Ein leerer Raum, in dem das Leben verschwindet

Arno Geigers Roman „Unter der Drachenwand“ handelt vom Krieg und den Zerstörungen, die er in den Menschen anrichtet

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Arno Geiger versteht es, immer wieder zu überraschen. Auf den Familienroman Es geht uns gut (2005), ausgezeichnet im Jahr seines Erscheinens mit dem erstmals vergebenen Deutschen Buchpreis, und den Eheroman Alles über Sally (2010) ließ er mit Der alte König in seinem Exil 2011 ein weitgehend nicht-fiktionales Werk folgen, in dem er sich mit der Demenzerkrankung seines Vaters auseinandersetzte. Um die Beziehung eines jungen Mannes zu einem alten, der an einer schweren Krankheit leidet, die ihn hilflos macht, geht es am Rande auch in Selbstporträt mit Flusspferd (2015), in dem die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens und Sich-Zurechtfindens in der Welt im Zentrum stehen.

Dass in Geigers aktuellem Roman Unter der Drachenwand an zwei Stellen ebenfalls zum Bild des Flusspferds als ein Trägheit, In-sich-Ruhen und behagliches Sich-Wohlfühlen verkörperndes Tier gegriffen wird, mag einerseits Zufall sein, zeigt andererseits aber auch, wie (sprachlich-metaphorisch) eng die Dinge in der Romanwelt des österreichischen Autors zusammenhängen. Ein Familienroman, ein Buch über eine Ehe, ein autobiografischer Erfahrungsbericht, eine Coming-of-Age-Geschichte und nun also ein Roman, der in den Kriegsjahren 1943 und 1944 spielt und in dem es dem selbst erst 1968 geborenen Autor auf beeindruckende Weise gelingt, die Realität der letzten Kriegsmonate, die er sich mithilfe von Tagebuchaufzeichnungen, Briefen und anderen Selbstzeugnissen aus jenen Tagen lesend erarbeiten musste, schreibend nachzuerfinden. Der Leser findet sich darin wieder in der verstörenden Wirklichkeit eines Krieges, der weiterging, obwohl er längst verloren war.

Als Hauptfigur hat Geiger einen jungen Mann gewählt, der, verwundet an Leib und Seele, den Schrecken des Krieges im Osten entkommen ist. Bei seinen in Wien lebenden Eltern, deren Durchhalteparolen ihn, der weiß, wie es im Krieg zugeht, provozieren, hält es ihn nicht lange. Schon nach kurzer Zeit verlässt er sie wieder, um fortan bei einem Bruder seines Vaters im Salzkammergut zu rekonvaleszieren. Dort, „eine halbe Fahrstunde von Salzburg“ entfernt, im kleinen Ort Mondsee am See gleichen Namens und unter der im Südwesten mehr als 1000 Meter steil aufragenden Felsformation namens „Drachenwand“, der Geigers Roman seinen Titel verdankt, verbringt Veit Kolbe die Zeit von Januar bis Dezember 1944.

Der demnächst 24 Jahre alt werdende junge Mann hat in seinem Erwachsenenleben nach Abschluss des Gymnasiums bisher nichts anderes kennengelernt als den Krieg. „Von Wien bis an die Wolga und von der Wolga zurück an den Dnjepr“ hat er einen Lkw gesteuert, ehe ihn –in „genau derselben Gegend, in der wir um die gleiche Zeit vor zwei Jahren gestanden waren“– drei Granatsplitter trafen und er mit einem Lazarettzug in die Heimat zurückgebracht wurde. Fünf verlorene Jahre, in denen er seinen Traum von einem Studium an der Technischen Hochschule hätte verwirklichen, ein Mädchen kennenlernen, vielleicht sogar heiraten und eine Familie gründen können, wie er jetzt begreift. Wenn er sich deshalb am Neujahrstag 1944 aufmacht zu seinem Onkel Johann, dem Postenkommandanten von Mondsee, und dort bei einer in der ganzen Gegend verrufenen Quartierfrau ein Zimmer bezieht, steht für ihn fest, dass er die Rückkehr in das von ihm als sinnlos und unmenschlich begriffene Schlachten so weit hinausschieben wird wie möglich. Denn für ihn gilt: „Nichts zählte, außer dass ich am Leben war.“

Drei Bekanntschaften prägen die Zeit, die Veit in Mondsee verbringt. Zunächst begegnet er Grete Bildstein, einer jungen Lehrerin aus Wien, die eine Gruppe von Mädchen begleitet, die sich auf Kinderlandverschickung im Lager Schwarzindien am Mondsee befindet und deren Schülerin Annemarie Schaller, genannt Nanni, zu der Veit schon bald ein besonderes Vertrauensverhältnis hat. Margot, eine junge Mutter aus Darmstadt, in einer Kriegsehe unglücklich verheiratet und seine Nachbarin im Haus der Quartierfrau, weiht ihn schon nach kurzer Bekanntschaft in die Geheimnisse der Liebe ein. Nach dem Krieg heiraten die beiden, nachdem sich die junge, lebenstüchtige Frau von ihrem ersten Mann getrennt hat und bleiben bis zu Veits Tod zusammen. Der „Brasilianer“ genannte Bruder seiner Zimmerwirtin endlich, Gärtner und Freigeist, der sich nach seinem einstigen Leben in Rio verzehrt und die Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis hasst, wird zu Veits Freund und Vertrautem. Er lehrt ihn, auch in Zeiten, in denen jedes falsche Wort dem Menschen gefährlich werden kann, stets zu seinen innersten Überzeugungen zu stehen und Mensch zu bleiben. Ihm zuliebe rafft sich Veit am Ende seines Aufenthalts in Mondsee zu einem Akt des aktiven Widerstands gegen das Regime auf.

