Wer bin ich und wer kann ich sein?

Anne Freytag ermutigt zu einem Blick hinter die Fassade

Von Julia MöllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Möller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Der krumme Baum lebt sein Leben, der gerade Baum wird ein Brett.“ 

Mit diesem chinesischen Sprichwort beginnt Anne Freytag ihren im Mai 2020 erschienenen Roman Das Gegenteil von Hasen. Die Botschaft dahinter ist unmissverständlich: Man soll zu seiner Unperfektheit stehen. Doch wie schwierig das eigentlich ist, zeigt Freytag auf 416 Seiten mehr als deutlich.

Julia hat sich oft gefragt, wie es wohl wäre, wenn man alles laut sagen würde, was man denkt. […] Aber in diesem Moment wird ihr klar, dass das eigentlich Besondere an Gedanken ist, dass man sich aussuchen kann, mit wem man sie teilt – und ob man es tut. Nicht wie sein Äußeres, das jeder sehen kann, ganz einfach, weil es da ist. Ganz plump und offensichtlich, so wie ihre Brüste an ihrem Oberkörper. Diese sexuelle Ablenkung von ihrem Gesicht.

Julia geht in die 12. Klasse, sie sieht gut aus und ist die Freundin von Leonard, dem beliebtesten Typen der Stufe. Man könnte meinen, ihr Leben liefe perfekt. Doch der Schein trügt, hinter der makellosen Fassade eines umschwärmten Mädchens verstecken sich Selbstzweifel und eine Leere, über die sie mit niemandem reden kann. Denn obwohl sie Mitglied einer angesagten Clique ist, wirkliche Freunde hat sie keine. Das wird ihr bewusst, als sie Edgar kennenlernt. Edgar ist anders, irgendwie tiefer. Mit ihm kann sie die oberflächliche Welt für einen Moment vergessen und so sein, wie sie wirklich ist. Allerdings ist Edgar ein Außenseiter und passt nicht in Julias Scheinwelt. Auch wenn sie sich dafür hasst – Julia möchte ihre Rolle als beliebter Teenager nicht aufgeben.

Und da wusste ich, ich bin ein grauenhafter Mensch. Formbar wie nasser Ton. Dieses Ich, das ich wie eine Maske trage. Das sich anfühlt, wie in einen Spiegel zu schauen und sich darin nicht wieder zu erkennen.

Um sich von der Last ihrer erdrückenden Gefühle zu befreien, führt Julia online Tagebuch. Damit niemand sehen kann, was sie wirklich von ihren Freunden hält, sind ihre Einträge auf privat gestellt. Nur hier, inmitten ungefilterter, roher Gedanken hat sie die Freiheit, sie selbst zu sein. Doch diese Freiheit wird ihr mit einem Schlag genommen, als sich ein Unbekannter Zugang zu ihrem Laptop verschafft und all den Schwall aus intimsten Gedanken über ihre Mitschüler Stück für Stück veröffentlicht.

Bereits vom ersten Kapitel an wird man in eine Welt hineingezogen, die von Problemen und Selbstfindungskrisen nur so überquillt. Hierbei schafft die Autorin Identifikationspotential. Beim Lesen taucht man in die Gefühlswelt der Jugendlichen ein, die Erzählung ist abwechslungsreich und intensiv, da ständig der Blickwinkel gewechselt wird. Es gibt keinen typischen Ich-Erzähler, der einen an die Hand nimmt und durch die Handlung geleitet. Genau wie im echten Leben muss man hier seinen eigenen Weg gehen.

Inmitten einer lebhaften Innenperspektive, die aus gegenseitigen Anschuldigungen, Vorwürfen und verwirrender Gefühle besteht, versucht man als Leser herauszufinden, wer für all das Chaos verantwortlich ist. Wer ist der Unbekannte, der nicht nur Julias, sondern die gesamte Schweinwelt der Stufe auf den Kopf gestellt hat? Stück für Stück erfährt man neue Details und Geheimnisse der Teenager, diese werden aber immer nur aus dem Kopf der Person berichtet, aus deren Perspektive gerade erzählt wird. Dadurch kommt bloß ein weiterer, subjektiver Teil, aber nie die ganze Wahrheit ans Licht. Was zu Beginn verwirrend ist, wird von Seite zu Seite immer fesselnder und man muss sich selbst bremsen, den sowohl inhaltlich als auch stilistisch gelungenen Roman nicht binnen weniger Stunden durchzulesen.

Die bildhafte, aber nicht in Teenager-Slang abdriftende, ungefilterte Sprache und die eingeflochtenen Chatprotokolle, Songtexte und Gesprächsaufzeichnungen erinnern an Popliteratur, machen den Roman authentisch und lassen die Handlung zu keiner Zeit konstruiert wirken. Trotz aller Ernsthaftigkeit kommt der Humor nicht zu kurz, Passagen zum Schmunzeln erwarten einen zuhauf.

Lediglich der Titel ist nicht gut durchdacht. Der Bezug zu einem Hasen findet sich nur am Rande und stellt kein wesentliches Element der Handlung dar. Darüber hinaus wirkt der Roman auf den ersten Blick sehr feminin. Ein babyblaues Buchcover mit verzierter Schrift und einem flauschigen, süß guckenden Vierbeiner könnte männliche Leser abschrecken. Doch auch hier lohnt sich ein Blick hinter die Fassade, denn der Roman ist keineswegs nur an eine weibliche Leserschaft gerichtet. 

Freytag hat ein spannendes und zugleich sehr authentisches Werk geschaffen, das wichtige Themen wie Sexualität, Schönheitsideale und Mobbing unverfälscht darstellt und nicht nur für Jugendliche von Belang ist – auch Erwachsene fühlen sich angesprochen. Der Roman besitzt einen Mehrwert, den nicht viele Bücher haben, denn er löst etwas beim Leser aus. Die Frage, welchen Platz man in der Gesellschaft einnehmen möchte, kennt keine Altersbegrenzung und die Erkenntnis, wie viel Schaden Worte anrichten können, bleibt auch noch weit nach der Lektüre im Kopf.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Anne Freytag: Das Gegenteil von Hasen. Roman.
Heyne Verlag, München 2020.
416 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783453272804

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch