genug darin ausgebildet, Bilder auf ihre Ausdrucks- und Funktionsweisen hin zu untersuchen, heißt es dort weiter. Dieser Band richte sich deshalb sowohl an Historiker als auch an Kunsthistoriker. Keine Frage: Das Buch stellt ganz im klassischen Geist des 1796 gegründeten belgischen Verlags Brepols eine Einführung und konkrete Hilfe für Studierende und Interessierte dar, die sich Schritt für Schritt in die mittelalterliche Kunst und deren Rolle für die damaligen Gesellschaften einarbeiten wollen. Im Einzelnen geht es um alle Bildformen des Mittelalters, von Miniaturen über Skulpturen, Möbel, Glasmalerei, Altarbildern bis hin zu Wandbildern.    

Der bekannte französische Mediävist Jean-Claude Schmitt, der an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris lehrt, geht in seinem Vorwort unter anderem auf die Etymologie des Wortes „Bild“ und seine Bedeutung in den verschiedenen europäischen Sprachen ein, beginnend mit dem lateinischen imago, das sich in der Antike hauptsächlich auf Porträts der Vorfahren bezog, bis hin zu dem Begriff vera icona, der Abbildung des Antlitzes Christi, aus dem sich auch der Vorname „Veronika“ ableitet. Absicht Schmitts ist es, alleine anhand dieser Begriffsbestimmungen deutlich zu machen, welch unterschiedliche Aussagen der Begriff „Bild“ beinhaltet.

Es sprengt den Rahmen einer Rezension, alle 33 Kapitel im Einzelnen zu beleuchten. Deshalb sei hier eine – subjektive – Auswahl von Kapiteln getroffen, die nach Ansicht des Rezensenten eine Besonderheit aufweisen.

Vade mecum für Analyse von Buchillustrationen

Im ersten Kapitel befasst sich zum Beispiel die französische Manuskript-Koryphäe Claudia Rabel mit Buchillustrationen. Sie erklärt die unterschiedlichen Techniken, von der Pinselmalerei über die Tinten-Illustration mit der Feder bis hin zu Mischtechniken. Rabel setzt Texte und Abbildungen in Korrelation und erklärt dies ausführlich am Beispiel des im Mittelalter weitverbreiteten Bildmotivs „Die Wurzel Jesse“ aus der Kapuziner-Bibel von Troyes aus dem Ende des 12. Jahrhunderts. Hilfreich für angehende Wissenschaftler ist vor allem ihr in einem Unterpunkt ausgearbeitetes Vade mecum für die Analyse von ornamentalen Bildern. „Es ist unerlässlich, den gesellschaftlichen Status des Dokuments zu kennen, in dem die Illustration auftaucht. Ob Einzelblatt oder Buch, die Bewertung des Manuskripts muss genauestens vorgenommen werden: Stadt, Institution, eventuell Grund der Erstellung, (…) nimmt es eine ganze Seite ein oder eine halbe Seite, wie verhält es sich zu den Textlinien, gibt es Unterschiede im Stil zu weiteren Illustrationen im Buch“, etc. Die Fragen Rabels sind nichts anderes als eine Checkliste, die der Wissenschaftler abarbeiten sollte, um zu einem Ergebnis zu kommen, nämlich: Was genau sagt das Bild über seine Darstellung hinaus aus? Welche Erkenntnis kann über den Ort der Herstellung gewonnen werden? Wurde Blattgold oder Blattsilber verwendet, kann auf einen gewissen Wohlstand der Institution oder des Auftraggebers geschlossen werden und so weiter.

Verschiedene Ansätze

Mit dem Verhältnis von Text und Bild in Manuskripten befassen sich außerdem die Literaturwissenschaftler Hye-Min Lee und Maud Pérez-Simon im neunzehnten Kapitel. Am Beispiel einer hochdetaillierten Miniatur aus einem Manuskript der Gattin von Philipp VI. von Valois aus der Zeit zwischen 1328 und 1333 erläutern sie ebenfalls Vorgehensweisen zur Interpretation dessen, „was das Bild uns erzählen will“. Der französische Mediävist Jérôme Baschet macht in seinem Beitrag im 21. Kapitel darauf aufmerksam, dass „ein Bild nicht isoliert betrachtet analysiert werden darf“. Vielmehr sei es nötig, die Illustrationen und Abbildungen in Relation zu anderen zu setzen. Diese Vorgehensweise nennt Baschet das „Prinzip der Serien-Analyse“. 

Schema und Statistik

Mit „Schematisierung und statistische Analyse eines Bildkorpus“ ist das 22. Kapitel überschrieben und hebt sich damit von allen anderen Beiträgen schon alleine durch den Ansatz ab, den die Paläografin Séverine Lepape folgendermaßen erklärt: „Hier möchten wir eine Methode vorstellen, die helfen kann, bestimmte ‚Kraftlinien‘ [Anm.: gemeint sind in diesem Fall Beziehungsgeflechte von Daten untereinander] innerhalb eines Bildkorpus zu entfernen. Sie basiert auf einer rigorosen Schematisierung eines jeden Bildes sowie einer computergestützten und statistischen Verarbeitung, die als Fakultätsanalyse bezeichnet wird.“ Eine Fakultätsanalyse ist eine Funktion in der Mathematik, die einer natürlichen Zahl das Produkt aller natürlichen Zahlen kleiner und gleich dieser Zahl zuordnet. Für die Bildanalyse heißt das laut Lepape: „Fakultätsanalysen sind eine Methode der mathematischen Berechnung, (…) die es erlaubt, bestimmte Daten zu erstellen, um zu sehen, wie sich diese Daten zu einander verhalten. Diese Daten kann man visualisieren und die Ergebnisse der Berechnungen grafisch darstellen.“ Das Interessante an einer solchen Methode sei, so Lepape, „dass man Elemente, die unwichtig sind, herausfiltern kann, und nur diejenigen übrigbleiben, die sich als historische Daten eignen.“ Das klingt kompliziert, doch Séverine Lepape erklärt, ebenso wie alle anderen Autoren, ihre Methode Schritt für Schritt nachvollziehbar.

Grundlagenwerk mit neuem Ansatz

Zusätzlich zu den Fachbeiträgen werden zahlreiche Recherchemittel aufgeführt. So gibt es das übliche ausführliche Schlagwortverzeichnis, eine allgemeine, detailliert erläuterte Bibliografie für den Überblick zum Thema zu Beginn des Buches, eine ausführliche Aufzählung von Recherchemitteln und Online-Hinweisen zu mittelalterlichen Bildern, Hinweise zur wissenschaftlichen Dokumentation von Abbildungen und Bildern sowie weitere Bibliografien am Ende eines jeden Kapitels. Der Band ist zweifellos ein Grundlagenwerk mit neuem Ansatz zur Erforschung von Bildern und Abbildungen des mittelalterlichen Westeuropas in Hinblick auf ein erweitertes Verständnis für die damaligen Gesellschaften. Excellent!

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Pierre-Olivier Dittmar (Hg.) / Jérôme Baschet: Les images dans l‘Occident médiéval. L‘ATELIER DU MÉDIÉVISTE 14.
Introduction de Jean-Claude Schmitt.
Brepols Publishers NV, Turnhout (Belgium) 2015.
507 Seiten, 62,00 EUR.
ISBN-13: 9782503551586

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