Eine Korrespondenz der Alltäglichkeiten

Der Briefwechsel Hugo von Hofmannsthals mit seiner Frau Gerty – sorgfältig ediert und sehr ausführlich kommentiert

Von Günther FetzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günther Fetzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hugo von Hofmannsthal schrieb am 24. April 1927 an Ruth Sieber-Rilke, die ihn gebeten hatte, in einem Kuratorium zur Herausgabe der Briefe ihres Vaters mitzuwirken:

Wenn ich meinen Tod sehr nahe kommen fühlte, würde ich Weisungen hinterlassen, die fast entgegengesetzten Sinnes wären. Ich würde alles tun – soweit sich in dieser zerfahrenen Welt etwas tun lässt –, diese vielen schalen und oft indiskreten Äußerungen über einen produktiven Menschen und seine Hervorbringungen, dieses verwässernde Geschwätz, zu unterdrücken, zumindest ihm möglichst Nahrung zu entziehen durch Beiseite-Bringen der privaten Briefe und Aufzeichnungen, Erschwerung des läppischen Biographismus und aller dieser Unziemlichkeiten. (BW Rilke 1978: 149)

Hofmannsthal hat solche „Weisungen“ nicht hinterlassen, sondern hat im Gegenteil bei der Publikation des Briefwechsels mit Richard Strauss im Jahr 1926 tatkräftig mitgewirkt. So ist heute ein Briefwerk überliefert, das neben den Korrespondenzen von Hermann Hesse, Ernst Jünger, Thomas Mann und Rainer Maria Rilke zu den umfangreichsten Briefœuvres in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts gehört. Es ist von mindestens 11.000 Briefen, Postkarten und Telegrammen auszugehen; wahrscheinlich ist die Zahl wesentlich höher.

Der Empfängerkreis von etwa 800 Personen und 60 Institutionen ist außerordentlich vielfältig. Das Briefwerk reicht von der Familienkorrespondenz mit den Eltern, seiner Frau, der Tochter Christiane und der Großmutter mütterlicherseits über umfangreiche Briefwechsel im engeren und weiteren Freundeskreis, so zum Beispiel mit Edgar Karg von Bebenburg, Rudolf Borchardt und Carl Jacob Burckhardt, bis zum brieflichen Austausch mit Künstlerkollegen, insbesondere und am umfangreichsten mit Richard Strauss.

Nun liegt – neben der Korrespondenz mit Ottonie Gräfin Degenfeld – der persönlichste Briefwechsel vor, der mit seiner Frau Gerty, mit der er fast 30 Jahre verheiratet war. Nicoletta Giacon hat ihn sorgfältig ediert und sehr ausführlich kommentiert. Das ist ein in jeder Hinsicht gewichtiger Band geworden: über 1800 Seiten mit 68 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Gewicht mehr als 1,7 Kilogramm. Der etwas neckisch-kokette Titel „Bin ich eigentlich jemand, den man heiraten kann?“ greift die Frage auf, die Hofmannsthal ein Jahr vor der Heirat seiner künftigen Schwiegermutter Franziska Schlesinger in einem Brief gestellt hatte.

Der Briefwechsel zwischen Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) und Gertrude (genannt Gerty) von Hofmannsthal, geborene Schlesinger (1880–1959) setzt am 23. März 1896 mit einem verspäteten Gruß des sechs Jahre älteren, damals in Wiener Kreisen schon berühmten Dichters zu Gertys 16. Geburtstag ein und endet mehr als 30 Jahre später am 7. März 1929 mit einem Brief aus Schönenberg an sie, in dem er seine Rückkehr drei Tage später ankündigte. Dazwischen liegen rund 750 Schreiben Hofmannsthals und rund 250 Schreiben Gertys – alles, was überliefert ist. Seit 1916 fehlen die Briefe Gertys fast vollständig.

In Hofmannsthals Briefwerk besitzen Briefe und Briefpartner im Allgemeinen die Funktion, seine literarische Produktion zu stimulieren. Das geht zum Teil soweit, dass die Briefpartner als Ideenlieferanten fungieren. Der Briefwechsel mit seiner Frau ist ganz anders gelagert. Er ist, wie Ursula Renner im Nachwort schreibt, ein „lebenslanges, inniges Gespräch über so vieles – ausgenommen seine Autorschaft“. So kommt Stefan George an gerade einmal zwei Stellen im Register vor, Rudolf Pannwitz an sieben, nicht aber wegen seines Werks, sondern hauptsächlich wegen seines ungebührlichen Verhaltens gegenüber Ottonie Gräfin Degenfeld. Selbst Burckhardt, der Freund der mittleren und späten Jahre ist nicht wesentlich häufiger erwähnt.

So ist es eine Korrespondenz der Alltäglichkeiten. Der Vielreiser Hugo berichtet stichpunktartig seiner Frau, wen er wann und wo getroffen hat, mit wem er „soupiert“ hat: „gestern (Sonntag) mittags mit Strauß bei Levin, nachmittags bei Borchardt, abends bei Reinhardt […] Morgen besuche ich Burdach im Grunewald u. esse dann bei der Dora“ (Brief vom 25. März 1918). Er erkundigt sich nach ihrem und der Kinder Befinden, bedankt sich für Gertys „Brieferl“. Und der extrem wetterfühlige Künstler berichtet unzählige Male über das Wetter und die damit einhergehenden Einschränkungen seiner Kreativität. Aus Rodaun schreibt er an die in Bad Aussee weilende Gattin:

