„Friedrich Schiller und die Politik“

Zum historisch-gesellschaftlichen Ort und zur literarisch-politischen Aktualität des letzten Werkes von Walter Müller-Seidel

Von Gert SautermeisterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gert Sautermeister

Die Klassik Friedrich Schillers — das war für Walter Müller-Seidel seit jeher ein Feld wissenschaftlicher Selbsterprobung, aber auch ein Medium eigenen Bewusstseinswandels. Seit seiner Schiller-Dissertation im Jahre 1949 bis zu seiner Schiller-Monographie von 2009 zählt dieser Schriftsteller zu seinen bevorzugten Lektüre- und Forschungsgegenständen. In einer Vortragsreihe mit dem Titel Dichter, den ich meine in der „Bayerischen Akademie der Wissenschaften“ hat sich Müller-Seidel 1996 an seinen „jahrzehntelangen Umgang mit dem Werk Schillers“ erinnert, an „die wiederholte, durch Forschung, Lehre und Liebhaberei bedingte Einkehr bei ihm“[1], und einen der Gründe dafür genannt: die „Moderne im deutschen Sprachgebiet“ habe „ihren Ursprung“ in der Klassik, insbesondere im Schrifttum Schillers.[2] Manche Überlegung aus diesem Vortrag wie auch aus anderen Schiller-Aufsätzen Müller-Seidels haben in sein letztes Werk Eingang gefunden — und dennoch ist es ein Werk sui generis, mit unverwechselbarem Profil, interdisziplinär, aufklärend und bekenntnishaft, vielerorts einer terra incognita zugewandt.[3]

Interdisziplinäres Erkenntnisinteresse. Literarhistorische Präludien

Eine Schlüsselerfahrung Müller-Seidels ist die Entdeckung, wie nachhaltig Schiller während der Französischen Revolution durch die Hinrichtung Ludwigs XVI. im Januar 1793 und andere „blutige Exzesse“ (S. 21)[4] erschüttert wurde, wie nachdrücklich dieses Erlebnis seine Korrespondenz prägte, aber auch seinen Blick auf die Zeitgeschichte wachhielt und sein dramatisches Schaffen beeinflusste.

„Was sprichst du zu den französischen Sachen? Ich habe wirklich eine Schrift für den König schon angefangen gehabt, aber es wurde mir nicht wohl darüber (…). Ich kann seit 14 Tagen keine französischen Zeitungen mehr lesen, so ekeln diese Schindersknechte mich an“, schreibt Schiller am 8. Februar 1793 an seinen Freund Körner.[5] Damit intoniert Schiller die Empörung, die fast alle deutschen Schriftsteller von Klopstock bis zu den Romantikern nach dem anfänglichen Enthusiasmus für die Französische Revolution ergriffen hatte.— Wie viele andere steht Schiller „unter dem Eindruck des revolutionären Terrors (…) auch ihm (gilt) die Enthauptung des Königs als das entscheidende Ereignis, das den Umschlag von Vernunft und Freiheit in blutige Gewalt besiegelt und die Ideen der Revolution unter sich begraben hat.“[6]

Angesichts der jakobinischen „terreur“-Aktionen entschließt sich Schiller, anstelle der Verteidigungsschrift zugunsten des französischen Königs ein erzieherisches Werk zu verfassen, das langfristig die politische Gewalt überwinden müsste durch die „Rücksicht auf fremde Freiheit“ (S. 14). Der Weg dazu, so Schiller, müsste über die Tiefenwirkung des Schönen und der Schönheit auf Geist und Psyche des Menschen führen. So entsteht denn — und das scheint mir ein wichtiger Hinweis Müller-Seidels zu sein — unter Schillers überwältigendem Erlebnis der Hinrichtung des französischen Königs und weiterer Enthauptungen seine „politische Ästhetik“ (S. 13), die berühmten „Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“.

Das „Weltereignis der Hinrichtung“ Ludwigs XVI., wie Müller-Seidel das Geschehen in Paris nennt (vgl. Kap. I seines Buches), enthält für Schiller weitere überraschende Dimensionen. Sie sind interdisziplinärer, biographischer und poetologischer Natur. Die Jakobiner um Robespierre hatten den französischen König zum Tyrannen erklärt und sich bei ihrem „Tyrannenmord“ „auf das Recht zum Widerstand berufen“ (S. 15). Schiller teilte dieses Urteil keineswegs; er wollte nicht etwa das monarchische Prinzip legitimieren, das durchaus kritikwürdig war, aber der französische Monarch hatte bei aller kritikwürdigen Regierungstätigkeit sein Lebensrecht doch keinesfalls verwirkt. An diesem Punkt setzt Müller-Seidels interdisziplinäre Fragestellung ein.[7] Sie lautet: Inwiefern entspricht Schillers politische Erschütterung der politischen Philosophie seiner eigenen Zeit? Welche Stellung beziehen repräsentative Geister, namentlich Kant und Kantianer wie Christian Garve, Friedrich von Gentz oder Anselm von Feuerbach, zur jakobinischen Hinrichtung?

Kant selbst hatte als „Widerstandsrecht“ gegen staatliche Herrschaft nur die „Freiheit der Feder“, nicht aber die physische und bewaffnete Gewalt gutgeheißen, eine Überzeugung, die Schiller und maßgebliche Denker der Zeit mit ihm teilten. Nur wenige andere wie der Arzt und Schriftsteller Johann Benjamin Erhard zählten zu den „Menschenrechten“ (S. 28) auch das „Recht auf Revolution“, sofern diese vor dem „Gerichtshof der Moral“ begründbar war (S. 29).

Diesem Einblick in die zeitgenössische politische Philosophie lässt Müller-Seidel einen Rückblick auf die abendländische Geistesgeschichte folgen. Seine interdisziplinäre Fragestellung erweitert den französisch-deutschen Raum des Widerstandsrechts bzw. des Widerstandsverbots zu einem europäischen Panorama seit der griechisch-römischen Antike. Ein breit angelegtes, extensives Unterfangen, dem der Autor durch eine exemplarische Auswahl gerecht wird. Er bezieht Schillers Auseinandersetzung mit dem Tyrannenmord auf eine über zwei Jahrtausende alte Pro- und Contra-Kontroverse staatsphilosophischer und staatsrechtlicher Provenienz. Die griechische Antike präsentiert er durch die politische Philosophie Platons und des Aristoteles, die staatliche Herrschaft auf die Weisheit der Philosophie und auf die Ethik des Gemeinwohls gründen und an Tyrannen Kritik üben, die sich auf Eigennutz, Hybris und Gesetzesbrüche stützen, weshalb der Tyrannenmord in der Antike als Befreiungsakt begrüßt werden konnte. Hier gewann eine selbstbewusste, dem Gemeinwesen verpflichtete Staatsphilosophie Raum, die sich vorteilhaft abhebt von den neuzeitlichen Entwürfen eines Machiavelli und eines Thomas Hobbes, die Politik und Moral strikt voneinander trennen und der staatlichen Herrschaft zum Nachteil der Untertanen freie Bahn eröffnen, so dass Phänomene wie die „Staatsraison“ politische Handlungsmaxime werden, zum Missfallen von namhaften Kritikern einer „absolutistischen Herrschaftsform“ wie David Hume und John Locke (S. 44).— Solche ideologischen Gegensätze konkretisiert Müller-Seidel durch Hinweise auf die Gattung des Dramas, das von Seneca bis zum barocken Märtyrertheater und Shakespeares politischen Schauspielen tyrannische Herrschaft mit stoischem Selbstopfer bzw. Märtyrertum und leidendem Heldentum konfrontiert. Das interdisziplinäre Erkenntnisinteresse des Verfassers geht von der politischen Philosophie zur Literatur über, die der Theorie Anschaulichkeit und individuelle Prägung verleiht. Müller-Seidel skizziert mit seinem Brückenschlag von der Politologie zum Drama Generallinien, die gleichsam als Skizze für Habilitationsschriften dienen könnten — für suchende Wissenschaftler. Für interessierte Leser bietet sein philosophisch-politisches und gleichzeitig literarhistorisches Kapitel die Gelegenheit, zwanglos ihren Wissens- und Bildungshorizont zu erweitern und ein europäisches Grundphänomen wie staatliche Herrschaft und Widerstandsrecht von der Antike bis in die neueste Zeit zu verfolgen. Denn Müller-Seidel vergegenwärtigt diese Phänomene, wie wir sehen werden, bis an die Schwelle unserer Gegenwart — motiviert wohl auch durch seine politischen Bildungsabsichten.

Sein Weg durch die Philosophie- und Literaturgeschichte Europas in den ersten Kapiteln zieht sich bis zu Schillers Anfängen. Im Hinblick auf dessen Biographie charakterisiert er die Erfahrungen, die Schiller mit tyrannischen Zügen des württembergischen Landesherrn Karl Eugen machte, Erfahrungen, die Schillers literarisch-historisches Interesse frühzeitig auf politische Tyrannen und auf die Rebellion gegen sie lenkten, wie seine frühen Dramen von den Räubern bis zum Don Karlos bezeugen. Die Hinrichtung des französischen Königs hat dieses Interesse aufs Neue belebt und Schiller veranlasst, den Motivkomplex „Tyrannenmord“ auf den Prüfstand zu stellen und nach den Voraussetzungen des Widerstandsrechts zu fragen. Im sogenannten Balladenjahr 1797 wird Schiller, so Müller-Seidels These, den Tyrannenmord indirekt als Thema aufgreifen, allerdings nicht, um seinen Vollzug, sondern um seine Verhinderung darzustellen. Müller-Seidel erblickt darin gleichsam ein Echo auf die Erschütterung, die Schiller durch die Hinrichtung Ludwigs des XVI. erlebt hatte.

Allerdings war diese Hinrichtung, wie der Verfasser betont, für Schiller „nicht letzter Bezugspunkt, was Zeitstimmung und zeitgeschichtlichen Kontext angeht. Das Interesse an der späteren Zeitgeschichte über Revolution und Königsmord hinaus nimmt ihn nicht weniger in Anspruch als die Tötungsexzesse in der Zeit der Schreckensherrschaft. Schillers Dramen ohne die zeitgeschichtlichen Bezüge verstehen zu wollen, kommt mir hermeneutisch verwegen vor.“ (S. 20)

Solche ‚Verwegenheit’ hat die Schiller-Forschung wiederholt riskiert. Das mag erstaunen, ja befremden, gehören doch die Werke Schillers zu den meist untersuchten der deutschen Literatur. Aber die Gattung des historischen Dramas wurde bislang einseitig auf seinen historischen Hintergrund hin ausgeleuchtet, weniger auf aktuelle zeitpolitische Dimensionen. Diese treten bei Müller-Seidel eindringlich hervor. Die Analysen der Werke gewinnen an Überzeugungskraft durch ihre Einbettung in den zeitgeschichtlichen Kontext. Namentlich den unsicheren „Friedensschlüssen“ in Europa in den Jahren vor und nach 1800 gilt Müller-Seidels Augenmerk, sind sie doch häufig nur „Waffenstillstände“, um Kants kritischen Begriff in seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795) zu verwenden, weshalb Müller-Seidel entgegen einem verbreiteten Klassik-Bild skeptisch anmerkt: „Es sind rauhe Zeiten, die Jahre der Weimarer Klassik, und es geht in Europa, wohin man auch sieht, sehr stürmisch und sehr kriegerisch zu“. (S. 21)

Bevor Müller-Seidel sich den klassischen Dramen Schillers zuwendet, deren kritische Beziehung zur Französischen Revolution und der davon geprägten Zeitgeschichte er offenlegt, zeigt er am Beispiel der Räuber Schillers frühes, biographisch motiviertes Interesse an Formen des „Tyrannentums“ (S. 34) auf. Auffällig ist die einlässliche Diskussion des Forschungsstandes, die Müller-Seidel von Werk zu Werk entwickelt. Angesichts der viel beklagten Fülle an Publikationen ist das wahrlich keine Selbstverständlichkeit, zumal nach der reichen Ernte des Schiller-Jahres von 2006. Standardwerke wie die zweibändige Schiller-Monographie von Peter-André Alt (2000) bilden für Müller-Seidel einen unhintergehbaren Bezugspunkt. Er vertraut der Einsicht, dass sich gerade im engen Kontakt mit der überlieferten Forschung neue Wege aufzeigen lassen. So reicht seine Rezeptionsgeschichte der Räuber bis in die Weimarer Republik zurück, wobei die auf der Theaterbühne erprobten revolutionären Deutungen des Stücks sich scharf abheben von späteren, literaturwissenschaftlichen Interpretationen, die etwa das biblische Gleichnis vom verlorenen Sohn zum Dreh- und Angelpunkt des Schauspiels erheben. Als kennzeichnend für das von Schiller entwickelte Gesellschaftsbild der Räuber hebt Müller-Seidel das tyrannische Machtbegehren des Franz Moor hervor. Es basiert auf einer Körper- und Seelenkunde, deren neueste Erkenntnisse Moor zur Tötung des eigenen Vaters einsetzt. Insofern nimmt er, Müller-Seidel zufolge, den Werte-Nihilismus Nietzsches vorweg und ist Vorläufer des „literarischen Nihilismus im 19. und 20. Jahrhundert“ (S. 75). Moderne Züge dieser Art im Drama Schillers freizulegen, gehört zu den Erkenntnisinteressen Müller-Seidels.

Für die Katastrophe, die der Tyrann Franz Moor verschuldet, büßt er durch Selbstmord. Dessen Ursache ist die Last des peinigenden Gewissens, die der Pastor Moser ihm aufbürdet. Darin spiegelt sich offensichtlich Schillers Stellung zum Problem einer Tyrannis, die sich jeder moralischen und religiösen Legitimität beraubt hat — und gerade deshalb von religiöser Gewissensmacht hingerichtet wird, nicht etwa durch physische Gewalt. Bei dieser beruhigend anmutenden Theodizee lässt es Müller-Seidel keineswegs bewenden, er lässt sie vielmehr in Anthropologie übergehen, insofern er die Anmaßung der Macht verallgemeinernd als „Machttrieb im Menschen“ auffasst (S. 84), „als das Tyrannische in uns“ (ebd.). „Kein Wertesystem der Welt“, so sein abschließendes Resümé, „bleibt von diesem Trieb verschont. Glaube, Kunst und Wissenschaft können in den Sog dieses Triebs geraten.“ (ebd.) Hier äußert sich eine weitreichende Skepsis, die in eine existentielle, den Leser herausfordernde Fragestellung mündet.

