Fallen ist Sterben

In Daniel Faßbenders Debütroman „Die weltbeste Geschichte vom Fallen“ begibt sich ein junger Roofer hoffnungsvoll und verzweifelt zugleich auf gefährliche Höhen

Von Caroline LissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Liss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Da ist nur der Himmel; die Probleme, die das Leben mit sich bringt, bleiben zurück – in weiter Ferne, unten. Weit weg, klein und – je höher man klettert – nicht mehr allzu scharf zu erkennen. Roofing, auch Rooftopping genannt, bezeichnet das ungesicherte Klettern auf hohe Gebäude oder Bauwerke, oftmals mit dem Ziel, sich auf diesen zu fotografieren oder zu filmen. Es gilt als Extremsportart, ist eine Form der Urban Exploration und findet seinen Ursprung in Russland.

Der 21-jährige Roofer aus Stockholm, dessen Name der Leser auch im weiteren Verlauf des Romans nicht erfahren soll, scheint es aus sportlicher Sicht geschafft zu haben: Zusammen mit der „Viper-Crew“, einer aus den populärsten und mutigsten Roofern der ganzen Welt bestehenden Gruppe, klettert er erstmals auf die Russki-Brücke in Wladiwostok. Gemeinsam mit Ikarus, ihrem in dieser Szene Kult-Status genießenden Anführer, darf der Protagonist sich selbst und sein Können unter Beweis stellen; vor allem, wenn er sich für eine spektakuläre Videoaufnahme an Ikarus’ Arm hängt. Spätestens dann, wenn das eigene Schicksal am Arm eines anderen Roofers hängt, den man erst seit ein paar Stunden persönlich kennt, wird jede Sekunde des Lebens wertvoller denn je. So erkennt auch der Ich-Erzähler, dass Abrutschen und Fallen keine Option ist: „Ich will nicht sehen, wie irgendjemand stirbt. Und jetzt will vor allem ich nicht sterben. Es ist kein Zufall, dass man bei Soldaten von Fallen spricht und damit ihren Tod meint. Fallen ist Sterben.“

Die weltbeste Geschichte von Fallen beginnt eindringlich und unvorbereitet mit eben dieser Situation des Protagonisten. Ob Ikarus ihn loslassen oder er abrutschen und 320 Meter in die Tiefe fallen wird, ist vorerst ungewiss und so müssen sich die LeserInnen zunächst in Geduld üben. Retrospektiv erfährt der Leser weitestgehend chronologisch in einem jugendlichen Jargon die Geschichte des jungen Roofers; wie dieser zum Roofing kam, welche Menschen sein Leben beeinflussen und was ihn bewegt. Über der Stadt, auf den Dächern der Welt, fernab der dem Menschen gegebenen Perspektive fühlt sich Daniel Faßbenders Protagonist am wohlsten. Roofing bedeutet für ihn Freiheit. Als er den Stockholmer Fernsehturm besteigt, lernt er Bojana kennen, die im naheliegenden Restaurant arbeitet, um sich ihr Studium zu finanzieren. Bojana ist eine außergewöhnliche Figur, die trotz ihres jungen Alters schon einiges hinter sich hat: Bereits in sehr jungen Jahren flieht sie mit ihrer Mutter aus Bosnien und verliert kurze Zeit später aufgrund eines Unfalls ihren Unterschenkel. Trotz oder gerade wegen ihres Schicksals brilliert sie mit besonderer Stärke und Willenskraft. Die Politikstudentin setzt sich in ihrer Freizeit ehrenamtlich für Geflüchtete ein, ist einfühlsam, zielstrebig und steht damit in gewisser Weise dem Protagonisten als Weltverbesserin sowie Vorbild gegenüber. Denn der Roofer und Medienwissenschaftsstudent zeichnet sich durch seine Flucht vor seinen Ängsten und Problemen aus, indem er sich auf die Dächer begibt: So wird das Roofing schleichend zu einer Art Kompensation, zur Ablenkung und zum verzweifelten Versuch, die Lücke zu füllen, die das frühe Ableben seines Vaters in seinem Leben hinterlassen hat.

Mit Bojana in seinem Leben scheint sich diese immer gefährlicher werdende Entwicklung allerdings zu wandeln: Sie erdet ihn, er schenkt ihr ein Gefühl von Heimat. Gegenseitig geben sie sich Sicherheit und Geborgenheit, er lernt schließlich Verantwortung für sich selbst und andere zu übernehmen. Roofing wird für ihn zunehmend zum Hobby, weniger zur Kompensation von Problemen, bis zu dem Zeitpunkt als ihm seine Mutter offeriert, dass sein Vater nicht – wie er immer geglaubt hatte – bei einem Unfall ums Leben gekommen ist, sondern sich selbst das Leben nahm. Dem Zerfall seines konstruierten Weltbildes folgt die erneute Flucht nach oben; auf Dächer und Brücken, folgen waghalsigere Aktionen, folgen Gleichgültigkeit und Hoffnungslosigkeit, folgt ein depressiv-destruktives Verhalten, das schließlich in der Trennung von Bojana und dem Vorhaben, zusammen mit der Viper-Crew die höchste Brücke in Russland zu besteigen mündet.

An dieser Stelle schließt sich der Kreis der Narration. Die Hauptfigur wird sich über die Wertigkeit ihres eigenen Lebens und darüber hinaus über die ihm zunächst verborgen liegenden Gründe seiner waghalsigen Abenteuer und der Suche nach immer gefährlicheren Manövern bis hin zu lebensgefährlichen Höhen bewusst. Das Erlebnis des vermeintlichen Fallens und Sterbens wird zum Wendepunkt, an dem er die Bedeutung des Lebens erst erkennt und welcher ausschlaggebend dafür wird, sich zukünftig nicht mehr der Verantwortung zu entziehen, sondern sich den Problemen zu stellen.

Daniel Faßbender versteht sich in seinem Roman ganz besonders darauf, in mitreißenden Sprachbildern zu erzählen, dynamisch und ungehemmt Gedankengänge zu schildern und Charaktere zu schaffen, die einzigartig und sehr unterschiedlich sind. Trotz Faßbenders Wahl der Ich-Perspektive sind auch andere Figuren, insbesondere die Figur Bojana, sehr sensibel porträtiert. Der Roman ist besonders aufgrund des jugendlichen, an manchen Stellen bereits derben Tons unbeschwert und spielerisch, ohne komplexe oder tiefgreifende Themen zu bagatellisieren oder gar zu theatralisieren. Faßbender illustriert verschiedene Schicksale und die unterschiedlichen Möglichkeiten mit diesen umzugehen: Wie entscheidet man sich? Hält man die Hand fest, die gleichsam ein Versprechen für einen Neuanfang zu sein scheint oder lässt man sie los und fällt – in eine „Spirale vom Schwarz. Ins Grau. Ins Weiß. Weiß. Dunkelblau. Dunkelblau […].“

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Daniel Faßbender: Die weltbeste Geschichte vom Fallen. Roman.
Mirabilis Verlag, Miltitz bei Meißen 2018.
237 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783981848465

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