Der Aufenthalt hier hat doch nichts Rechtes ergeben, woran man sich freuen u. aufrichten könnte und daran ist nur das Klima schuld – innerlich ist alles da, aber immer nach einem wunderbar schönen Tag kommen drei vier solche elende schwüle Tage, die machen mich so dumm, drücken mich so nieder, dass ich mich in ein Büchserl verkriechen möcht. (23. Juli 1920)

Und nicht zuletzt gibt er Anweisungen: „Bitte mach mir frische Strumpfbänder, ich lauf herum wie Jacob [Wassermann] (aber schick sie nicht, sondern gib sie mir nur gleich dort). Die Weite kannst an Raimunds Knie nehmen.“ (28. Juli 1919) Oder noch detaillierter:

Jetzt schick mir bitte in einer Schachtel oder in Papier gewickelt 2 farbige Hemden, 1 Unterhose, 1 Nachthemd ein paar Taschentücher und Socken, auch einige paar dünnere. Solche fil d’écosse-socken muss man vielleicht 6 paar nach Mustergröße kaufen. (23. August 1907)

Die Ehefrau ist Hausfrau, Mutter der Kinder und Sekretärin: „Gerty teilt sich zwischen dem Kochherd, der Nähmaschine und der Schreibmaschine – bald schreibt sie seine [Burckhardts] Prosa ab, bald meine Verse, und so sind auch ihr die Tage ausgefüllt und lieb“ – so der Dichter am 4. November 1923 an Irene Hellmann. Aber Gerty ist neben der Fürsorge für die drei gemeinsamen Kinder auch „Mamma“ des Einzelkinds Hugo. Sie „umhegt und unterstützt auch ein dichtendes Wunderkind“ (Ursula Renner), schirmt es ab und vermittelt in vielen Konfliktfällen. Hofmannsthal schreibt am 15. Juni 1918 an Hermann Bahr: „Ich glaube dass Gerty das einzige Wesen auf der Welt ist, die mir ermöglicht, mit diesem Wust von innerer Occupation zugleich ein halbwegs mögliche Leben gegen die Außenwelt hin zu führen.“

Die Sprache der Briefe ist eine eigentümliche Baby- oder Ammensprache mit vielen Verkleinerungsformen, Wendungen aus der Kinderzeit („nitti“ für „nicht“) und vereinfachter oder primitiver Syntax, wie der Brief Hugos vom 19. Oktober 1902 belegt:

Geliebtestes Engerl, ich dank Dir für dein gutes Brieferl und die Photografierl. Ich freu mich so sehr, dass du wirst arbeiterln. Ich thu aber auch dichten, und ob regnet, nitti das mir macht! […] Nachher muss mir der Primoli helfen, ein kleines Bildi zu kaufen, das mir gut gefallt. Denn wer schreibt Stücki, der hat Geldi; wer hat Geldi – und nitti will dass für Cocotten ausgeben!! – der muss kaufen Bildi […] Leb wohl mein Schatz, ich küss deine Augerln , dann dein Stirnerl, dann dein Halserl, dann deine Schultern, dann vorne dein Körperl bis hinunter, langsam mit vielen Küssen.

Ist das nicht der „läppische Biographismus“, dem Hofmannsthal wie oben zitiert „durch Beiseite-Bringen der privaten Briefe und Aufzeichnungen“ entgegenwirken wollte?

Der Verlag wirbt auf der Buchrückseite für den Briefwechsel mit nur einem einzigen Satz von Sandra Kegel, der Literaturchefin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Die erstaunliche Innenansicht einer sehr modernen Ehe.“ Was ist an dieser Ehe mit ihrer traditionellen Arbeitsteilung „sehr modern“? Sie organisiert den Alltag; sie hält ihm, wie man so sagt, den Rücken frei. Die Kinder sind ihre Sache. Die nach einer schweren Geburt zur Welt gekommene Tochter Christiane ist viereinhalb Monate alt, als der Dichter etwas mehr als ein Jahr nach der Hochzeit am 8. Juni 1901 sechs Wochen allein nach Italien zum Arbeiten fährt. Was daran ist „sehr modern“?

Editorisch reiht sich dieser Briefwechsel in die überbordend kommentierten Ausgaben ein, wie das bei den Korrespondenzen mit Rudolf Pannwitz (1993), Rudolf Borchardt (1994/2014), Hermann Bahr (2013), Elsa und Hugo Bruckmann (2014) sowie Alfred Roller/Richard Strauss (2021) der Fall ist. Rund 850 Seiten Briefe stehen fast 1000 Seiten Anhang gegenüber. Ob man – ein mehr oder weniger zufällig ausgewähltes Beispiel – im Kommentar zum Brief Hugos vom 4. Juni 1925, in dem er nebenbei eine „scheußliche Première“ erwähnt, wirklich den Kommentar der Times zu diesem Theaterereignis ausführlich zitieren muss?

Es stellt sich also die Frage nach Aufwand und Ertrag, gehört dieses „briefliche Ferngespräch“ (Ursula Renner) mit seinen vielen Alltäglichkeiten doch sicher nicht zu den bedeutenden Korrespondenzen des Autors, auch wenn es uns den sehr privaten Hugo von Hofmannsthal zeigt. Man darf gespannt sein, wie die anstehende Publikation des Briefwechsels mit seinen Eltern, der rund 1700 Schreiben des Autors umfasst, angelegt sein wird. Die lange Vorbereitungszeit lässt eine hypertrophe Kommentierung erwarten.

Titelbild

Gerty von Hofmannsthal / Hugo von Hofmannsthal: »Bin ich eigentlich jemand, den man heiraten kann?«. Briefwechsel 1896–1929.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2024.
1840 Seiten , 50,00 EUR.
ISBN-13: 9783103974553

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