Mathematik und Informatik in der Geschichtswissenschaft
Eine Einführung in die Historische Netzwerkanalyse
Von Lina Schröder
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSeit einigen Jahren geistert die von Mathematik und Informatik abhängige Netzwerkforschung als ein im Entstehen begriffenes Untersuchungsfeld durch die verschiedenen Bereiche der Geschichtswissenschaft, bis dato fehlte jedoch ein entsprechendes Überblickswerk. Vorliegender Sammelband soll nun Abhilfe schaffen, allerdings – anders als sonst von der Gattung Handbuch gewohnt – nicht kanonisierend, sondern eher als problemorientierter Rückblick. So sollen laut der Herausgeber, welche sich z.T. schon seit mehreren Jahren mit Netzwerkforschung befassen, vor allem jene die Anwendung der Netzwerkforschung begleitenden Schwierigkeiten in den Mittelpunkt gerückt werden. Zu diesen zählen sie u.a. die Folgen existierender heterogener Quellenbestände, die Interpretation der Aussagekraft von Zentralitätsberechnungen und Netzwerkvisualisierungen sowie die methodische Vielfältigkeit der Anwendungsmöglichkeiten. Entsprechend dieser Zielsetzung bot sich eine Zweiteilung des Werkes geradezu an: Ein Theorieteil stellt in vier Aufsätzen die Grundlagen der Netzwerkforschung vor, im zweiten Teil folgen weitere fünf Aufsätze, welche dem anvisierten Leserkreis von Historikern und Sozialwissenschaftlern einen Einblick in die Anwendungspraxis ermöglichen.
Mit einer ideengeschichtlichen Perspektive auf die historische Netzwerkanalyse eröffnet Christian Nitschke den theoretischen Überblick. Erwartet der Leser hier zunächst eine einführende Aufschlüsselung des sehr vielfältig verwendeten Begriffs „Netzwerk“, wird er enttäuscht. So deklarieren die Herausgeber zwar in der Einleitung, dass sich der Begriff „Netzwerk“ zur „zweithäufigsten Leerformel“ entwickelt hat, belassen es jedoch bei dieser Feststellung. Nitschke verweist wohl auf die bis heute gültige Definition „soziales Netzwerk“ in Abgrenzung zum metaphorischen Gebrauch von Clyde Mitschell (1969), stellt jedoch im Weiteren die Weiterentwicklung von Mathematik und Informatik in den Mittelpunkt, welche der Netzwerkanalyse schließlich in den 1970er Jahren zum Durchbruch verholfen hätten. Erst Marten Düring und Florian Kerschbaumer greifen im zweiten Aufsatz die Netzwerkmetapher wieder auf, indem sie ihre vier Bedeutungen klassifizieren: erstens Netzwerke als Beschreibungsformel von Gesamtsystemen, zweitens als In- und Exklusionsmedien von Akteuren, als Beschreibungsmetapher drittens von Handlungsspielräumen sowie viertens von Beschränkungen. Erklärungen hierzu bzw. Informationen über Begriffsherkunft und -wandel bleiben die Autoren dem Leser schuldig. Es wird lediglich auf einen Beitrag von Alexander Friedrich (2010) verwiesen – für ein Handbuch bzw. eine rückblickende Einführung recht bedauerlich. Ebenso vermisst die Rezensentin hinsichtlich des erst genannten Aspektes – dem des Netzwerkes als Beschreibung von Gesamtsystemen – eine kritische Auseinandersetzung mit (bzw. zumindest begründete Abgrenzung der Netzwerkforschung von) dem vielfach in der Praxis immer wieder in einem Atemzug angeführten Infrastrukturbegriff. Insbesondere die materiell-technische Komponente des Netzwerks wird also von der bisherigen Netzwerkforschung nach wie vor schlichtweg ignoriert – das Netzwerk wird auf ein Akteursgeflecht, die soziale Netzwerkanalyse, reduziert. Auf eine wenigstens hiermit korrespondierende Netzwerkdefinition wartet der Laie an dieser Stelle ebenfalls vergebens, diese erfolgt erst auf Seite 103 im zweiten Praxisaufsatz.
Dafür beschäftigen sich Düring und Kerschbaumer intensiv mit den kontrovers geführten Debatten vergangener Jahrzehnte über den Zusammenhang von Netzwerk und Struktur, letztere erlaube schließlich erst seine Visualisierung. Beide Autoren heben hervor, dass diese mit der Verwendung einfacher Tabellen bereits ein gängiges Mittel darstellt. Hier hätte sich die Rezensentin eine mindestens überblicksartige Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus gewünscht: Welche Schnittstellen bzw. welche Grenzen existieren? Der Leser erfährt hierzu lediglich, dass von dem ehemals ambitionierten Vorhaben, die Soziale Netzwerkanalyse als formale Strukturanalyse in die Geschichtswissenschaft zu übertragen, bereits nach kurzer Zeit Abstand genommen wurde. Matthias Bixler schließt im dritten Aufsatz mit einem Rückblick der historischen Netzwerkanalyse der letzten vierzig Jahre an, als federführend nennt er hier insbesondere den deutschen Historiker Wolfgang Reinhard, da dieser die ursprünglich aus dem englischsprachigen Raum stammende Methode seinen deutschsprachigen Kollegen zugänglich gemacht habe. Insbesondere die Wirtschafts- und Sozialgeschichte habe nun diese für sich entdeckt: Christian Marx rückt abschließend vier Erfolg versprechende, teilweise überlappende Forschungsgebiete in den Mittelpunkt: Religion und Kunst, Familie und Verwandtschaft, politische Netzwerke sowie ökonomische Verflechtungen. Hinsichtlich letzterer ließen sich mit dieser Methode u.a. Kreditbeziehungen, Kapital- und Personalverflechtungen oder Veränderungen von Unternehmensstrukturen anschaulich abbilden.