Um den Blick durch die Augen seines Helden auf die Wirklichkeit eines Krieges, der dabei ist, dahin zurückzukehren, von wo er ausgegangen ist, auszuweiten, hat Geiger in seinen Roman noch drei weitere Perspektiven eingebaut: Die Mutter der „Darmstädterin“ berichtet in Briefen an ihre Tochter von den verheerenden Zerstörungen, die die alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte anrichten. Die Mitteilungen ihres Cousins Kurt an die an den Mondsee verschickte, 13-jährige Annemarie Schaller sind Zeugnisse einer jungen, von den Eltern nicht geduldeten Liebe, die sich mitten im Krieg ihr eigenes kleines Paradies erschafft und sich an eine Hoffnung klammert, die sich letzten Endes nicht erfüllt. Schließlich ist da noch Oskar Meyer, ein Wiener Jude, der sich gemeinsam mit seiner Familie auf der Flucht vor den Faschisten bis nach Budapest durchschlägt und doch immer weiß, dass eine Chance, dem Wahnsinn der Zeit zu entkommen, für ihn und die Seinen mitten in Europa nicht existiert. 

„Der Roman ist ein erfundenes Haus mit echten Türen und Fenstern“, hat Geiger in einem Gespräch geäußert. Drei dieser Fenster, die die harte Realität des Krieges in die „Normalität“ der Gemeinde am Mondsee hereinlassen, hat Geiger durch den eben beschriebenen erzählerischen Trick geöffnet, denn obschon sich die Zerrüttungen, die ein Krieg in den Menschen anrichtet, an den Figuren, die den kleinen Ort unter der Drachenwand besiedeln, darstellen ließen, war das Chaos einer ganzen Welt im Zusammenbruch von hier aus wohl nur unvollkommen zu erfassen. In Mondsee geht das Leben – zwar regelmäßig unterbrochen von den den Ort überfliegenden alliierten Flugzeugen mit ihrer Bombenlasten –  weiter wie eh und je. Die einen – wie die Quartiersfrau und ihr Mann – glauben noch an den Endsieg mithilfe der versprochenen Wunderwaffe. Die anderen bleiben still in sich gekehrt, weil sie sehen, was mit denjenigen geschieht, die wie der Brasilianer den Mund zu weit aufmachen. Dritte wie der Postenkommandant tun Dienst nach Vorschrift. Und wenn die Schülerinnen aus dem Lager Schwarzindien durch den Ort marschieren oder ihre Fahnenappelle abhalten, sieht das gelegentlich fast nach entspannter Ferienlageratmosphäre aus.

Also brauchte es wohl ein Korrektiv. Geiger ist erfahren genug, dass er die Berichte der drei Personen, mit denen er die große Welt ins kleine Mondsee hereinholt, nur am Anfang ein wenig wie Fremdkörper in einem ansonsten in sich geschlossenen Text erscheinen lässt, sie nach und nach aber virtuos mit seinem Haupterzählstrang verbindet. Sogar eine kurze Begegnung mit dem Freund des Mädchens Nanni, um ihm die Briefe zurückzugeben, die er ihr nach Mondsee geschrieben hat, lässt der Roman Veit noch absolvieren, ehe er wieder zurück in den Krieg muss.

Bis er sich im April 1945 in der Gegend von Schwerin absetzt und nach Mondsee zurückkehrt, wie Geiger in den knappen „Nachbemerkungen“ festhält, in denen er seinen Erzähler das weitere Schicksal der Figuren des Romans verfolgen lässt, vergehen noch vier Monate. Doch Veit kehrt als ein anderer zu seiner Truppe zurück. Das Leben in den zurückliegenden zwölf Monaten hat ihn reifer gemacht, nachdenklicher, erwachsener. War seine Zukunft vorher nur der Krieg, so gibt es plötzlich Dinge in seinem Leben, auf die er sich freuen kann, wenn alles vorbei ist, die es wert sind, dass man sich vornimmt, für sie zu überleben.

Unter der Drachenwand ist ein eher unspektakuläres Buch. Und genau das ist seine Stärke. In nüchtern-sachlichem Berichtston – nur Veit greift gelegentlich zu einer mehr bildhaften Sprache – lässt es vier Zeugen zu Wort kommen, die dem Leser die menschliche Dimension des Lebens im Krieg begreifbar machen. Abseits der Schlachtfelder und nur überdröhnt vom Lärm der Flugzeuge, die den Tod woandershin bringen, ist der Krieg für Geigers Helden und all jene, die ihm in Mondsee begegnen, dennoch immer präsent – in den Köpfen, in den Träumen, in den Ängsten, gegen die sich Veit Medikamente verschreiben lässt, ehe ihn eine Liebe rettet und auf neue Wege führt. Auffälligstes stilistisches Mittel des Textes sind übrigens die vielen Schrägstriche, mit denen der Autor das Gesagte rhythmisiert und Nachdenkpausen schafft. Für Geiger selbst sind sie, wie er in einem Interview bekannt hat, „mehr als [ein] Punkt und weniger als ein Absatz.“

Titelbild

Arno Geiger: Unter der Drachenwand. Roman.
Hanser Berlin, Berlin 2018.
480 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783446258129

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