Es zeichnet Müller-Seidels Interpretation der Räuber aus, dass sie auch unterschätzte und verkannte Nebenfiguren wie Spiegelberg und Amalia würdigt, deren Existenz er als die von sozial „Ausgegrenzten“ in einer „gespaltenen“ Gesellschaft begreift (S. 71f.). Es zeichnet seine Figurenanalyse ferner aus, dass sie die ältere Forschungsthese von der grundlegenden Verschiedenheit der Brüder Moor souverän zurückweist, aber auch die neuere Auffassung ihrer weitreichenden Verwandtschaft behutsam differenziert.

Die klassischen Dramen. Die „doppelte Optik der zeitlichen Bezüge“

Schillers ästhetisches Verfahren, im historischen Drama anhand vergangener Ereignisse seine eigene Zeit kritisch zu spiegeln, nennt Müller-Seidel mit einer prägnanten Formel die „doppelte Optik der zeitlichen Bezüge“ (S. 152) Was ist darunter zu verstehen? Einige Streiflichter aus ausgewählten Dramen-Analysen Müller-Seidels mögen die Formel erhellen. Schillers Wallenstein-Trilogie, die im Dreißigjährigen Krieg spielt, wird von Müller-Seidel energischer als je zuvor in der Forschung mit der Zeit um 1800 in Verbindung gebracht, als Deutschland und andere Länder Europas von der napoleonischen Fremdherrschaft bedroht und eingekreist waren. Es sind vor allem zwei Ideen Wallensteins, die Müller-Seidel auf die politische Situation Deutschlands und der europäischen Verhältnisse um 1800 bezieht: die Idee eines Reiches, das anstelle von Fremdherrschaft auf nationale Selbstbestimmung pocht, und die Idee des Friedens, die Wallenstein ursprünglich vertritt und die namentlich sein jugendlicher Weggefährte Max Piccolomini verkörpert: Angesichts des von Napoleons Kriegen und von unsoliden Friedensschlüssen gepeinigten Europa zeichnet sich hier die zeitpolitische Signatur des Dramas ab. Solange die Forschung, wie Müller-Seidel schreibt, „mit der individuellen Person Wallensteins befaßt“ war (S. 132), konnte die hintergründige „Zeitgeschichte“ kaum Profil gewinnen (ebd.). Während die Schiller-Forschung den „Charakter“ Wallensteins vorzugsweise in wechselnden Festlegungen umkreiste — richtet Müller-Seidel den Blick auf die Wandlungen des Protagonisten (S. 132f.) — Wandlungen, die er als Analogon zum „Wandel in Geschichte und Gesellschaft“ begreift, wie er durch die Französische Revolution ausgelöst wurde (S. 133f.).

Zur Sprache kommt vor allem der „Bewußtseinswandel“ Wallensteins, den Müller-Seidel als einen „Erkenntnisprozeß“ versteht (S. 130). In diesem Prozess lassen sich, so seine These, „Stufen und Stationen“ ausmachen, die dem großen Feldherrn ein höheres Maß an „Menschlichkeit“ verbürgen als bisher angenommen wurde (S. 129f.). So einsichtsvoll diese Überlegung vom Finale des Dramas her ist, wenn Wallensteins bewegende Todesklage um Max Piccolomini anhebt, so setzt der Protagonist doch auch, wie mir scheint, seinem Bewusstseins- und Erkenntnisprozess beunruhigend enge Grenzen. Obgleich er im Monolog und Dialog das drohende Bündnis mit dem Reichsfeind, den Schweden, unnachsichtig kritisiert, verfällt er dennoch der Versuchung, dieses Bündnis letztendlich zu rechtfertigen und damit einen Bürgerkrieg im Reichsinneren auszulösen, der seiner ursprünglichen Friedensidee den Boden entzieht.

Die „doppelte Optik der zeitlichen Bezüge“, also die Spiegelung der Gegenwart im Gewand historischen Geschehens,[8] wird beispielhaft in der Jungfrau von Orleans anschaulich. Der im Hundertjährigen Krieg ausgetragene Kampf der Franzosen gegen die tyrannische Fremdherrschaft der Engländer ist auf den deutschen Bühnen von Schillers Zeit zu besichtigen: Er dient als Appell an die Deutschen, sich die Selbstbestimmung der Franzosen von damals anzueignen und ihrerseits der aktuell drohenden französischen Fremdherrschaft entgegen zu treten. Den Franzosen unter Napoleon wird der Spiegel ihrer um Selbstbestimmung ringenden Väter vorgehalten; den unter der gegenwärtigen Fremdherrschaft der Franzosen leidenden Deutschen wird ein Beispiel entschlossener Selbstbestimmung präsentiert. Die doppelte, sowohl historische wie gegenwartsbezogene Optik — Schiller handhabt sie virtuos als Medium politischer Aufklärung, wie Müller-Seidel demonstriert.[9] Schiller scheut vor der Einsicht in Paradoxien nicht zurück und verlangt seinem zeitgenössischen Publikum einiges an geistiger und seelischer Anstrengung ab — die Erkenntnis vor allem, dass kriegerisches und für eine befristete Zeit unmenschliches Handeln nötig sein kann, damit ein Land die höhere Menschlichkeit gewinnt, die erst im Rahmen nationaler Selbstbestimmung möglich wird. Die Tyrannei der Fremdbestimmung ruft das Widerstandsrecht und damit den Tyrannenmord auf den Plan.

Die andere Paradoxie, der Müller-Seidels Interesse gilt, ist psychologischer Natur. Zwar ist kriegerisches Handeln gegen den tyrannischen Feind unverzichtbar und kann für eine begrenzte Zeit Unmenschlichkeit einschließen, aber nicht weniger unverzichtbar ist auch die zeitweilige Unfähigkeit des Handelns: Sie birgt die Chance der Erkenntnis des Feinds und der eigenen Psyche. Indem Johanna und ihr Feind, der Engländer Lionel, sich wechselseitig erblicken und davon „im Innersten getroffen“ werden (ebd.), verwandelt sich ihr Feindbild in Liebe. Die Erfahrung der Liebe ist das Rätsel, das die festgeronnenen Feindbilder auflösen und auf ein Drittes, eine Verbundenheit hindeuten kann, die jenseits kriegerischen Handelns möglich wäre. Im „Sicherblicken“ sieht Müller-Seidel „Wahrnehmungen des Unbewußten“ (S. 169), die er ähnlich bei Kleist und E.T.A. Hoffmann vorfindet und als Signaturen der Epoche begreift. Das wäre die utopische Innenseite der in politischen Vorgängen gefangenen menschlichen Verhältnisse und Verhängnisse. Neben zeitpolitischen Signaturen erkundet Müller-Seidel in seinen Dramenanalysen auch psychologisch aufschlussreiche Zeichen der Zeit.