Insbesondere in der Mediävistik scheint die Quellenarmut zunächst einen Widerspruch zur von der Mathematik dominierten Netzwerkanalyse darzustellen. Robert Gramsch eröffnet den zweiten Teil des Sammelbandes, indem er dieses Vorurteil zu entkräften sucht. In jener Epoche seien, so Gramsch, personelle Bindungen – die Datengrundlage der Netzwerkforschung – existentiell. Ob Genealogie, politisches Geschehen des Hoch- und Spätmittelalters oder geistliche Gelehrteneliten: Der Netzwerkforscher bräuchte lediglich an der mit Quellenmaterial reich versehenen Tafel Platz zu nehmen. Matthias Bixler und Daniel Reupke schließen mit einer Gegenüberstellung der historischen und sozialwissenschaftlichen Datenerfassung an. Das größte Problem stelle für den Historiker die Schnittstelle zwischen Quellenkritik und Quantifizierung dar, die Autoren raten in diesem Zusammenhang zum vermehrten Rückgriff auf Hilfs- und Zweigwissenschaften. Für unterschiedliche Quellenarten mit verschiedenen Merkmalen empfehlen sie ferner ein deduktives Vorgehen, relationale Datenbanksysteme könnten sich hierbei als vorteilhaft erweisen. Ulrich Eumann geht im Folgenden Aufsatz auf die Heuristik ein. Während die Forscher bei der Quelleninterpretation erst sehr spät wissen würden, ob ihre Hypothesen haltbar sind, ermögliche der Netzwerkansatz auf empirischer Grundlage das direkte Testen der Hypothesen mittels der erhobenen Daten; seine These führt Eumann anhand einer Untersuchung von Widerstandsgruppen während der NS-Zeit aus. Zunächst empfiehlt er den Entwurf eines sogenannten Modellnetzwerkes, welches anschließend nach und nach abgeglichen werden kann. Nicht alle entworfenen Grafiken seien für eine anschließende Publikation geeignet. Viele von Ihnen ließen sich jedoch hervorragend für die Präsentation von Zwischenergebnissen verwenden.
Der folgende Beitrag aus der Feder von Katja Mayer hätte besser seine Einordnung im Theorieteil gefunden. Mayer versteht ihn als Appell, die historische Netzwerkforschung mit ihren Soziogrammen auch als „visual history“ zu betreiben, „die ihre eigene Bildproduktion reflexiv thematisiert.“ Abschließend gibt Martin Stark eine gelungene Zusammenfassung des Bandes, indem er sämtliche Bestandteile der Netzwerkanalyse, begonnen mit den relationalen Daten als Grundlage der Netzwerkforscher, über die Visualisierung bis hin zu den verschiedenen Darstellungs- und Interpretationsmöglichkeiten am Beispiel des Ohmenhauser Kredit- und Verwandtschaftsnetzwerkes (1825) erläutert. Hinsichtlich der Visualisierung würden dabei mit Farben, verschiedenen Formsymbolen und -größen zahlreiche Möglichkeiten existieren, unterschiedliche Attribute wie geographische Herkunft, verschiedene Institutionen oder Handlungsvolumen darzustellen. Anhand einer solchen Abbildung könnten ebenso Aussagen zur Berechnung von Zentralität sowie Untersuchungen zur Pfaddistanz erfolgen. Als Reduzierungsverfahren großer, unübersichtlicher Netzwerke stellt er am Ende die Blockmodellanalyse vor.
Statt Handbuch Historische Netzwerkforschung würde der Titel „Einführung in die historische Netzwerkanalyse“ den Inhalt des Buches treffender widerspiegeln. Denn diesbezüglich bietet der Sammelband dem Forscher, der sich mit historischer Netzwerkanalyse auseinandersetzen möchte, eine verständlich geschriebene Übersicht, lediglich das von den Herausgebern bewusst anvisierte Gendern wirkt auf den Leseflusses störend. Die einzelnen Aufsätze greifen nicht nur die verschiedenen Praxisprobleme heraus, sondern präsentieren zugleich auch Lösungsvorschläge, nicht zuletzt durch einen sehr gelungenen Anhang, der u.a. auf die verschiedenen Möglichkeiten der Softwarenutzung überblicksartig noch einmal separat eingeht. Für Netzwerkanalytiker also eine zu empfehlende Darstellung. Im Hinblick auf die im Titel suggerierte allgemeine Historische Netzwerkforschung könnte der Leser jedoch enttäuscht sein, fehlt doch vor allem die erhoffte, umfassende Aufbereitung des Netzwerkbegriffs, welche auch über die sozialen Akteursgeflechte hinausgeht.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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