Freunde oder Feinde?
Zum Tod von Marcel Reich-Ranicki und Martin Walser
Von Thomas Anz
Wenige Wochen vor dem zehnten Todestag Marcel Reich-Ranickis am 18. September 2023 ist Martin Walser gestorben. Die vielen Nachrufe über Walser gehen oft ausführlich auf die konfliktreiche Beziehung zwischen dem Literaturkritiker und dem Schriftsteller ein – mit Erinnerungen vor allem an die umstrittene Rede Walsers zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche, in der er eine „Instrumentalisierung“ des Holocaust ablehnte, von der „Moralkeule Auschwitz“ sprach und einer „Dauerpräsentation der deutschen Schande“.
Die Rede wurde auch als Reaktion auf die Kritik Marcel Reich-Ranickis an Walsers autobiografischem Roman Ein springender Brunnen über eine Kindheit in der Zeit des Nationalsozialismus eingeschätzt. Reich-Ranicki hatte im „Literarischen Quartett“ vom 14. August 1998 zusammen mit anderen bemängelt, dass Auschwitz in dem Buch, dessen Handlung in der NS-Zeit spielte, nicht erwähnt werde: „[…] es ist ums Verrecken niemand da im ganzen Roman, der vielleicht in der SA war oder in der HJ oder im BDM oder wenigstens in der Wehrmacht. Alles, was sich im Dritten Reich abgespielt hat, ist ausgespart aus dem Roman, so gut wie alles […].“ Reich-Ranickis Reaktion auf die Rede Walsers in der Paulskirche war so ambivalent und zwiespältig wie seine Jahrzehnte lange Beziehung zu Walser generell. Anfang Dezember 1998 erschien in der F.A.Z. ein ausführlicher Artikel Reich-Ranickis zu der Rede Walsers und zu den Debatten darüber, in denen Walser auch Antisemitismus vorgeworfen wurde, Debatten mit, so Reich-Ranicki, „drei Protagonisten, die jetzt in der Diskussionsarena stehen“: neben Walser sein Verteidiger, der Jurist und SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi, sowie Ignatz Bubis, damals Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, der Walser „Antisemitismus“ vorwarf.
Es gelinge ihm nicht, schreibt Reich-Ranicki, „die Diskussion, die jetzt stattfindet, als Beobachter von außen kühl zu betrachten und streng zu kritisieren. Damit mag es zusammenhängen, daß ich alle drei Protagonisten, die jetzt in der Diskussionsarena stehen, doch in milderem Licht sehe. Ich habe für sie alle Verständnis, ja Sympathie – und sie tun mir alle leid.“ Und über Martin Walser:
An seinen Romanen und Theaterstücken, über die ich seit 1957 schreibe, habe ich unendlich viel gelitten. Und er hat vielleicht noch mehr an meinen Kritiken seiner Bücher gelitten. Ich weiß schon: Ich habe ihm nicht selten ein Unrecht angetan – und mitunter war er mir gegenüber ungerecht. Aber ich weiß auch: Martin Walser ist kein Antisemit. Noch einmal: Ein Antisemit ist Walser nicht.
Im August 1999 erschien Marcel Reich-Ranickis Autobografie Mein Leben. Auf den letzten Seiten schrieb er dort noch einmal über Walsers Rede, „in der es von vagen Formulierungen und bösartigen Anspielungen wimmelt und von Beschuldigungen, denen die Adressaten fehlen“. Reich-Ranicki verteidigte Walser hier nicht mehr:
Sein trotziges Bekenntnis zum Wegschauen von nationalsozialistischen Verbrechen war, ob er es wollte oder nicht, ein Aufruf zur Nachahmung seines Verhaltens.
Er hat die gefährlichsten deutschen Ressentiments formuliert, er hat wiedergegeben, was an den Stammtischen zu hören ist – und er hat neue Argumente und neue Formulierungen geliefert: für diese Stammtische, für die extreme Rechte und für alle, die aus den unterschiedlichsten Gründen die Juden nicht mögen. […]
Ich will nicht verheimlichen, daß mich Walsers Rede tief getroffen und verletzt hat – nicht zuletzt deshalb, weil sie von einem Schriftsteller verfaßt wurde, dessen Werk ich seit 1957 kommentierend begleite.
Martin Walsers 2002 erschienener Roman Tod eines Kritikers lässt sich als eine Reaktion auf solche Äußerungen Reich-Ranickis lesen. Er ist eine Kulmination von Walsers vielfältigen literarischen Auseinandersetzungen mit Reich-Ranicki und verursachte noch vor seiner Veröffentlichung einen Skandal. Walser hatte ihn prognostiziert und bei seiner Inszenierung selbst kräftig mitgewirkt. Ein Starkritiker verschwindet; unter Mordverdacht steht jener Autor, dessen Werk er am Abend zuvor im Fernsehen disqualifiziert hatte. André Ehrl-König, so der schon in dem Roman Ohne einander erfundene Name des Großkritikers, in dessen Armen, so suggeriert er, die Autoren zugrunde gehen wie das Kind in Goethes Ballade Der Erlkönig, ist wie sein reales Vorbild ein Jude. Ob die in der Sprache des Hasses geschriebene Darstellung dieses so macht- wie sexbesessenen Monsters antisemitische Klischees bedient, darüber ist heftig debattiert und viel geschrieben worden. Der Roman ist zu gewitzt und geschickt konstruiert, als dass er es zuließe, dem Autor Antisemitismus zu unterstellen. Der Mord, so erweist sich am Ende des Romans, hat gar nicht stattgefunden, doch die Wut, mit der hier die Person des Kritikers im Medium diverser Romanfiguren denunziert wird, hat alle Qualitäten eines Rufmordes.
In einer Anfang Juni 2002 ausgestrahlten Fernsehsendung „Solo“ hat Marcel Reich-Ranicki zu Walsers Roman und zu den Reaktionen der Presse Stellung genommen. Seine dortige Empörung über den Roman wurde am 6. Juni in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. Dort stehen die Sätze:
Der Verdacht, seine damalige Rede sei insgeheim antisemitisch gewesen, ist durch seinen neuen, schon von vielen gelesenen, aber eigentlich noch nicht veröffentlichten Roman leider bestätigt worden. Ich habe Walser nie für einen Antisemiten gehalten. Mich interessiert ein ganz anderes Thema, nämlich das Buch. Dieses Buch ist wohl im hohen Maße antisemitisch. […]
Die Mordphantasien in diesem Roman im Zusammenhang mit der Person des jüdischen Kritikers haben meine Frau und mich tief getroffen. Wir sind in unserem langen Leben, wir sind jetzt zweiundachtzig Jahre alt, mit der Absicht, uns zu ermorden, hinreichend konfrontiert worden. Wir sind schon leidgeprüft. Aber dass ein solches Buch von einem bekannten und anerkannten deutschen Schriftsteller im Jahre 2002 geschrieben werden kann, damit haben wir nicht gerechnet.
Reich-Ranicki berichtet hier weiterhin über Walsers Versuch, die vielfach auch freundschaftliche Beziehung zu ihm nicht zu beenden:
In einem Interview hat man Walser vor zwei Tagen gefragt, ob seine Beziehung zu mir – wir kennen uns seit 1958 – nun endgültig beendet sei. Seine Antwort ist zitierenswert. Er hat gesagt: „Von mir aus nicht. Wenn ich ihm persönlich begegnet bin, habe ich mich seinem Charme noch nie entziehen können.“
Reich-Ranicki selbst äußert sich dazu skeptisch. Aber am 22. Februar 2004 erschien in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung im Rahmen der von Volker Weidermann betreuten Serie „Fragen Sie Reich-Ranicki“ eine versöhnlichere Antwort auf die Frage: „Waren Sie früher, bevor Martin Walsers Buch ,Tod eines Kritikers‘ erschien, mit dem Herrn befreundet oder wenigstens bekannt?“ Die Antwort ist eine knappe Schilderung der langjährigen Beziehung zwischen dem Kritiker und dem Schriftsteller:
Ich habe Martin Walser auf der Tagung der „Gruppe 47“ im Herbst 1958 kennengelernt. In den folgenden Jahren habe ich ihn oft bei verschiedenen Gelegenheiten gesehen (unter anderem in der Wohnung des Verlegers Siegfried Unseld). Ich habe oft mit Walser geplaudert, auch noch in den neunziger Jahren. Unvergeßlich sind mir einige Telefongespräche, die übrigens mehr als sechzig Minuten dauerten.
Wir, meine Frau und ich, haben ihn in seinem Haus in Nußdorf am Bodensee besucht, er war ein glänzender Gastgeber. Er wiederum hat uns in unserer Wohnung in Frankfurt besucht. In Walsers Erzählung „Selbstporträt als Kriminalroman“ komme ich als (durchaus sympathische) Schlüsselfigur vor. In der Festschrift aus Anlaß meines sechzigsten Geburtstags findet sich ein ausgezeichnetes Prosastück, das er für mich und über mich geschrieben hat („Ein Traum in West Virginia“).
Daß ich mit Martin Walser befreundet war – nein, das wäre übertrieben, das kann man nicht sagen. Überhaupt ist die Freundschaft zwischen einem Schriftsteller und einem Kritiker beinahe immer sehr schwierig und nur in Ausnahmefällen möglich.
Schon in der Gruppe 47 war die Beziehung zwischen Reich-Ranicki und Walser von spannungsreichen Konflikten geprägt, die von beiden als exemplarisch für die Beziehungen zwischen Schriftstellern und Literaturkritiken eingeschätzt wurden. 1962 veröffentlichte Reich-Ranicki im Almanach der Gruppe 47 einen später mehrfach nachgedruckten Artikel, dessen erster Absatz diese Konflikte so beschreibt:
Am 28. Oktober 1961, kurz nach zwei Uhr morgens – es war auf einer Tagung der „Gruppe 47“ – richtete der deutsche Schriftsteller Martin Walser an den Schreiber dieser Zeilen in Gegenwart mehrerer prominenter Zeugen eine kraftvoll-männliche, militärisch-knappe Ansprache, in der er die Literaturkritiker aller Länder und Zeiten mehrfach und nachdrücklich als „Lumpenhunde“ bezeichnete.
Der Artikel endet allerdings mit Einschätzungen, die für die nicht nur feindschaftliche Beziehung zwischen beiden über Jahrzehnte hinweg kennzeichnend blieb:
Der Antagonismus, der zwischen den Kritisierten und den Kritisierenden besteht und immer bestanden hat, ist nicht so tief und so ernst, wie er zu sein scheint. Wer könnte schließlich mit Sicherheit sagen, ob in jenem heftigen Plädoyer Martin Walsers gegen die Kritik nicht auch herzliche oder vielleicht sogar fast zärtliche Töne verborgen waren? Sicher ist jedenfalls, dass auch er, der Verfasser eines Buches über Franz Kafka, zu uns, den Lumpenhunden, gehört.
Ähnlich ambivalent ist Martin Walsers Beschreibung eines Traums zu Reich-Ranickis 60. Geburtstag, die 1980 in der von Walter Jens herausgegebenen Aufsatzsammlung Literatur und Kritik veröffentlicht wurde. Die Beschreibung beginnt mit den Sätzen:
Er (Marcel Reich-Ranicki) rennt mir im Traum nach und will mit mir reden. Ich bin versucht, darauf einzugehen. Aber ich spüre: wenn ich mit ihm rede, rede ich mit ihm wie immer. Was er mir getan hat, löst sich dann auf in ein intellektuelles Hin und Her. Es ist dann nur noch eine Frage, wer mehr recht hat, er oder ich. Eine Frage also, wer besser formulieren kann. Und darum kann es nicht gehen, das merke ich noch rechtzeitig und renne fort. Auf und ab. Er immer hinter mir her.
Doch der Traum endet mit einem plötzlichen Gefühlswandel:
[…] der, der da hinter mir herrennt, ist gar nicht Reich Ranicki, das bin ich. Ich bin ganz bei dem, der hinter mir herrennt. Ich spüre nur noch, was er empfindet. Ich empfinde nicht mehr den Genuß, ihn nicht herankommen zu lassen. Ich bin der, der hinterherrennt. Der Traum erlischt.
Vor sieben Jahren zitierte Walser in einem Fernsehgespräch der Serie Vis-à-vis einen Beitrag aus dem von Dieter Borchmeyer und Helmuth Kiesel herausgegebenen Buch Der Ernstfall. Martin Walsers „Tod eines Kritikers“ mit dem Satz: „Dieses Buch ist eine Liebeserklärung an Reich-Ranicki.“ Und kommentierte den Satz mit den Worten: „Der hat das richtig erfasst“. Reich-Ranicki selbst hatte am 26. April 1996 im „Literarischen Quartett“ Walsers Roman Finks Krieg als „vollkommen missratenes Buch“ kritisiert, den Autor aber als einen „glanzvollen Schriftsteller“ gepriesen. „Ich schätze, bewundere und liebe Martin Walser seit dreißig, vierzig Jahren.“ Hellmuth Karasek unterbricht ihn: „Mit wechselnder Liebe aber, oder?“ Reich-Ranicki antwortet: „Mit großer Liebe!“ Und er fügt etwas später differenzierend hinzu: als „Essayisten […] von hoher Qualität. Seine erzählenden Sachen halten ich so gut wie alle für nicht gelungen.“
Derartige Ambivalenzen und Zwiespältigkeiten zwischen Liebe und Hass, Lob und Kritik, Freundschaft und Feindschaft prägen die Beziehungsgeschichte zwischen Reich-Ranicki und Walser über Jahrzehnte hinweg. In Mein Leben steht vor den erbitterten Passagen über Walsers Rede in der Paulskirche ein hymnisches Lob:
Martin Walser, einer der intelligentesten Essayisten der deutschen Gegenwartsliteratur, einer der anregendsten und auch wunderlichsten Intellektuellen weit und breit, er, Deutschlands gescheiteste Plaudertasche, er wußte schon, wovon er sprach, als er kurzerhand erklärte, das Urbild der Schriftsteller sei der ägyptische Hirte Psaphon, der den Vögeln beigebracht hat, ihn zu preisen und zu besingen.
Am Ende seiner Rezension von 1993 über Walsers Ohne einander schreibt Reich-Ranicki: „Ach, es ist schon ein Kreuz mit diesem Martin Walser. Aber welch ein Glück, daß wir ihn haben.“
Als Reich-Ranicki am 18. September 2013 gestorben war, veröffentlichte Walser in der ZEIT einen liebenswürdigen Nachruf auf ihn. Er endet so:
Ich habe ihm einmal zu einem Geburtstag einen Vierzeiler geschrieben, der ging so:
Unser Zirkus heißt Kultur
Unsere Nummer ist: Watschen mit Gesang.
Streicheln dürfen wir uns nur
draußen im dunklen Gang.