Zeitpolitische Zeichen entziffert Müller-Seidel überraschend auch in der Maria Stuart. Obgleich die Handlung im England des 16. Jahrhunderts spielt, vermag Müller-Seidel sie auf Schillers Epoche hin transparent zu machen und typische Züge tyrannischer Herrschaft zu entschleiern. Was die schottische Königin Maria Stuart, die nach England geflohen ist, an Schutz und Fürsorge von ihrer nahen Verwandten, Königin Elisabeth, erhoffte, wird ihr von dieser und ihren Staatsmännern gegen alle Sitte und gegen alles Recht verweigert. Um eine eventuelle Rivalität der Stuart im Keim zu ersticken, berufen sich Englands Politiker einzig und allein auf ihren sogenannten „Staatsvorteil“ und brechen die geltenden Gesetze. Es handelt sich um jene „Staatsraison“, die von einflussreichen Theoretikern wie Machiavelli und Hobbes zugunsten der bestehenden politischen Herrschaft ausgearbeitet wurde und zum Nachteil des Volks bzw. jeglicher Opposition walten soll. Vergebens wehrt sich Maria Stuart gegen das Verhängnis mit juristischen Argumenten, die Schiller ihr aus Kenntnis der Rechtslage gleichsam in den Mund legte. Die von ihren Anklägern begangenen Rechtsbrüche sind ein unleugbares Zeugnis tyrannischer Herrschaft. Indem Schiller sie bloßlegt, verweist er auf die jakobinischen Praktiken in seiner Zeit, die ihrerseits das Recht beugten, um ihre Todesstrafen zu exekutieren — ähnlich wie die Ankläger der schottischen Königin dem Recht Hohn sprachen.[10] So wirft denn Müller-Seidel vom historischen Hintergrund des Dramas ein Schlaglicht auf den aktuellen Vordergrund der Zeitgeschichte. Die „doppelte Optik der zeitlichen Bezüge“ ist frappierend. Und frappierend ist auch die einprägsame Sentenz, die Müller-Seidel dafür findet: „In ‚Maria Stuart’ wird dem französischen Königsmord-Prozeß in literarischer Form der Prozeß gemacht.“ (S. 153)

Ein Indiz für diese literarische Prozessführung erblickt Müller-Seidel im „reichhaltigen Wortfeld des Tötens“, das Schiller ausbreitet. Ausdrücke wie „Blutgerüste, Mörder, Henkerbeil, Kerkerhaft oder Greueltat“ (S. 155) säumen den Gang der Handlung und stellen das Bild vom „Humanitätszeitalter“ in Frage, das man bis heute mit der Weimarer Klassik verbindet (ebd.). Schillers blutiges, auf die „Tötungsexzesse“ seiner eigenen Zeit bezogenes Wortfeld wird seitens der englischen Machtpolitiker wie Lord Burleigh mit Rechtsbegriffen verbrämt; indem Schiller diese Rechtsbeugung bloßstellt, wird die Maria Stuart, so Müller-Seidel, ein „Drama vehementer Rechtskritik“ (S. 157). Dergestalt weist das Werk auf einen allgemeinen Zeithorizont, der verfehlt wird, wenn man es als ein individuelles „Läuterungsdrama“ versteht, wie es lange Zeit üblich war (vgl. S. 147 u. 157). Müller-Seidels Kritik an dieser Rezeptionsweise ist, wie auch in anderen Fällen, unnachsichtig.

Die bisher genannten Erkenntnisinteressen Müller-Seidels – die zeitgeschichtliche Einbettung von Schillers Dramen, ihre interdisziplinäre Perspektivierung und die kritische Darstellung der Dramenrezeption – bestimmen gleichzeitig seine Analyse-Methode. Als Paradebeispiel für diese drei Erkenntnisinteressen darf seine Auseinandersetzung mit Schillers Wilhelm Tell gelten.

Zeitgeschichte und moderne Geschichte. Politischer Widerstand im „Wilhelm Tell“

Entschiedener als jedes vorhergehende Drama Schillers ist der Tell mit der Thematik der Tyrannis und des Widerstands gegen sie befasst, eines im Tyrannenmord gipfelnden Widerstands. Wenn sich die Eidgenossen gegen ihre tyrannische Fremdherrschaft solidarisch erheben und ihr Recht auf Selbstbestimmung einfordern, so treten im Drama Ideengehalte zutage, die ursprünglich die Französische Revolution mitbestimmt haben: namentlich Freiheit, Recht auf Widerstand, brüderlich gemeinschaftliches Handeln. Es lag daher nahe, Schillers Schauspiel als eine Rechtfertigung des jakobinischen Königsmords zu deuten, wie das Interpreten vom Rang Hans Mayers taten. Gegen diese Rezeption erhebt Müller-Seidel Einspruch: einmal im Namen des Rütli-Bundes, der den Aufstand der Eidgenossen gegen die Fremdherrschaft expressis verbis ohne Blutvergießen fordert, also „antijakobinisch“ ausgerichtet ist (vgl. S. 199), zweitens im Namen des Protagonisten selbst, Wilhelm Tell. Der nenne zwar, so Müller-Seidel, sein Attentat gegen den Tyrannen Geßler ungeschönt einen „Mord“, doch handle es sich, dem Zeugnis eines Schweizer Strafrechtslehrers zufolge, um den Mord an einem Tyrannen, der „ein Regime des Unrechts und der Unfreiheit befestigen“ wollte (S. 201). Angesichts dieser „Perversion der Rechtsordnung“, so schließt der Schweizer Fachgelehrte[11], „werden Widerstand und Gewalt gegen die Obrigkeit“, die „sonst Unrecht“ seien, ihrerseits „zum Recht“. (ebd.) Der Philologe Müller-Seidel, der sich auf dieses Urteil eines Strafrechtlers beruft, kann nun Tells „ungeheure Tat“ als eine „ultima ratio“ rechtfertigen; ja, er kann noch einen Schritt weitergehen und wie der Jurist „Tells Tötung des Tyrannen Geßler“ in Beziehung zu dem Attentat setzen, das Oberst Graf Schenk von Stauffenberg „auf den Despoten Hitler und seine Kamarilla“ unternommen hat.(ebd.)

Der Brückenschlag von der Klassik in die Moderne, den hier ein problembewusster Jurist vollzieht, ist für den Literaturwissenschaftler aufschlussreich, der in Schillers Werk einen der Ursprünge der Moderne sieht und sein Interesse an klassischer Bildung zugleich mit aufklärerischen Impulsen verknüpft. Der Vergleich, den der Schweizer Rechtsgelehrte zwischen Wilhelm Tell und dem Obersten von Stauffenberg zieht, einem noch heute verehrten Widerstandskämpfer, liest sich wie eine Entlastung des Protagonisten Schillers. Es ist indes eine Entlastung vor dem Forum objektiver Rechtsprechung, die jedoch für das betroffene Subjekt einen tragischen Akzent behält. Tell, so Müller-Seidel, sei aufgrund seiner schwerwiegenden Tat, die juristisch durchaus „bejaht“ werde (S. 202), gleichwohl ein „tragisch schuldig gewordener Mensch“ (S. 203) in einem übertragischen Schauspiel. Als Zeugnisse für diese Tragik zitiert Müller-Seidel Textstellen, die sonst den Interpreten zu entgehen pflegen: einmal die Vorwürfe, die Tells Ehefrau ihm macht wegen der Gefährdung des eigenen Kindes beim Apfelschuss, ferner Tells Abkehr vom eigenen Beruf, das heißt von der Armbrust als Tötungsinstrument am Ende des Dramas (S. 202f.). Die Aufmerksamkeit auf solche Details stützt Müller-Seidels Umwertung. Eine optimistische Tendenz der Rezeption hatte bisher das Volksfest am Ende des Schauspiels in den Horizont des „ästhetischen Staats“ gerückt, den Schiller in seiner berühmten Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen skizziert hatte: als Utopie einer versöhnten Gesellschaft, auf die der geschichtliche Prozess hinsteuern könnte. Solchen „interpretatorischen Festgesängen“ (S. 204) erteilt Müller-Seidel einen ironischen Bescheid. Schiller habe die ästhetische Erziehung im Hinblick auf Menschen entworfen, die dank Bildung und Ethik die Geschichte und Gesellschaft ohne Gewalttat verändern könnten. Das Beispiel Tells zeige, dass dies eine Illusion sei, müsse doch selbst er, dieser friedfertige Mensch, eine ‚ungeheuerliche‘ Tat vollbringen (S. 204). Es sei daher geboten, den „Aufklärungsoptimismus“ der Ästhetischen Briefe mit jenen „geschichtspessimistischen Tendenzen“ (S. 205) zu konfrontieren, die das Tell-Schauspiel und Schillers dramatisches Werk insgesamt charakterisierten und damit das überlieferte Geschichtsbild der Weimarer Klassik in Frage stellten: Dem sogenannten „Humanitätszeitalter“ (ebd.) wurde ein skeptischer Spiegel vorgehalten. Die Herstellung einer neuen befreiten Gesellschaft gelinge im Tell nur dank einer Tötung mit Gewissensnöten: „um der Humanität willen“ werde hier „Humanität eine Zeit lang suspendiert“, nicht ohne das einschneidende Schuldbewusstsein des Protagonisten.

Die solcherart aufgewiesene Dialektik des Wilhelm Tell vertieft Müller-Seidel zeitgeschichtlich im Sinne der „doppelten Optik“, indem er die Bezüge des im Mittelalter spielenden Dramas zur „Helvetischen Republik“ um 1800 nachweist. Entstanden 1797 als eine Nachbildung der Französischen Revolution, wurde die Helvetische Republik von Napoleon zunächst als freies Staatswesen anerkannt, dann im Zuge seines Expansionsdrangs von seinen Soldaten besetzt, ausgebeutet und schließlich 1803 ihrer Autonomie beraubt. Diese schmähliche Wende spiegelt Schiller im Geschick der ursprünglich freien Eidgenossen wider, die unter die Zwangsherrschaft der fremden Eroberer aus Österreich gerieten. Damit wird der fremde Eroberer Napoleon zur verdeckten Zielscheibe des Dramas. Kollektive Selbstbestimmung als eine zentrale Idee der Revolution und der Verrat an dieser Idee im Verlauf der Revolution durch Napoleon — dieser Bruch unterstreicht die von Müller-Seidel vorgetragene Geschichtsskepsis. Die eidgenössische Widerstandsbewegung hellt diese Skepsis partiell, aber nicht vollständig auf, wie das zwiespältige Schicksal Tells zeigt. Gesellt man dazu die überraschende politische Aktualität, die der Text für das Widerstandsgeschehen im 20. Jahrhundert gewinnt, namentlich für die um Graf Schenk von Stauffenberg zentrierte Bewegung, so wird aus der „doppelten Optik“ eine dreifache. Sie bekräftigt Müller-Seidels selbstbewussten Schluss, dass dieses anscheinend „leichteste“, in den schulischen „Mittelklassen“ beliebte Drama Schillers in Wahrheit sein „tiefsinnigstes und schwierigstes“ ist (S. 205).

Philologisch-politischer „Indizienbeweis“. Die Napoleon-Figur

Mit dem Wilhelm Tell gerät der berühmte Feldherr der Franzosen vier Kapitel lang ins Blickfeld des Verfassers. Das ist zum einen forschungsgeschichtlich bedingt, denn von wenigen Ausnahmen abgesehen spielt Napoleon in neueren Schiller-Darstellungen nur am Rande eine Rolle, und die Ausnahmen, Peter-André Alt oder Jürgen Safranski, erwähnen ihn, ohne seine Bedeutung im dramatischen Werk aufzuzeigen. Im Grunde liegen nur von Hans-Günther Thalheim ernstzunehmende werkbezogene Hinweise auf die Napoleon-Figur im Drama Schillers vor, und es zeugt von der Vorurteilsfreiheit Müller-Seidels, dass er diesem DDR-Philologen eine späte Aufmerksamkeit erweist. Das Forschungsdefizit in Sachen Napoleon Bonaparte hat seine heikle Seite darin, dass Schiller selbst ihm Vorschub zu leisten scheint. Der Dramatiker erwähnt seinen Namen nirgendwo, der Briefschreiber Schiller ebensowenig. Müller-Seidel muss einen „Indizienbeweis“ führen, um den weltberühmten Franzosen im Drama Schillers als „Hintergrundfigur“ dingfest zu machen (vgl. S. 226, S. 239, S. 267). Es hat einen eigenen Reiz, dass Müller-Seidel, der fast leitmotivisch Rechtsfragen in seinen literaturwissenschaftlichen Arbeiten thematisiert,[12] einen genuin strafrechtlichen Terminus als analytische Methodenbezeichnung verwendet. „Das Verschweigen“ (des Namen Napoleon, G. Sa.) „ist kein Zufall, sondern hat Methode“, konstatiert er (S. 217), um nun seinerseits diese Methode methodisch auszuleuchten. Es ergibt sich als erstes Indiz, dass damals das Verschweigen des Namens zum „Zeitstil“ gehört (S. 220). Dieser Stil prägt den Dialog zwischen Schiller und dem Napoleon-Verehrer Goethe und kehrt in Schillers Korrespondenz mit „Gesinnungsfreunden“ wieder. Hier ist eine Kultur der Rücksichtnahme auf den Dialogpartner bzw. eine Strategie der Vorsicht zu konstatieren, die von Fall zu Fall eine „Geheimsprache“ erfordert. Wenn Schiller seine napoleonische Gegnerschaft „im Gewand historischer Dramatik versteckt“ (S. 220), so handelt er im Geist dieser zeitgemäßen Geheimsprache. Die Methode des „Indizienbeweises“ gibt Müller-Seidel Gelegenheit, in die Kultur der Weimarer Klassik mancherlei Blicke zu werfen. Wenn er dabei „Gesinnungsfreunde“ Schillers und Gegner Napoleons, etwa den Freiherrn von Gentz oder Wilhelm von Humboldt, zur Sprache bringt, so entwirft er zugleich scharfgestochene Porträts von repräsentativen Zeitgenossen, die ihrerseits Tendenzen der Kultur- und Zeitgeschichte widerspiegeln. Namentlich mit Wilhelm von Humboldt, dem geistigen Geburtshelfer der Universität Berlin, erhält die Gegnerschaft der preußischen Reformer contra Napoleon klares Profil, gerät die Idee der Bildung ins Blickfeld und wird die preußische Hauptstadt als die Mitspielerin Weimars im geistigen Leben der Zeit kenntlich. So erweitert sich die Monographie über die Dramen Schillers zum Epochenbild kultureller und politischer Strömungen.

Daß diese Erweiterung von Müller-Seidel nicht ohne Vergnügen an literarhistorischen Digressionen ausgemalt wird, erweist sein Kapitel über Dichterkollegen Schillers. Der Verfasser entwirft ein weitläufiges Panorama pro- und antinapoleonischer Zeugnisse um 1800 von Wieland über Ernst Moritz Arndt zu Kleist und Hölderlin. Während letzterer den charismatischen Feldherrn zum Friedensfürsten verklärt, sieht Schiller im Expansionsdrang des Eroberers eine wachsende Gefahr für die Selbstbestimmung der Völker Europas. Er verknüpft die philosophische Fundierung der Selbstbestimmung durch Kant im Laufe der neunziger Jahre entschieden mit der Idee des Widerstands gegen Fremdherrschaft — des kollektiven Widerstands mit dem Ziel des Friedens. Davon zeugen zentrale Textstellen im Wallenstein, zeugt das Drama der Jungfrau von Orleans, das im Gewand des Hundertjährigen Kriegs die zeitgeschichtliche Dringlichkeit einer nationalen Frontbildung gegen Fremdherrschaft demonstriert. In diesem Drama ebenso wie im Wallenstein, in der Braut von Messina und im Wilhelm Tell entfaltet Schiller in historischer Verkleidung sein Ungenügen an den labilen, ja schmählichen Friedensbedingungen, die Napoleon den europäischen Mächten auferlegt hat, sei es im Friedensvertrag von Rastadt (1798) oder dem von Lunéville (1801). So wird das Spätwerk Schillers gleichsam zur Spiegelschrift politischer Tendenzen und des Widerstands gegen sie. Müller-Seidel löst das Versprechen seiner Monographie Schiller und die Politik sorgfältig ein.

Deutsche Mentalitätsgeschichte. Politische Größe und „Größe im Menschlichen“

Es geht indes in dieser Schiller-Studie nicht nur um die Verknüpfung von Literatur und Politik an zeitgeschichtlichen Bruchstellen, es geht, wie eingangs schon bemerkt, auch um die Einbettung der Literatur in eine fachübergreifende Wissenschaft. Waren dies in den Anfangskapiteln die europäischen Theorien zum „Widerstandsrecht“ und zum „Tyrannenmord“ (Kap. II und III), so sind es jetzt, im 19. Jahrhundert, Geschichtsphilosophie, Geschichtswissenschaft und Soziologie, die Müller-Seidels Interesse erregen. Diese fachübergreifenden Geisteswissenschaften lassen eine folgenreiche deutsche „Mentalitätsgeschichte“ (S. 283) erkennen, die bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hineinreicht. Die beharrliche Intensität, mit der Müller-Seidel diese Geschichte noch für das Dritte Reich namhaft macht, erscheint wie eine Herausforderung des Lesers im Sinne eines tua res agitur. Eine Eigenart der von Müller-Seidel aufgerollten Mentalitäts- und Bewusstseinsgeschichte ist die Fixierung auf historische Persönlichkeiten. Sie nimmt ihren Ausgang von Napoleon. Obgleich die europäischen Befreiungskriege ihn zum Verlierer machen und ihn seines Nimbus berauben, erlebt er nach relativ kurzer Zeit eine Remythisierung, in deren Genuss auch andere große Männer der Weltgeschichte gelangen. Von Hegel und Ranke über Heinrich von Treitschke und Theodor Mommsen bis Max Weber sind maßgebliche Philosophen und Historiker in Deutschland daran interessiert, einzelne herausragende Gestalten der Geschichte, heißen sie Julius Cäsar oder Napoleon Bonaparte, als treibende Kraft der Geschichte zu verklären, ganz gleich, welchen Antrieben, egozentrischen, amoralischen, machtbesessenen, tyrannischen, sie gehorchen. Parallel zu dieser Mythisierung der epochemachenden Größe erblickt Müller-Seidel, gestützt auf die Kritik heutiger Forschung, in den Köpfen maßgeblicher Denker „einen Prozeß zunehmender Erblindung gegenüber dem Phänomen (…) des Tyrannentums und des Widerstandsrechts“ (S. 282), einer Erblindung, die gefördert wird durch die traditionelle Obrigkeits- und „Staatsfrömmigkeit“ in Deutschland (vgl. ebd.). Die Diagnose dieser Erblindung hat etwas ungemein Erhellendes — erhellend für den „deutschen Sonderweg“ in die politische Katastrophe des 20. Jahrhunderts (vgl. ebd.). Kein Geringerer als Karl Löwith hat gegen Max Weber eingewandt, dass er mit seiner Verehrung „charismatischer Führertypen den Weg zum diktatorischen Führerstaat gebahnt habe“. (S. 285)

Müller-Seidels kritische Darlegung der Mythisierung Geschichte machender Gestalten bezeugt sein Interesse an einer politischen Aufklärung seiner Leser. Gleichzeitig markiert sie seine Methode, Fehlhaltungen einer langwährenden Schiller-Rezeption zu erklären. Denn die fortgesetzte Verehrung der politischen Helden bewirkte in der Forschung ein Desinteresse an den Motiven des Widerstands und der kollektiven Selbstbestimmung im Spätwerk Schillers (vgl. S. 290). An der Rezeptionsgeschichte des Wilhelm Tell zeigt Müller-Seidel exemplarisch, wie die im Drama offengelegten Widerstandskräfte zu biederer Vaterlandsliebe befriedet und ihres politischen Sprengstoffs beraubt wurden. Und er macht parallel dazu deutlich, dass Schiller seine Helden kritischer, ambivalenter zeichnet als die deutschen Historiker und Geschichtsphilosophen ihre großen Männer. Seinen Zweifel an dem Geschichte machenden Politiker sät Schiller bereits im Don Karlos, wenn dort der Marquis Posa, ein für die Selbstbestimmung des niederländischen Volkes tätiger Held, nach und nach von der ihm übertragenen Machtbefugnis verführt, despotische Züge der Selbstherrlichkeit entwickelt, zum Nachteil seines Freundes und republikanischen Gesinnungsgenossen Don Karlos. Indem Posa für einige Zeit der Versuchung zu politischer „Größe“ anheimfällt, verrät er die „Größe im Menschlichen“ (S. 321), um Müller-Seidels antithetisches Begriffspaar zu verwenden. Just diese befremdliche Wandlung Posas vertieft— ich verwende abermals Müller-Seidels Begriffe — die „psychischen Störungen“, an denen Don Karlos aufgrund einer „krankmachenden Familienkonstellation“ seit jeher leidet — und die er sich zu Unrecht selbst als Schuld zuschreibt (S. 311). An diesem Punkt betritt Müller-Seidel ein Feld, dessen Anziehungskraft auf ihn unverkennbar ist: das Feld der „Psychiatrie“ (ebd.), die dem Leiden in den Formen der Melancholie und der Schwermut zugewandt ist.[13] Es ist der „Arzt im Dichter“, den Müller-Seidel mit Schillers Darstellung des Leidens heraufruft (S. 312), und es steht für ihn außer Zweifel, dass der in „Seelenkunde“ bewanderte Dramatiker seine „Solidarität“ (S. 310) mit den Opfern geschichtlicher und familialer Prozesse in weit höherem Maße bezeugt als mit den treibenden Kräften dieser Prozesse. An Maria Stuart, der schottischen Königin, demonstriere Schiller, so sieht es Müller-Seidel, diese Solidarität ganz entschieden, sei sie doch ein Opfer englischer Staatsraison, auf der Elisabeth, die Königin Englands, zum Nachteil ihrer Menschlichkeit beharre, während Maria Stuart an „Größe der Menschlichkeit“ und an „Selbstbestimmung“ im Verlauf der Handlung gewinne (vgl. S. 314f.). Eben dieser Antagonismus von politischer Größe, die das Gesetz des Handelns selbstherrlich-tyrannisch bestimmt, und „Größe im Menschlichen“ (S. 321), die sich im Leiden bewährt, konstituiert den tragischen Vorgang im „Dramenwerk“ Schillers. Es ist die „Unauflöslichkeit seiner Widersprüche“, die seine Signatur ausmacht (S. 324).

Literarische und kulturpolitische Moderne

Müller-Seidel zieht aus diesem Befund weitreichende Schlüsse für die der Weimarer Klassik entstammende Idee der Humanität. Überlebenskraft kann sie nur vor dem Hintergrund der geschichtlich-politischen Bedrohungen gewinnen, Humanität bezeugt sich in der Moderne durch den Widerstand gegen solche Bedrohungen: Literatur sollte nicht nur das Thema der „Todesarten“ in sich aufnehmen, wie das in der Dichtung „von Lessing bis Ingeborg Bachmann“ geschehen ist, sondern auch das der „Tötungsarten“ (S. 334). Die Inhumanität eines Zeitalters muss integrales Element einer Kunst sein, die dagegen ihre humanen Gegenkräfte aufbietet. Aus dieser Perspektive setzen sich die literarischen Werke der Moderne kritisch mit „Fehlentwicklungen“ auseinander, die bereits Schiller wahrnahm, unter anderem mit der wachsenden Rationalität des „wissenschaftlich-technischen Fortschritts“ (S. 340), aber auch mit der „Zurücksetzung psychisch Kranker“ und der Glorifizierung „großer Menschen“ wie auch mit dem „Sozialdarwinismus“ einer „modernen Erfolgsgesellschaft“ (S. 339). „Literatur“, so resümiert Müller-Seidel, „erhält damit eine kulturpolitische wie kulturkritische Funktion, die Schiller in Ansätzen vorwegnimmt.“ (S. 337) In diesem Resümée kristallisiert sich die von sozialem und politischem Ethos durchpulste Bildungsidee Müller-Seidels. Sie mündet in eine übergeschichtliche Utopie, die Ausdruck findet in dem dringenden Wunsch Max Piccolominis, der den Untertitel dieser Monographie bildet: „Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe“.

Müller-Seidel versteht die genannten „Fehlentwicklungen“ als Folge der im 19. Jahrhundert eintretenden und sich zusehends verschärfenden „Trennung der Kulturen“ (S. 339), der naturwissenschaftlich-technischen Kultur einerseits und der Sphäre der Geisteswissenschaften und Künste andererseits. In der Dynamik dieser Trennung seien auf Seiten der erstgenannten Kultur und damit auch im Bereich der Medizin Infragestellungen der Humanität erfolgt, wie sie in der „Zurücksetzung psychisch Kranker“ (S. 339) und in „Tötungsarten“ wie der „Euthanasie“ (S. 332) ihren extremen Ausdruck gefunden haben.[14] Dass „moderne Literatur“ – der These und dem Postulat Müller-Seidels zufolge – „den Defiziten im Menschlichen vielfach entgegenarbeitet“ (S. 339), demonstriert der jüngst erschienene Roman Ikarien (2017) von Uwe Timm, der am Beispiel des Rassenhygienikers Alfred Ploetz eindrucksvoll eine dem „Fortschritt“ verschworene Wissenschaft bloßstellt.

Schiller, so Müller-Seidel, habe die in Frage stehende „Trennung“ der „Bereiche“ frühzeitig erkannt und in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen hellsichtige Kritik daran geübt (vgl. u.a. den „sechsten Brief“), aber auch für die „Wiederherstellung des Getrennten“ (S. 338) eindringlich geworben. So wird er für Müller-Seidel ein Wegbahner der „literarischen Moderne“ als einer „Gegenkultur“, die in einem erweiterten Sinn „Fehlentwicklungen“ des (naturwissenschaftlich-technischen) „Fortschrittsdenkens“ aufgreift und in der „Opposition gesellschaftlicher Verläufe“ für eine zeitgemäße „Humanität“ streitet (S.339).

Die „kulturpolitische und kulturkritische Funktion“, die Schiller dem modernen literarischen Text zur Auflage macht, ist wohl auch als eine Wertungskategorie zu verstehen. Vergleicht man damit im Rückblick Müller-Seidels vielgelesenes Buch Probleme der literarischen Wertung (1965), so wird ein bemerkenswerter Bewusstseinswandel kenntlich. In wesentlichen Zügen verfährt das ältere Wertungsbuch dichtungsimmanent. Gewiss, die Kategorie des „Menschlichen“ als Wertungsmaßstab bleibt in der Schiller-Monographie erhalten, aber nun mit dem Akzent auf dem leidenden, psychisch gefährdeten und von der Geschichte bedrohten Menschen – auf jenem Einzelnen im historischen Prozess, der von der Gewalt überindividueller Machtkonstellationen und Ideologien in Frage gestellt wird.

In diesem Zusammenhang ist eine Anmerkung zu Müller-Seidels Skepsis hinsichtlich der „Aktualität“ seines „Themas“ (S. 34) angebracht. „Tyrannenmord“ und „Widerstandsrecht“ und das sie begleitende „Wortfeld des Tyrannentums“ büßten im Rahmen einer „demokratischen Kultur“ ihre Relevanz ein – jenseits dieser Kultur habe man es nicht länger mit Tyrannenmördern, sondern mit „mordenden Tyrannen“ zu tun (ebd.). Dem ist zweifellos so. Was wir indes von diesen Tyrannen „in staatlicher Funktion“ hören, gemahnt an das Wortfeld, das beispielsweise in der Maria Stuart im Umkreis der damaligen Machtpolitiker regiert: „Blutgerüste, Mörder, Henkerbeil, Kerkerhaft oder Greueltat“ (S. 155). Die „Tötungsexzesse“, die in vergangenen Jahrhunderten Furcht und Schrecken verbreiteten, reichen mit ihrer unmittelbaren Wirkung bis in die „westeuropäische Kultur“ von heute. Diese Wirkung erreicht uns durch Phänomene wie „Flucht“ und „Flüchtende“, Asylsuchende und Asylanten. So gesehen, endet die Aktualität des von Müller-Seidel entfalteten Themas nicht mit der von ihm hervorgehobenen Widerstandsbewegung um den Obersten von Stauffenberg vor über 70 Jahren, sie äußert sich in jenem außereuropäischen „Tyrannentum“ (S. 34) des Nahen Ostens bzw. afrikanischer Länder, dessen Folgen heute Europa in ihren Bann schlagen.

Darbietungsform

Abschließend seien einige Bemerkungen zur Darbietungsform dieser Schiller-Monographie formuliert. „Über die Lage des Menschen“, sagt Müller-Seidel einmal, „über Menschlichkeit und über Humanität als dem Herzstück des europäischen Humanismus können nicht mehr einzelne Wissenschaften, jede für sich befinden“ (S. 336). Dieser Einsicht entspricht, so scheint mir, die vom Autor erprobte unkonventionelle Form des Argumentierens und der Gedankenfolge. Anders als die hergebrachte wissenschaftliche Untersuchung bietet sie eine Pluralität von Darstellungsarten auf. Entsprechen Müller-Seidels faktisch-politische Berichterstattung und die mit kritischen Forschungsberichten versehenen Werkanalysen durchaus den Gepflogenheiten literaturwissenschaftlicher Untersuchungen, so kennen diese nur ausnahmsweise den von Müller-Seidel erprobten Essay, der eine philosophisch-politische Theorie resümiert, oder den fachübergreifenden Dialog mit Werken der europäischen Literatur. Dazu gesellt sich eine Rezeptionskritik, die hier, wie das Beispiel „Wilhelm Tell“ zeigt, einen ungewohnt offensiven, auf politische Zuspitzungen zielenden Charakter gewinnen kann. Scharf umrissene Porträts wie das des Freiherrn von Gentz sorgen für die individuelle Engführung der wissenschaftlichen Argumentation, für ihre repräsentative Erweiterung sorgen ausladende literarhistorische Tableaus, wie das dem Mythos Napoleon gewidmete. Einen eigentümlichen Reiz besitzt der von Müller-Seidel geführte „Indizienbeweis“. Da Napoleon in zeitgenössischen literarischen Zeugnissen nie beim Namen genannt wird, erschließt Müller-Seidel die Gestalt des Feldherrn aus einer Kette von „Indizien“, ähnlich wie bei einer gerichtlichen Urteilsfindung. Von Fall zu Fall fordert ein bekenntnishafter Kommentar des Verfassers, der sein soziales und kulturkritisches Ethos bekundet, den Leser zur Stellungnahme auf: Tua res agitur.

Verschafft der Reichtum der Darstellungsarten dem Werk formale Vielfalt und Beweglichkeit, so bürgt eine kompositorische Eigenart für eine ausgesprochen dialogische Erkenntnisvermittlung. Müller-Seidels letztes Werk besitzt, so möchte ich es metaphorisch formulieren, den Charakter einer doppelten Stimmführung. Ist in den ersten drei Kapiteln die Stimme der philosophisch-politischen Theorie die Dominante, die des literarischen Werks hingegen eine Nebenstimme, so übernimmt mit den Dramenanalysen die literaturbezogene Stimme die Führung, während die theoretische Stimme als Begleiterin die Fragestellung mitträgt. Mit dem Auftreten Napoleons durchdringen sich die beiden Stimmen wechselseitig und verknüpfen das theoretische Thema des Tyrannenmords und des Widerstandsrechts mit literarischen Quellen. Die letzten drei Kapitel sind eine weiterführende Reprise der ersten drei. Erneut beansprucht die Stimme der politischen Theorie die Führung; sie handelt von der politischen Größe im neuen 19. Jahrhundert, eine kritisch kommentierte Größe, ehe kontrapunktisch dazu die Stimme des leidenden Menschen zur dominanten wird. Diese variable doppelte Stimmführung des Buchs ist geeignet, die dargestellten Erkenntnisvorgänge durch Wiederholung, Weiterführung und Verknüpfung dem Bewusstsein des Lesers einzuprägen.

Nachbemerkung der Redaktion: Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, den Gert Sautermeister am 27. Juni 2018 bei einem Symposium zu Walter Müller-Seidels 100. Geburtstag in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München, gehalten hat.

Anmerkungen

[1] Walter Müller-Seidel: Schiller, Klassik und Modernität. In: Bayerische Akademie der Schönen Künste. Jahrbuch 10 (1996), S. 73-99, hier  S. 73.

[2] Ebd., S. 75.

[3] Einen vollständigen Rekurs auf alle von Müller-Seidel präsentierten Dramen-Analysen sowie seine textübergreifenden Kapitel bietet die umsichtige Rezension von Wulf Segebrecht: Schiller – ein Dramatiker des Widerstands. In: IASL online (26.01.2011).

[4] Seitenangaben im Text beziehen sich hier und im Folgenden auf Walter Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die Politik. „Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe“. München: C. H. Beck 2009.

[5] Zit. nach Müller-Seidel 2009 (Anm. 4), S. 9.

[6] Birgit Sandkaulen: Schönheit und Freiheit. Schillers politische Philosophie. In: Klaus Manger, Gottfried Willems (Hg.): Schiller im Gespräch der Wissenschaften. Heidelberg 2005, S. 37-55, hier S. 48.

[7] Eine interdisziplinäre Fragestellung hatte Müller-Seidel schon 1961 am Beispiel von „Goethes Alterslyrik“ erprobt. Das implizierte Überlegungen zum Zeiten-, Formen- und Bewusstseinswandel, die auch für die Schiller-Monographie wesentlich sind und einen erweiterten Kulturbegriff nahelegen. Vgl. dazu die Studie von Karl Richter: Poesie und Naturwissenschaft in Goethes Altersgedichten. Göttingen: Wallstein 2016.

[8] Schon von der begrifflichen Kennzeichnung her kann man in dieser Verfahrensweise Schillers ein Analogon zu Goethes „Entoptik“ erblicken, einer naturwissenschaftlichen Versuchsanordnung, die sich im Sinne „wiederholter Spiegelungen“ auf dem Gebiet der Dichtung geltend machen lässt. Siehe dazu Karl Richter (Anm. 7, Teil B, Kap. III). Man darf die verwandtschaftliche Beziehung zwischen den ästhetischen Verfahrensweisen der beiden Klassiker als eine Epochensignatur begreifen.

[9] Man wird hier eine gewisse zeitbezogene Verwandtschaft zu Goethes West-östlichem Diwan bemerken. Zwar entsteht dieser lyrische Zyklus etliche Jahre später als die klassischen Dramen Schillers, aber bei seinem Erscheinen sind die Französische Revolution und ihre Folgen für Goethe noch sehr präsent. Wie in Schillers historischen Dramen sind in Goethes lyrischem Zyklus die „Motivik von Krieg und Chaos“ und die Erfahrung der napoleonischen Eroberungszüge unüberhörbar, wie Hegire, das Eingangsgedicht des Diwan, schon in den ersten beiden Verszeilen bezeugt. Darauf weist Karl Richter (Anm. 7, S. 92) überzeugend hin. – Diese politische Zeitgenossenschaft Goethes und Schillers verleiht der Weimarer Klassik den Charakter kritischer Aufklärung, auf dem Müller-Seidel insistiert.

[10] Vgl. dazu das Kapitel „Schillers Rechtsdenken“ in Walter Müller-Seidel: Rechtsdenken im literarischen Text. Deutsche Literatur von der Weimarer Klassik zur Weimarer Republik. Hg. von Gunter Reiß. Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2017. S. 13-30.

[11] Es handelt sich um Günther Spendel.

[12] Vgl. den Hinweis in Anm. 10.

[13] Vgl. dazu Walter Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland. Zur Geschichte des humanen Denkens im wissenschaftlichen Zeitalter (1795-1945). Hg. von Thomas Anz. Marburg: LiteraturWissenschaft.de 2018.

[14] Siehe dazu Müller-Seidel: Rechtsdenken im literarischen Text (Anm. 10), und Müller-Seidel: Literatur und Medizin in Deutschland (Anm. 13).