Lesen üben
Ein Sammelband fragt, wie man sich professionell auf literarische Texte einlässt
Von Michael Duszat
Wie wir im digitalen Zeitalter lesen, ist eine Frage, der sich neben Pädagogik, Neurowissenschaften und anderen auch immer wieder die Literaturwissenschaft zuwendet. Dabei geht es einerseits um die geeigneten Methoden im Umgang mit Texten und Medien, und andererseits um die Grundfragen einer immer auf etwas unsicheren Füßen stehenden Disziplin: Was machen wir eigentlich genau, wenn wir professionell literarische Texte lesen?
Um in diesem Kontext einen bestimmten Aspekt des Lesens hervorzuheben, wählt der Sammelband das etwas ungewöhnliche Adjektiv „einlässlich“.Das bedeutet einerseits soviel wie „eingehend“ oder „gründlich“, verweist der Einleitung nach aber vor allem auf das Verb „sich einlassen“. Ausgehend davon möchte der Sammelband aus unterschiedlichen Perspektiven diskutieren, was es bedeutet, sich auf Literatur einzulassen.
Die Begriffe des Untertitels – Offenheit, Bezogensein und Genauigkeit – dienen als erste Differenzierung und zeigen schon an, in welche Richtungen es beim „einlässlichen“ Lesen gehen kann: Offenheit gegenüber einem Text lässt uns Neues entdecken, kann aber auch Leichtgläubigkeit bedeuten, wenn wir uns nämlich von den Illusionen, die ein Text erzeugt, zu sehr einnehmen lassen. Bezogensein kann bedeuten, beim Lesen auch die eigenen Erwartungen, die eigenen Positionen, die eigene Identität zu berücksichtigen; eine zu starke Verbindung zu uns selbst birgt aber auch die Gefahr, dass wir beim Lesen nicht aus uns selbst herauskommen und letztlich nur das bestätigt finden, was wir schon von uns selbst kennen. Genauigkeit schließlich kann dafür sorgen, dass wir Details ernst nehmen und einen Text in seiner Konstruktionsweise verstehen lernen und damit zu überzeugenderen Interpretationen kommen; andererseits können wir uns auch leicht zur Pedanterie verführen lassen.
Die Beiträge, die sich in diesem Kontext mit dem Lesen beschäftigen, werden in zwei Kategorien geteilt: „I. Einlässlich lesen und schreiben“ und „II. Theoretische Zugänge“. Diese Ordnung der Texte bietet bewusst nur eine grobe Orientierung, leuchtet aber auch als solche nicht immer ganz ein. Was etwa der Grund ist, eine Untersuchung des Motivs „Lesen im Weltenbuch“ in Kategorie I und eine Untersuchung des Motivs „Lesende Romanfiguren“ in Kategorie II zu platzieren, wird nicht ganz klar. Da auch viele andere Beiträge reibungslos in die jeweils andere Gruppe passen würden, hätte man bei der Diversität der Themen und Ansätze insgesamt also leicht auf diese Unterteilung verzichten können.
Denn so vielfältig das einlässliche Lesen schon in der Auffächerung in Offenheit, Bezogensein und Genauigkeit erscheint, so unterschiedlich wird auch in den Beiträgen damit umgegangen. Zum einen tauchen neben den im Untertitel genannten Aspekten weitere Begriffe wie „Close Reading“, „kritisches Lesen“ und „Postkritik“ auf, die sich teilweise mit dem vorgeschlagenen Begriff „einlässlicher Lektüre“ decken, aber auch jeweils ihre eigenen Kontexte mitbringen. Zum anderen kommt der Begriff „einlässlich“ zwar in den meisten Texten vor, wird aber nicht überall gleich ernst genommen. Manchmal scheint er auch lediglich als Anlass genommen, einen Aufsatz ohne viel Aufwand oder Reflexion an das vorgegebene Oberthema anzuknüpfen, was für Sammelbände freilich nicht ungewöhnlich ist.
Die meisten der Beiträge stammen zwar aus dem Bereich der Germanistik, doch die Vielfalt der Perspektiven soll erhöht werden, indem bewusst nicht nur Literaturwissenschaftler:innen, sondern auch Schriftsteller:innen eingeladen wurden, ihre Sichtweisen einzubringen. Allerdings bleibt die Frage, die die Einleitung insbesondere an die letzteren stellt, ob nämlich Einlässlichkeit nicht nur beim Lesen, sondern auch beim Schreiben eine Rolle spiele, weitgehend unbeantwortet. Das liegt zum einen daran, dass manche der literarischen Texte sich vom Thema unabhängig machen (etwa der Text von Oswald Egger, der der Frage nachgeht, warum ein Spiegel nur rechts und links und nicht oben und unten vertauscht). Zum anderen ist vielleicht auch die Frage, ob Einlässlichkeit beim Schreiben wichtig sei, nicht ideal, da natürlich kaum jemand literarische Texte schreibt, ohne sich auf einen Gegenstand oder auf den zu schreibenden Text selbst wirklich einzulassen.
Wer sich für das Thema Lesen interessiert, dürfte besonders interessiert sein an den Beiträgen, die nah am vorgegebenen Thema eine reflektierte Differenzierung versuchen und besondere Aspekte dessen, was einlässliche Lektüre sein könnte, beleuchten. Lesenswert ist hier zum Beispiel der Vorschlag von Michel Chaouli, den Begriff „Intime Lektüre“ als dauernde Aushandlung von Sich Einlassen und Misstrauen zu verstehen. Spannend ist auch Michael Gampers Aufsatz, der ein Experiment, in dem der britische Philologe I. A. Richards Leser aufforderte, anonym und ohne Vermittlung Lyrik zu kommentieren, überzeugend als eine Art vergessene Urszene des Close Reading darstellt.
Weitere interessante Texte sind der auch ohne Fachwissen einleuchtende Essay „Lesen üben“ von Lea Schneider, der in der Tätigkeit des Vögel Beobachtens eine Allegorie des Lesens findet, Julia Kitzmanns Aufsatz, der mit der Frage „Können wir überhaupt noch einlässlich lesen?“ die oft geäußerte Befürchtung aufgreift, das Lesen als Fähigkeit gehe mit der Digitalisierung verloren, und die Beiträge von Jenny Willner und Bernadette Grubner, die sich jeweils erhellend mit psychoanalytischen Aspekten des Lesens beziehungsweise Deutens beschäftigen. Und auch die Texte, die sich etwas abseits vom Thema mit einem einzelnen Werk oder Autor beschäftigen, sind meist von hoher Qualität, so dass sich der Sammelband für alle lohnt, die mehr über die komplizierten Beziehungen zwischen Menschen und literarischen Texten wissen wollen.
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