Für immer fremd

Claudia Durastanti erzählt in „Die Fremde“ in hybrider Romanform vom heimatlosen Aufwachsen in einer dysfunktionalen Familie und dem lebenslangen Gefühl nirgendwo dazuzugehören

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist eine sehr ungewöhnliche Geschichte, die die 1984 in Brooklyn geborene Autorin hier erzählt, denn es ist ihre eigene Lebensgeschichte: Die Eltern von Claudia Durastanti sind beide gehörlos und blieben zeitlebens gesellschaftliche Dropouts – die Mutter lebt schon mit fünfzehn Jahren in Rom auf der Straße, hat künstlerische Ambitionen, den unnachgiebigen Drang wegzulaufen und wird bald zur Alkoholikerin. Der Vater ist halb-kriminell, schlitzohrig und unkontrolliert und seine Tochter sieht ihn immer wieder „die Wut und den Wahnsinn fiktiver Figuren […] leidenschaftlich ausagieren.“ Die gehörlosen Eltern versuchen ihre Behinderung nicht „mit Mut oder Würde, sondern mit Leichtsinn“ und anarchischem Furor zu meistern und können ihren beiden Kindern so auch niemals ein sicheres und liebevolles Zuhause bieten.

Nachdem sie in den ersten Jahren in Amerika aufgewachsen sind, lassen sich die Eltern scheiden und die Mutter zieht mit Claudia und ihrem Bruder zurück in ein kleines Dorf in der Basilicata: „Wenn in der Basilicata die Sonne untergeht, wird der Himmel eine Lunge, die Blut auswirft.“ Claudia wird in diesem Dorf zur Außenseiterin, zur „Tochter der Stummen“, schwänzt die Grundschule und verschlingt auf dem Dachboden Bücher. Sie leben dabei in einer Armut, die so eigenartig ist wie alles andere: „Die anderen Kinder minderbemittelter Familien trugen keine Nikes wie mein Bruder, sie hatten keine siebzig Original-Barbies wie ich und flogen nicht einmal im Jahr nach New York. Andererseits hatten sie immer genug zu essen und mussten sich nie mit Wasser und Haferflocken begnügen oder hatten Magenkrämpfe, weil der Kühlschrank leer war“.

Später wird Letzte Ausfahrt Brooklyn für die Ich-Erzählerin zu einem Buch, „das alles für mich veränderte“ und ihr einen „belebenden Stromstoß“ versetzte. Sie beendet die Schule, entdeckt den Punk, reist durch Indien, studiert, zieht nach London und versucht sich in der Verlags- und Medienbranche in einem normalen Leben einzurichten – und wird doch immer wieder auf ihre Herkunft und Sozialisation zurückgeworfen.

Die Fremde ist ein hybrider Roman, der verschiedene Genres von der belletristischen Erzählung über die Autobiographie und den Essay bis zur Collage in sich vereint. Claudia Durastanti erzählt sprunghaft in Rückblenden, Assoziationen, Imaginationen und soziologischen Betrachtungen, aus denen sich Stück für Stück ein ganz und gar außergewöhnliches Leben zusammensetzt. Ein Leben ohne Wurzel und mit einer ganzen Reihe von weiteren Handicaps, die dafür sorgen, dass die Ich-Erzählerin sich immer irgendwie anders und fremd fühlt. Und die dennoch ihren Weg geht und sich behauptet und die sich jetzt mit diesem Buch als Mensch und Frau zwischen allen Stühlen verortet und definiert hat. Ein berührendes, aufrüttelndes und Mut machendes Buch.

Titelbild

Claudia Durastanti: Die Fremde.
Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2021.
304 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783552072008

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