Wenn alles zerstört ist

Im Roman „Wer hat Bambi getötet?“ erzählt Monika Fagerholm von einer brutalen Vergewaltigung einer jungen Frau durch vier Jugendliche

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Sachlage ist klar: Im Haus der bekannten Wirtschaftsprofessorin Annelise Häggert vergewaltigen vier Jugendliche eine junge Frau auf brutalste Weise, Anstifter ist Nathan Häggert. Abbe Häggert, Nathans Vater, ist, wie seine Frau, jemand im Ort, doch er steht infolge seiner Herkunft über Annelise, die im bekannten Grawellschen Kinderheim für Mädchen aufgewachsen ist, sich emporgearbeitet hat und dank Fleiß und Intelligenz – und Ehemann – zu Ruhm und Ehre gekommen ist. Sozialer Status spielt eine entscheidende Rolle. Das ist Gusten Grippe bewusst, Nathans Freund seit frühester Kindheit – „zwei Jungen mit gleichen Baseballcaps –“, schließlich waren/sind auch die Mütter befreundet. Angela ist ebenfalls ein Heimkind. Doch anders als Annelise, die sich in die oberen Wirtschaftsetagen emporarbeitete, fand Angela in der Kulturbranche ihren Platz, ihr Ruhm als Opernsängerin wächst stetig, entsprechend viel ist sie unterwegs – was das betrifft, sind die beiden Freundinnen wieder quitt, und sie müssen kein schlechtes Gewissen haben gegenüber den Jungs, die immer zusammen sind. Gusten hat bei Häggerts ein Zuhause gefunden: eigenes Zimmer, eigenen Schlüssel, jederzeit willkommen, vor allem von Annelise, wenn sie da ist.

Gusten ist am Abend der Tat ebenfalls dabei. Und er ist es, der als Erster davon erzählt, wie dieser Abend sein Leben für immer verändert, zerstört hat. Der sechsundzwanzigjährige Gusten – hier setzt der Roman ein – kehrt an einem Montagmorgen im September 2014 auf einer seiner morgendlichen Joggingrunden in den Ort zurück, in dem er aufgewachsen ist. Er ist inzwischen ein erfolgreicher Immobilienmakler und lebt in einer schicken Junggesellenbude in einem Vorort nicht weit vom Villenviertel, das er von früher so gut kennt. Als Kind war diese Gegend seine Welt, zu der Nathan gehörte, ebenso das Ehepaar Häggert und Angela, seine Mutter. In der vertrauten Umgebung ist an diesem Morgen sechs Jahre danach alles wieder da: das Fest bei Nathan, wie er hinzugerufen wird ins abgedunkelte und schallisolierte Zimmer, wo Sascha Anckar gefesselt daliegt, wie er aufgefordert wird, „Grippe, bedien dich“, wie er mitmacht. Wie er später im Krankenhaus Sascha anfleht, zu reden und nicht länger vorzugeben, von einer ihr unbekannten Gang zusammengeschlagen worden zu sein. Und wie er dann zur Polizei geht, Saschas Fotoapparat als Beweismittel dabei, mit dem alles aufgenommen wurde. Erwachsen sei er geworden, in dieser Nacht im Februar, „nach der Vergewaltigung, die im Zimmer weiterging“, ein Erwachsensein, das ihn in keinem Moment leugnen lässt, was er getan hat.

„Ich bringe sie um“, sagte Nathan damals, als Sascha ihn verlassen hatte, nachdem sie ein paar Monate ein Paar gewesen waren. Es war ihm ernst mit dieser Drohung. Und die drei Freunde sind dabei, machen mit, zerstören ihrer aller Leben. Gusten, erwachsen geworden an diesem Abend, kann damit nicht leben.

Gusten und Nathan. Das letzte Mal sehen sie sich im Geisterschiff, unten in Nathans Zimmer, nach der Gerichtsverhandlung, in der Nacht, nachdem die (milden) Urteile gefallen sind – sie schlagen sich fast tot. Gusten schlägt und schlägt und schlägt beinahe in Trance auf Nathan ein, der besoffen ist, dicht. So verdammt zugedröhnt von Alkohol und allem Möglichen, da liegt er auf dem Fußboden seines großen Zimmers, das scheinwerferartige Deckenlicht fällt wie Sonnenschein auf ihn herab, Nathan in der Sonne, lacht Gusten blöde an, der zuschlägt –

Und dann reißt Gusten sich los und rennt weg, durch den Wald und hinauf zur Landstraße und zur Brücke, von der er sich stürzen will, sich das Leben nehmen, sterben – wird aufgehalten und landet in der Klapse (wo ein Heilungsprozess beginnt, der, wie er jetzt begreift, vielleicht immer noch andauert).

Auf der morgendlichen Joggingrunde holen ihn die Jugendjahre wieder ein – auch die Sehnsucht nach Emmy, die  – inzwischen verheiratet mit einem um viele Jahre älteren Mann und hoffend, schwanger zu werden – er wiederzusehen sich wünscht. Alle, die damals so wichtig waren, tauchen auf an diesem Morgen. Die Erinnerungen quälen, schmerzen, erniedrigen.

In spiralförmigen Umkreisungen tauchen wir als Leser:innen ein in ein Netz von Beziehungen im Ort, wir erfahren vom Prozess und den empörend milden Urteilen, von einflussreichen Vätern eingefädelt („denn schließlich sind sie trotz allem junge Männer, die das Leben noch vor sich haben“), die jedoch den jungen Männern kein Glück bringen, wir lesen von zerstörten Existenzen, von für immer gebrochenen Leben. Vom Sterben. Vom Tod.

Alle Versuche, alles zu relativieren, auch sie scheitern. Annelise Häggerts Karriere stürzt in sich zusammen – und der Ehemann verlässt sie unmittelbar nach Urteilsverkündigung mit seiner langjährigen Geliebten. Nathan versinkt in Einsamkeit, nachdem seine Mutter nach einer Krebserkrankung verstorben ist. Gusten widert das Leben trotz beruflicher Erfolge an („Höllenmakler“ lautet sein Spitzname), seine Liebe zu Emmy sucht er bei Saga-Lill, Emmys Freundin, zu vergessen. Und Sascha Anckar? Über die zunehmend lauter gesagt wird:

Schließlich mochte man Sascha nicht, sie war arrogant, eingebildet und falsch, und außerdem aus dem Grawellska und kriminell und sie hatte ihn verlassen … Was verdammtnochmal hatte sie überhaupt auf dieser Party zu suchen? Da gab es diejenigen, die zu verstehen gaben: Wie man sich bettet, so liegt man. Und da lag sie.

Sascha Anckar starb vier Jahre nach der Urteilsverkündung („(nur Nathan wurde wegen Freiheitsberaubung zu einer kurzen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt, die anderen wurden freigesprochen), und es gab keine Berufung“, doch es floss reichlich Lösegeld). An einer Überdosis Heroin in den USA. Dorthin zog sie einige Monate nach dem Gerichtsverfahren, sie wollte an einer Sportschule studieren und trainieren.

Die finnland-schwedische Autorin Monika Fagerholm, geboren 1961 in Helsingförs/Helsinki, ist im deutschen Sprachraum bis jetzt nahezu unbekannt geblieben, obwohl sie zu den bedeutendsten skandinavischen Gegenwartsautor:innen gehört und ihre beiden früheren Romane Wunderbare Frauen am Wasser (1997) und Das amerikanische Mädchen (2008) auch auf Deutsch übersetzt wurden, heute aber längst vergriffen sind. Ihr Roman Wer hat Bambi getötet?, der mit dem Großen Preis des Nordischen Rates 2020 ausgezeichnet wurde, ist hart, aufwühlend, empörend und deprimierend. Gnadenlos deutlich erzählt die finnische Autorin von der brutalen Vergewaltigung durch vier Jugendliche. Sie leuchtet das Leben der involvierten Personen detailliert aus, deckt Geschichten auf, stellt Entwicklungen dar und vermeidet es, Erklärungen zu liefern oder Kausalzusammenhänge zu schaffen. Im Zentrum steht die Tat. Erzählt wird aus verschiedenen Perspektiven, wobei Gusten Grippe trotzdem als eigentliche Hauptfigur hervortritt. Er steht in Verbindung zu Nathan, Annelise, Angela, Emmy, Saga-Lill und zu Sascha, auch wenn die Fäden der Romanhandlung nicht bei ihm zusammenlaufen, sondern sich die Geschichte in einzelnen, nicht chronologisch erzählten Geschichten entwickelt.

Diese Erzählweise kreiert einen starken Sog, dem sich Leser:innen nicht entziehen können und der dank der grandiosen Übersetzung von Antje Rávik Strubel auch im Deutschen nachhaltig wirkt. Verstärkt wird diese Spannung durch die teils abgehackte, teils schlingenförmig vorantreibende Sprache, von der Übersetzerin ebenfalls hervorragend wiedergegeben. Die Lektüre dieses beeindruckenden Romans lässt sprachlos und aufgewühlt zurück – und bevor es möglich ist, in den Alltag zurückzukehren, muss erst mal einiges verdaut werden.

Titelbild

Monika Fagerholm: Wer hat Bambi getötet?
Aus dem Finnischen von Antje Rávik Strubel.
Residenz Verlag, A-5020 Salzburg 2022.
256 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783701717590

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch