Eine Vivisektion der Welt und ihrer Bewohner
Corinna T. Sievers, von Nora-Eugenie Gomringer zu den diesjährigen TddL eingeladen, analysiert in ihren Romanen Beziehungen – und Geschlechtsteile
Von Birthe Kolb
Tagsüber doktert sie an Zähnen herum. Nachts – denn dann kann sie laut eigener Aussage am besten schreiben – tauscht sie Kittel und Mundschutz ihrer Zahnarztpraxis gegen den Laptop und seziert die Welt mit ihren Worten: Dass sie in der Medizin zuhause ist, möchte Corinna T. Sievers, geboren 1965 in Kiel, unbedingt betonen. Deshalb hat sie sich für ihr offizielles Vorstellungsvideo auf der Homepage des Bachmannpreises auch die Praxis als Hintergrund für ihr Interview ausgesucht. Das filigrane Werkzeug, mit dem sie in die Untiefen des menschlichen Rachens abtaucht, ist jedoch nicht das einzige Instrument, das sie beherrscht – auch ihr Klavierspiel ist im Video zu hören und zu sehen, dramaturgisch geschickt dem Spiel ihrer Finger auf den Laptoptasten gegenübergestellt. Schließlich hat Sievers, die ihre ersten Lebensjahre auf der Ostseeinsel Fehmarn verbrachte, zunächst Politik, Volkswirtschaft und Musikwissenschaften studiert, bevor sie eine medizinische Laufbahn einschlug und in dieser Fachrichtung in Kiel promovierte. Das war 1997. 13 weitere Jahre sollte es dauern, bis sie 2010 schließlich ihren ersten Roman Samenklau veröffentlichte. Noch einmal acht Jahre später wird sie 2018 vom neuen Jurymitglied, der deutschen Lyrikerin Nora-Eugenie Gomringer zum Ingeborg-Bachmann-Preis nach Klagenfurt eingeladen.
In der Zwischenzeit sind nach Samenklau, der bei der Frankfurter Verlagsanstalt veröffentlicht wurde, noch drei weitere Romane entstanden. Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in seiner Schöpfung (2012) und Maria Rosenblatt (2013) erschienen in der Hamburger Edition Nautilus, bevor Sievers mit ihrem aktuellsten Werk Die Halbwertszeit der Liebe wieder zur Frankfurter Verlagsanstalt zurückkehrte.
Ihre Lebenswirklichkeit fließt dabei immer in ihr Schreiben ein: So ist es beispielsweise kein Zufall, dass Phoebe, die Protagonistin von Samenklau, als Kieferorthopädin in Berlin arbeitet – in jener Stadt, in der auch die Autorin von 1997 bis 2004 eine Praxis führte. Auch die Promotion mit einer Arbeit über die Prognostizierbarkeit von Schönheit merkt man Sievers‘ Schreibe an. Margarete, die Protagonistin von Die Halbwertszeit der Liebe, ist Ärztin für Plastische Chirurgie. Das Thema des Vortrages, den sie gleich auf den ersten Seiten des Romans hält? „Grenzen von Penisvergrößerung mittels Hyaluronsäure“.
Als literarische Vorbilder nennt Sievers Philip Roth, Michel Houellebecq und Martin Walser und attestiert ihnen in ihrem Vorstellungsvideo „einen erbarmungslosen Blick auf sich selbst, auf ihr Mann-Sein, auch auf ihr eigenes Geschlechtsteil.“ Eben jenes Geschlechtsteil und seine Träger werden in ihren Romanen aus der Sicht der mitten im Leben stehenden Protagonistinnen mit einer distanzierten Ironie auseinandergenommen. Dafür reichen schon kleine, scheinbar unbedeutende Details, die Sievers beim Beobachten zwischenmenschlicher Interaktionen aufschnappt, um sie dann genüsslich auf in ihnen verborgene Wahrheiten über menschliche Beziehungen zu untersuchen. Vor allem den männlichen Blick auf Frauen wie Margarete, die trotz ihrer Überzeugung, körperlich missgestaltet und abstoßend zu sein, von ihnen begehrt wird: „Meine zarte Erscheinung verleitet Männer zu der Annahme, man müsse sich meiner annehmen wie eines Kindes. […] Für gewöhnlich reagiere ich nachsichtig und sehe davon ab, das Missverständnis aufzuklären.“
Sievers seziert diese Handlungsweisen genau wie die Körper ihrer Figuren, die unter ihrem scharfen Blick in Einzelteile zerfallen. So lässt sie etwa Margarete in der Schlange vor der Toilette überlegen, wie viele Liter Fett man den Männern dort absaugen müsste, damit sie dem Ideal von Attraktivität entsprechen. Dabei schreibt sie illusionslos und fast schon nüchtern auch von den unappetitlichen Aspekten des menschlichen Körpers: Das zweite Kapitel von Schön ist das Leben und Gottes Herrlichkeit in seiner Schöpfung beginnt mit dem blutigen Stuhlgang einer Frau, deren Damm bei der Geburt ihrer Tochter Ute gerissen ist. Jene Ute kam mit zwei dieser Fehlbildungen, die wiederum Margarete zwanghaft an ihrem Körper vermutet, zur Welt – jeweils sechs Fingern und Zehen sowie einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, von allen nur „Hasenscharte“ genannt. Im Verlauf des Romans wird Ute zu einer erwachsenen Frau heranreifen, geächtet und misshandelt von ihrem Umfeld – und Marianne Wellershoff wird Sievers in einer Rezension für den Kultur-Spiegel für die Darstellung einer „sozial verkrüppelte[n] Dorfgemeinschaft“ loben.
Das Schreiben sei ihr Ausgleich, sagt die Autorin über sich selbst. Ihre Möglichkeit, unangepasst sein zu dürfen. So wie etwa Maria Rosenblatt aus dem gleichnamigen Roman, eine Ermittlerin, die vor ihrer gescheiterten Beziehung in sexuelle Abenteuer flüchtet, am liebsten mit untergebenen Männern. Mit ihrer rotzigen Art eckt Maria überall an und behindert die Ermittlungen in einem Kinderporno-Skandal erheblich. Ihre eigenen Kinder bekommen die Karrierefrau kaum zu Gesicht. In der Literaturszene bezeichnet man einen Detektiv, der so agiert, häufig als „hard boiled“, als hartgekochten, knurrigen Hund. Häufig sind sowohl die Ermittler dieses Genres als auch ihre Erschaffer männlich. Literaturkritiker Denis Scheck zeigte sich im Oktober deshalb überrascht, als er Maria Rosenblatt für den Hessischen Rundfunk rezensierte, einen solch knallharten Roman habe er von einer Frau noch nie gelesen. Sievers, die vor allem Männer provozieren will, dürfte diese Aussage gefallen haben, verrät sie doch so viel über den Blick vieler Kritiker auf das weibliche Schreiben.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen