Kinder- und Jugendliteratur als Teil eines europäischen Verflechtungsprozesses
Ein Sammelband stellt exemplarische Felder und Themen des europäischen Austauschs zwischen 1800 und der Gegenwart vor
Von Torsten Mergen
Besprochene Bücher / Literaturhinweise20 Beiträge mit unterschiedlichen Fragestellungen und Perspektiven auf verschiedene Entwicklungsfelder, zeitliche Abschnitte und Bereiche der Kinder- und Jugendliteratur vereint der von Jattie Enklaar, Hans Ester und Evelyne Tax herausgegebene Sammelband „Studien über Kinder- und Jugendliteratur im europäischen Austausch von 1800 bis heute“. Mitgewirkt haben daran 21 Autorinnen und Autoren unterschiedlicher europäischer Nationalitäten sowie unterschiedlicher wissenschaftlicher Provenienzen (unter anderem von Universitäten in Berlin, Antwerpen, Eindhoven und Utrecht) und Disziplinen (unter anderem Germanistik, Anglistik, Ethnologie, aber auch Musikwissenschaft und Geografie).
Einleitend umschreiben die drei Herausgeber das Anliegen des Bandes, einen Beitrag zur grenzüberschreitenden Erforschung von Kinder- und Jugendliteratur zu leisten: „Das Studium der grenzüberschreitenden Kinder- und Jugendbücher […] ist ein Desiderat der Kinderbuchforschung.“ Sie führen im Folgenden aus, es sei ein herausstechendes Merkmal der entsprechenden Forschungsthemen beziehungsweise eine Eigenart der KJL, „dass die Geschichte des europäischen Kinderbuchs nicht geschrieben werden kann ohne das Wissen um die Verzahnung der an eine bestimmte Sprache gebundenen Kinder- und Jugendliteratur mit anderen Sprachgebieten“. Hervorgegangen ist der Sammelband dementsprechend aus internationalen Bemühungen von Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern aus Deutschland, Belgien, der Schweiz und den Niederlanden, sodass das Buch „eine bunte Palette von Perspektiven auf die Kinder- und Jugendliteratur“ bietet.
Den Sammelband prägen einerseits Einzelstudien, etwa über die Bedeutung des niederrheinischen Issum als Verlagsort, die Rekonstruktion der Kinder- und Jugendlektüre, die Theodor Fontane geprägt hat, oder über die Analyse und Interpretation der Leistungen des Scherenschnittkünstlers Karl Fröhlich (1831–1898), ferner über die Illustratorin Tom Seidmann-Freud.
Anderseits finden sich zahlreiche interkulturell, komparatistisch, zumindest aber grenzüberschreitend angelegte Aufsätze: Die Anglistin Vanessa Joosen rekonstruiert die Gründe für die wenig erfolgreiche Rezeption der ersten niederländischen Übersetzung aus dem Jahre 1820 der „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm: „Wenn man die Auswahl der damaligen Ausgabe mit den bekanntesten Märchen von heute vergleicht, dann fällt sofort auf, dass die meisten Märchen aus der ersten Übersetzung zurzeit kaum noch bekannt sind.“ Die rein literarischen Märchen waren offensichtlich in der ersten Übersetzung zugunsten der Schwankmärchen in der Minderheit, was spätere Übersetzungen korrigierten, indem sie „den Geschmack ihres Publikums besser einschätzen“ und erreichen konnten.
Auch die beiden Beiträge von Edel Sheridan-Quantz, Geografin und Ausstellungskuratorin, zeigen die Migration von Illustrationen und technischen Erneuerungen über die Grenzen der Einzelstaaten im Bereich der Bildreproduktion. Die Verlagstätigkeit von A. Molling & Comp. zwischen 1887 und 1939 im Bereich der Bilderbuchproduktion belegt exemplarisch die internationale Verbreitung von Literatur bis zum Zweiten Weltkrieg. Mit sogenannten Fröbel-Büchern, Spiel- und Aufstellbilderbüchern für den Einsatz in der Kindergartenarbeit, ferner durch Märchenbücher sowie durch „Glue Books“, großformatige gebundene Bilderbücher, konnte der Verlag prosperieren. Für das Anliegen des Sammelbands instruktiv ist ein Arbeitsergebnis der Studie von Sheridan-Quantz: „Interessant ist die Übernahme von Illustrationen aus fremden Kontexten ohne jegliche Anpassung an die Kultur des (neuen) kindlichen Publikums.“ Buchwissenschaftlich verweist der Beitrag auf weitere Desiderata.
In einem zweiten Text mit dem Titel „Das tönende Kinderbuch – ein innovatives Konzept aus Hannover“ untersucht Sheridan-Quantz die Entwicklung und Verbreitung von sogenannten tönenden Bilderbüchern als Mischform aus Spielbilderbuch und Kinderliederbuch wiederum am Beispiel von Publikationen des Verlages A. Molling & Comp. Große Bekanntheit erzielten Werke wie Kling-Klang und Fröhliche Musikanten, wobei sich Übernahmen und Parallelen zu englischen Vorläufern wie Ding Dong. Spear’s Musical Picture Book nachweisen lassen.
Ein gänzlich anderes Terrain erschließt die komparatistische Studie der Berliner Ethnologin und Sozialarbeiterin Hanna Schulz. Sie fragt provokant in ihrem Beitrag: „Sind niederländische Kinder frecher als deutsche? Zum Grad der Frechheit in deutschen Übersetzungen niederländischer Kinder- und Jugendbücher.“ Dazu differenziert sie Formen von Frechheit wie Dreistigkeit und Keckheit, ferner Verhaltensweisen wie Respektlosigkeit und Trotz. Am Beispiel von vier Büchern aus dem 20. Jahrhundert zeigt sie, gestützt auf den Vergleich von Ausgangstext und deutscher Übersetzung, kulturelle Differenzen in diesem Feld. Sie gelangt für die Kinderbücher Jip en Janneke von Annie M. G. Schmidt und Met de poppen goien von Guus Kuijer zu dem Ergebnis, dass der „Grad der Frechheit […] in diesen Kinderbüchern mit einer schwachen Tendenz zur ‚braveren‘ Darstellung in die deutsche Sprache übertragen“ werde. Für die beiden Jugendbücher Schoolidyllen von Top Naeff und Gebr. von Ted Lieshout weist sie nach, dass die Übersetzer ins Deutsche dazu tendieren, „den Grad der Frechheit zu senken. Das bedeutet, dass in allen Büchern die für die niederländische Kinder- und Jugendliteratur typisch humoristische Komponente in der Übertragung ins Deutsche leidet.“
Zusammenfassend betrachtet zeigt der von Jattie Enklaar, Hans Ester und Evelyne Tax herausgegebene Sammelband die Vielfalt der Fragestellungen, Erkenntniswege und -potenziale der noch recht jungen wissenschaftlichen Forschung zu Kinder- und Jugendbüchern. Einen schnellen Zugang zu den einzelnen Beiträgen ermöglichen die auf Englisch im Anhang abgedruckten Abstracts. Manche wiederkehrende Muster und grenzüberschreitende Gemeinsamkeiten werden deutlich, wenn etwa „viele Fälle der Migration im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur“ konstatiert werden. Der grenzüberschreitende Umgang mit Liedern, die Rezeption von Volksmärchen in den einzelnen Nationalliteraturen oder der Umgang mit Illustrationen in Kinderbüchern, aber auch die ständig aktuelle Frage nach dem Verhältnis von Original und Übersetzung werden kundig und auf wissenschaftlich fundierter Weise beleuchtet. Insgesamt wird der Sammelband seinem Anliegen, horizonterweiternd zu sein, in vollem Umfang gerecht.
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