Emotionale Odyssee in den Wäldern Minnesotas

„Eine Geschichte der Wölfe“ von Emily Fridlund

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Etwas mit Wölfen“ wolle sie für die Geschichtsodyssee der Schule machen – das sagt Linda, die Ich-Erzählerin, ihrem Geschichtslehrer Mr. Grierson, der wenig später der Pädophilie bezichtigt wird und die Schule verlassen muss. Lindas Mitschülerin Lily ist nach diesem Skandal spurlos verschwunden. Linda selbst erhält den „Originalitätspreis“ für ihre Präsentation. Diesen könnte man Lindas Schöpferin Emily Fridlund, die mit ihrem Romanerstling im Jahr 2017 auf der Shortlist des Booker Prize stand, ebenfalls verleihen.

Die 14-jährige Linda lebt mit ihren Eltern, die als einzige von einer ehemaligen Hippie-Kommune übriggeblieben sind, am Ufer eines Sees in den Wäldern Minnesotas. Vier Hunde, dabei kein Auto, sondern nur ein heruntergekommenes Quad, sorgen dafür, dass Linda sich in ihren Ferien zwar völlig der Naturerfahrung überlassen kann, sie gleichzeitig aber die freie Zeit als zähes Fluidum erfährt. Eines Tages, nach dem Skandal mit Mr. Grierson und Lily, zieht eine zweite Familie in die Einöde. Am gegenüberliegenden Seeufer wohnen nun Patra und ihr vierjähriger Sohn Paul, später kommt der Vater hinzu. Er ist ein Astronom, dessen Denken von der Sekte Christian Science geprägt wird. Linda passt regelmäßig auf den kleinen Paul auf und unternimmt schließlich mit der ganzen Familie eine Wochenendreise. Am Ziel angekommen, wundert sie sich, weshalb Paul eine Aura von süßlichem Duft umgibt. Die Eltern – so erfährt Linda später – haben die Ratschläge der Ärzte, ihren Sohn von Spezialisten untersuchen und behandeln zu lassen, nicht befolgt. Paul stirbt an diabetischer Ketoazidose, Linda ist in der nachfolgenden Gerichtsverhandlung als Zeugin geladen.

Die bis zum Schluss im Vagen verbleibende Aufklärung durch das Erzähler-Ich heraus verläuft alles andere als linear. Zwar ist von Anfang an klar, dass eine Gerichtsverhandlung stattgefunden hat, doch die Mixtur aus Vorausdeutungen und Rückblenden ergeben ein wohl subtiles, aber äußerst konfuses Geflecht aus Sprüngen zwischen den verschiedenen Zeitebenen. Sehr gelungen, mitunter indessen ebenfalls leicht verwirrend, wirkt die Zersplitterung des erlebenden Ichs, das über unterschiedliche Altersstufen schreibt, die sich nicht zu einer lückenlosen Biographie fügen. Zum Zeitpunkt des Schreibens, so lässt sich aus Textstellen folgern, in denen Linda über den Tod ihres Vaters berichtet, ist sie 38 Jahre alt. Später, als es um die Mutter und ihre Probleme, alleine zu leben, geht, liegt es nahe, die Protagonistin einige Jahre älter einzustufen. Wie so oft im Verlauf des Textes, offenbaren sich auch hier Leerstellen. Vielleicht gebe es eine Möglichkeit, „alles von oben zu betrachten, von so einer Art Leiter oder Erkenntnis, einem Aussichtspunkt, der einen klaren, unverstellten Blick auf die Dinge“ biete – manchen Menschen falle das leicht, so Linda, der es exakt an dieser integrierenden und auf die Totalität des Romans zu übertragenden Gesamtperspektive mangelt. Viele Episoden der Erinnerung generieren ein Buch der Unruhe, des Aufspürens, des Suchens, der Unsicherheiten. Viele Mosaiksteinchen fügen sich zu einer Art „Coming-of-Age-Roman“, der eine Entwicklung eskortiert, die ins Leere läuft und eine Kreisstruktur beschreibt, die von den Wäldern ausgeht und in ebendiese wieder einmündet. Es ist die Geschichte einer Frau, die sich von den verstörenden Ereignissen ihrer Jugend nicht befreien kann.

Wenn sich Linda brennend für Wölfe interessiert, dann führt sie einen der beiden Pole ein, zwischen denen sich der Roman entfaltet: Wölfe symbolisieren das Archaische, Ungezügelte, Unkultivierte, eine Macht, die den Menschen vereinnahmen kann und sich im Da-Seienden und Ursprünglichen der Natur, hier insbesondere in den Wäldern, manifestiert. Dem gegenüber steht die Option, das Ursprüngliche zu kultivieren – entweder ganz pragmatisch damit umzugehen oder es schlichtweg zu negieren. Linda lernt sehr früh, Fische zu töten und sie zuzubereiten, sie partizipiert an der Selbstversorgungsmentalität ihrer Eltern. Später begegnet ihr die zweite Möglichkeit, mit der Natur, mit dem Da-Seienden, klarzukommen: Laut der Christian Science existieren nur die Gedanken, denn es kommt nicht darauf an, „was man tut, sondern darauf, was man denkt“. Sogar Himmel und Hölle sind demnach „Geisteseinstellungen“.

Diese Gemengelage, basierend auf der Opposition von Chaos und Ordo, Natur und Kultur, konkretisiert sich in den Szenen des Essens, denn der archaischen, oralen Komponente des Verschlingens, des „In-den-Rachen-werfens“, steht die Enkulturation der Nahrung durch ihre Zubereitung gegenüber. Die französische Zwiebelsuppe, die in einem kopfgroßen Brotlaib serviert wird und vor allem Milch und Pfannkuchen als letzte, aberrante Mahlzeit für Paul (wenig später stirbt er an den Vergiftungen seines Körpers) symbolisieren eine Lust an präreflexiver Ursprünglichkeit, die mit einem Akt der Eucharistie und Katharsis einhergeht.

