Jenseits der Wirklichkeit, diesseits des Eskapismus

Vorbemerkungen zum „Fantasy / Phantastik“-Schwerpunkt der März-Ausgabe

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

„In mir und rings um mich war alles anders geworden, ich gehörte wieder der Wirklichkeit an.“ Nach Gefühlen des Unbehagens, der Beklemmung und gar Ansätzen des Wahnsinns versichert sich der Ich-Erzähler in Leo Perutz’ Roman Der Meister des jüngsten Tages seiner geistigen Gesundheit und der sicheren Verankerung in der Wirklichkeit. Von einem fiktiven Herausgeber erfahren wir am Ende des Romans, dass der Bericht des Erzählers – der nach der vermeintlichen Rückkehr in die Wirklichkeit von geheimnisvollen Geschehnissen am Rande der Rationalität kündet – just an dieser Stelle „mit einer jähen Wendung ins Phantastische“ abgebogen sei. Wem können wir glauben? Gab es den Einbruch des Übersinnlichen oder war alles nur ein Ablenkungsmanöver des Erzählers, um seine eigenen unlauteren Machenschaften zu verschleiern? Wo ist der feste Punkt, auf den wir uns stellen können? Es sind Fragen wie diese, die uns phantastische Literatur stellt. Sie fordert unser Wissen stets aufs Neue heraus, da sich die Gesetze der erzählten Welten von denen unserer Lebenswelt unterscheiden, teils in signifikanten Aspekten. Oder ist auch diese Unterscheidung im ‚postfaktischen Zeitalter‘ obsolet?

Mit dem Begriff „Phantastik“ wird ein weites und semantisch äußerst vages Feld eröffnet, das sich in vielfältige Unterkategorien verzweigt. „Fantasy“ ist das sicherlich populärste Untergenre, doch bereits diese Klassifizierung ist umstritten. Je nach Definition gilt Fantasy als Spielart (bisweilen ist gar von einer „Abart“ die Rede – diese Wertung ist durchaus programmatisch) oder gar als Synonym von Phantastik, an anderen Stellen wird eine grundlegende Differenz postuliert. Die Terminologie ist ähnlich schwankend wie unsere Wahrnehmungsentwürfe, wenn wir uns mit Phantastik befassen.

Nach einer weit gefassten Definition zählt all das zur Phantastik, was außerhalb der realen Welt liegt. Die phantastische Literatur umfasse eine ganze Reihe von Subgenres: Märchen, Sagen, Mythen, Horror, Utopien – und eben auch Fantasy. Phantastik wäre dann ein Sammelbegriff für alle ästhetischen Produktionen, in deren Welten die bekannten Naturgesetze verletzt oder überschritten werden, die das Nichtempirische präsentieren, als sei es empirisch. Von Phantastik sei demzufolge dann die Rede, sobald bestimmte Handlungselemente von der Wahrscheinlichkeit der jeweiligen historisch-sozialen Erfahrungswirklichkeit abweichen. Folgt man dieser Annahme, beginnt die Tradition der Phantastik bereits bei den homerischen Epen und erstreckt sich über mittelalterliche Heldengeschichten aus dem Sagenkreis um König Artus bis hin zu J.R.R. Tolkiens Erzählungen von Mittelerde und ihren unzähligen Nachfolgern bis in die Gegenwart.

Gemäß eines weit engeren Ansatzes basiert Phantastik auf einem ungelösten Konflikt zweier Erklärungsweisen der sich vollziehenden oder andeutenden Geschehnisse und Erscheinungen. Phantastik zeichne sich nicht zuletzt durch die Art des Erzählens aus, die programmatisch Unsicherheit schüre und auf eine Ununterscheidbarkeit ziele, ob der Einbruch des Wunderbaren oder Unheimlichen sich wirklich vollziehe, was wiederum zu einem reizvollen Rätselspiel mit zeichentheoretischen Implikationen führe, das im besten Fall nicht aufzulösen sei. Phantastik lasse die Möglichkeit offen (auch wenn diese unwahrscheinlich escheine), dass das Mysteriöse mit logischen und rationalen Mitteln erklärt werden kann.

Fantasy hingegen präsentiere das Übernatürliche als integralen Bestandteil der innerfiktionalen Wirklichkeit. Dass etwa in Tolkiens Der Hobbit, seiner Herr der Ringe-Trilogie, der Harry Potter-Reihe von Joanne K. Rowling oder George R.R. Martins Das Lied von Eis und Feuer Zauberer, Drachen und magische Artefakte eine zentrale Rolle spielen, wird nicht hinterfragt. Fantasy sei mehr durch die Inhalte als durch deren Vermittlung gekennzeichnet, etwa durch eine mythische, altertümliche, meist mittelalterlich anmutende Welt mit eigener Geschichtsschreibung, eigener Geografie, eigenen Sprachen und archaischen Sozialstrukturen. Es gibt Fabelwesen, Zauberei und häufig einen klischeehaften Kampf zwischen Gut und Böse – nicht zuletzt deswegen steht Fantasy im Ruch des Trivialen.

Viele phantastische Themen sind so alt wie die Menschheit selbst, ist doch der Mensch die einzige (bekannte) Lebensform, die sich über Wesen austauscht, die es nicht gibt. In Fantasy und Phantastik werden das Imaginäre und das Unbekannte in das Zentrum analytischer Neugier gerückt, und das bei Weitem nicht nur in der Literatur. In den audiovisuellen Medien – man denke nur an den gigantischen Erfolg der TV-Serie Game of Thrones – sind insbesondere Fantasy-Stoffe eine sichere Wette. Diese Popularität zeigt sich auch in ihren Adaptionen in PC- und Konsolenspielen.

In diesem Schwerpunkt sind Überlegungen zu unterschiedlichen Facetten des Feldes der Fantasy und der Phantastik versammelt. Hans Richard Brittnacher stellt im Rahmen eines Essays grundsätzliche Überlegungen zur Phantastik an, Mario Grizelj befasst sich mit unterschiedlichen Erscheinungsformen von Fremdartigkeit in Spielarten der Phantastik. Nathanael Busch dagegen geht der Frage nach, weshalb Fantasyromane meist auffällig umfangreich sind, während Martin Janda narratologische Probleme interaktiver Fiktionen im Bereich Fantasy-Gaming diskutiert. Zudem wird in einer Reportage über die Phantastische Bibliothek Wetzlar ein Zwischen- und Parallelreich ganz eigener Art vorgestellt. Hinzu kommen Rezensionen zu klassischer und aktueller, belletristischer und wissenschaftlicher Phantastik- und Fantasy-Literatur. Vorgestellt werden unter anderem Publikationen von Urvätern der Genres wie J.R.R. Tolkien und Edgar Allan Poe sowie Erscheinungsformen des Phantastischen in der Gegenwartsliteratur, aber auch Bücher von Autoren, die nur einem kleineren Kreis bekannt oder gar vergessen sind, kommen zu ihrem Recht.

Eine Beschäftigung mit Fantasy und Phantastik ist eine Konfrontation mit den eigenen Ängsten, aber auch Wünschen und Sehnsüchten. Schließlich waren Formen des Phantastischen immer weit mehr als bloßer Eskapismus: Die erfundenen Welten sind nur denkbar auf der Folie der wirklichen – und bieten mithin eine Möglichkeit zur kritischen Kultur- und Gegenwartsreflexion. In Zeiten, in denen auf höchster politischer Ebene „alternative Fakten“ ein wohlfeiles Mittel zum Kampf um Macht und Diskurshoheit darstellen, mag die Erkundung alternativer Welten ein probates Mittel sein, um die Sensibilität für den Einbruch des Unheimlichen und das Schüren von Ängsten zu schärfen.

Hinweis: Der Schwerpunkt „Fantasy / Phantastik“ wurde von den Studierenden der Übung „Lehrredaktion“ im Wintersemester 2017/18 unter der Leitung von PD Dr. Manuel Bauer an der Philipps-Universität Marburg initiiert und erarbeitet. In der praxisorientierten Übung, die Bestandteil des Master-Studiengangs „Literaturvermittlung in den Medien“ ist, erhielten die Studierenden Einblicke in den Literaturbetrieb, speziell in die Arbeitsabläufe der Redaktion von literaturkritik.de. Sie haben unterschiedliche kulturjournalistische Texte eingeworben (zum Teil auch selbst geschrieben), in Redaktionssitzungen gemeinsam diskutiert, redigiert und zu diesem Schwerpunkt zusammengestellt.