Im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur steht Lindas pragmatischer Kompetenz ein nur spärliches Maß an emotionaler Kompetenz und eine ebenso recht geringe kognitive Kompetenz gegenüber. Die Lebenspraxis des naiven Naturkindes verhält sich diskrepant zu der emotionalen Unreife, die auch noch im erzählenden Ich dominiert: es beobachtet, bleibt aber unfähig zu deuten, verliert sich immer wieder im Verwirrspiel der vielen Eindrücke, die in den Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen auf das erlebende Ich einprasseln. Dies gilt für Mr. Grierson und seine Beziehung zu Lily, Lindas Identifikation mit Lily in einem Brief gegen Ende des Romans, ebenso für Paul, ein „puer senex“, der mit Phrasen wie „Alles ist Verstand“ oder „Der liebe Gott ist überall“ unterstreicht, wie indoktriniert er bereits ist. Ähnlich verhält es sich mit Pauls Vater, der versucht, Linda seine Ideologie aufzudrängen. Sogar ihre Eltern – die Mutter, eine Art sanfte „Rebellin vom Dienst“ und der eher lakonische Vater, der stundenlang Baseballspiele im Radio hört – bleiben intransparent, wirken wenig plastisch, eher definitiv etikettiert von ihrer Hippie-Vergangenheit. Authentisch treten zwar die Schuldgefühle auf, unter denen Linda in späteren Jahren immer wieder zu leiden hat, die Frage, ob sie vielleicht doch etwas gegen Pauls Tod hätte unternehmen können, aber auch diesen stellt sie sich nur bedingt, kaum direkt, sondern vorwiegend in der Vermittlung über eine sehr minutiös dargebotene anthropomorphisierte Natur. Diese punktgenauen Beobachtungen geschehen nicht selten in einer leichtfüßigen Metaphorik, so etwa „Lawine aus Pappelflaum“ oder „Eiszapfen, die blauschwarzes Wasser ausschwitzen“. Über allem anderen intoniert Linda und mit ihr Fridlund eine Hymne auf die Wälder, „eine Art Schule, in der es nicht ums Nachdenken ging, sondern nur ums Betrachten und Dahinwandern“. Linda registriert, nimmt wahr, ist aber unfähig, die Eindrücke zu filtern und zu prozessieren. Man ist versucht, das Betrachten und Dahinwandern auf den Roman als Ganzes zu beziehen, es in Analogie zu setzen zu einem Betrachten und Dahinwandern in einem Text, der zwar mit einem poetischen und ausgefeilten Stil brilliert, der aber weder im Original noch in der hervorragenden Übersetzung ins Deutsche überkandidelt oder hypertroph elaboriert wirkt.

In einem kurzen Nachwort legt Emily Fridlund ihre Quellen offen: Viele Fallbeispiele aus einem authentischen Bericht über Christian Science habe sie in der Figur des Kindes Paul intensiviert. Das Manuskript habe sie außerdem unter medizinischen Gesichtspunkten durchsehen lassen, um das Krankheitsbild der diabetischen Ketoazidose und das dadurch ausgelöste Hirnödem nicht unglaubhaft wirken zu lassen. Dadurch ist ein solider, realistischer Roman entstanden. Eine den ganzen Text durchziehende Aura des Opaken spricht noch eine andere Sprache, denn fantastische Überblendungen, Elemente des Unheimlichen, markieren eine Art „surreal turn“, was andere Intertexte, etwa das Bilderbuch Wo die wilden Kerle wohnen von Maurice Sendak und Die Drehung der Schraube von Henry James, belegen. Das Unheimliche in seiner reinen Form, nicht übernatürlich, sondern die ungezähmten Triebe eines Freudschen Es umfassend, schlummernd unter der Oberfläche des Zivilisierten, passt zu den Wölfen, für die Linda sich begeistert.

Eine Geschichte der Wölfe ist nicht uninteressant, wenngleich sich die Handlung streckenweise ein wenig dahinschleppt und mitunter wenig kohärent wirkt. Viele Versatzstücke, unter anderem in nahezu freier Assoziation aneinandergereiht, erwecken den Eindruck eines nur locker zusammengehaltenen Flickwerks. So schreitet die Entwicklung der Protagonistin kaum voran. Trotz vieler Details bleibt sie erstaunlich blass und – so lässt sich mutmaßen – begreift ihre Selbstfindung, ihre Initiation in das Erwachsenenleben als „never ending story“. Beim Lesen meint man die Schwüle vor einem Gewitter zu spüren: alles ist verlangsamt, voller lauernder Spannung. Dieser Zustand ist auf Dauer gestellt und nur irgendwie und vor allem unangemessen unspektakulär fügt sich die Katastrophe um Paul in diese Konstruktion ein. Das Skandalon eines krassen, tödlich endenden Falls von Kindesvernachlässigung vermittelt sich beim Lesen nur bedingt.

Fridlund hat ein hervorragendes erstes Kapitel verfasst, für das sie vor der Fertigstellung des Romans einen Extrapreis erhielt. Die hohen Erwartungen, die sich daraus ergeben, werden indessen nur sporadisch erfüllt.

Titelbild

Emily Fridlund: Eine Geschichte der Wölfe. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Stephan Johann Kleiner.
Berlin Verlag, Berlin 2018.
372 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783827013675

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