Gottfried Kellers Okkultismus

„Die Geisterseher“ – eine (Re)Konstruktion und Spurensuche

Von Kay WolfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Wolfinger

Dies ist eine Annäherung an ein wenig bekanntes Gebiet, an einen, ausgehend von den Erzähltexten dieses Autors, nicht häufig adressierten Zusammenhang. Sie macht sich interpretativ auf die Spur des Ghost Writers Gottfried Keller. In diesem Kontext stellt sie insbesondere die Frage, inwiefern man dessen Werk dahingehend funktionalisieren könnte, darin okkulte oder okkultistische Spuren an die Oberfläche zu befördern.

1. Zur Konstruktion von Kellers Okkultismus

Wie sah Kellers Interesse am Okkultismus ‚tatsächlich‘ aus? Diese in der Tat schwierige Frage können wir nicht mit letztgültiger Gewissheit beantworten. Aber es ist anzunehmen, dass bei ihm keine tiefere Verbundenheit mit okkultistischen Vorstellungen vorliegt, wie man sie als immerhin theoretische Auseinandersetzung etwa bei Wilhelm Raabe, um einen Vertreter des Realismus zu nennen, oder bei Gustav Meyrink voraussetzen kann.

Nichtsdestoweniger hat aber Philipp Theisohn in seinem NZZ-Artikel Besessen von den Toten. In Gottfried Kellers Werken herrscht ein ziemlicher Geisterverkehr und ein grosses Gedränge der Untoten. Er exorzierte damit auch seine Zeitgenossen darauf hingewiesen, wie und in welchem Sinne eine Verbindung Kellers zum Okkultismus konstatiert werden könne. Sein Ausgangspunkt ist ein vermeintlich aus dem Besitz Kellers stammendes „Konvolut dreier zusammengebundener Drucke aus dem 16. Jahrhundert, nämlich Johann Weyers ‚De praestigiis daemonum‘ (1563), Abraham Saurs ‚Theatrum de veneficis‘ (1586) und Johann Fischarts Übertragung von Jean Bodins ‚Daemonomania‘ (1581) – drei dem Frühneuzeitforscher wohlbekannte Kompendien über die Beschwörung von Geistern, das Hexenwesen, magische Praktiken.“[1] Da man dämonologische Textspuren bei Keller aber nicht direkt nachweisen kann, greift Theisohns Artikel zu einem Trick: Er ortet sensibles Wortmaterial und deutet die Züricher Novellen als Geschichte eines Exorzismus. „Sieht man einmal genauer hin, dann zeigt sich, dass dieses Erzählen von Anfang an in der Tat ‚besessen‘, dem Treiben der Geister ausgeliefert ist und sich vor ihnen zu schützten versucht.“ Denn: „Die Geister der Geschichte zu bändigen, das ist eine hohe Kunst, die nur eine Literatur beherrscht, die im wahrsten Sinne des Wortes über ‚nekromantische‘ Fähigkeiten verfügt, also: die Toten zu beschwören vermag.“

Diese immens reizvollen Überlegungen seien hier eingangs angesprochen, zeigen sie doch, wie eine gelungene literaturwissenschaftliche Erzählung über das Werk eines großen Literaten wie in diesem Falle Keller aussehen kann.

2. Alle Männer sehen Geister – im „Sinngedicht“

Im Folgenden aber werde ich mich einer Erzählung oder Novelle Kellers widmen, die unser Interesse und ihre Bedeutung im Gesamtgefüge unseres Themenbereichs evident werden lässt. Als zehntes Kapitel der Novellensammlung Das Sinngedicht setzt Keller den schon im Titel auf Schiller anspielenden Text Die Geisterseher, der in der Keller-Forschung lange als eher unbedeutend galt.[2] Im Kontext der Novellensammlung kommt ihm jedoch eine besondere Position zu. „Wird Lucies eigene Lebensgeschichte im dreizehnten Kapitel – obwohl nicht eigens tituliert – als eigenständige Erzählung angesehen, dann ist Die Geisterseher die Mitte von insgesamt sieben Erzählungen und erhält dadurch eine ‚Schlüsselstellung‘.“[3] Auch die Forschung hat in den letzten Jahren verschiedentlich darauf hingewiesen, dass sich verschiedene Prätexte und Auseinandersetzungen mit Geistergeschichten darin verbergen. Der hierzu jüngste Beitrag stammt vom Stuttgarter Germanisten Philipp Ajouri, der feststellte, dass man die Partnerwahl im Text – unheimlich genug – in Anspielung auf Darwins ‚Natürliche Zuchtwahl‘ lesen kann. Dem lässt sich anfügen, dass man auch deshalb die Geisterseher im Sinngedicht auf vielen Ebenen suchen und finden kann, weil jede und jeder seinen eigenen Geistern auf der Spur ist.

Doch von Anfang an: Als dem Oheim, einem der Erzähler in der Rahmenerzählung, die Aufgabe zufällt, eine Geschichte für den Novellenkranz zu liefern, will er mithilfe eines – so sei es nun bezeichnet – okkultistischen Themas dazu beitragen, die Dekonstruktion von Wahlfreiheit im Leben und vor allem in der Liebe vor Augen zu stellen:

Mit unserer Wahlfreiheit und -herrlichkeit, bester Freund, ist es nämlich nicht gar so weit her, und wir dürfen nicht zu sehr darauf pochen! Wenigstens habʼ ich die Ehre, Ihnen in mir einen alten Junggesellen vorzustellen, der vor langen Jahren einst zum Gegenstande der Wahlüberlegung eines Frauenzimmers geworden, als er nur die Hand glaubte ausrecken zu dürfen, und dabei so schmählich unterlegen ist, daß ihm das Heiraten für immer verging. Wenn Ihr es hören wollt, so will ich Euch das Abenteuer, so gut ich kann, erzählen. (HKKA, Bd.7, S. 176)

Der Oheim erzählt eine Geschichte aus dem eigenen Leben, eine Geschichte, die mit seiner eigenen Liebe zu tun hat, mit der Wahlmöglichkeit einer Frau, die sich schlussendlich gegen ihn entschieden hat. Im Hinblick auf seine Ausgangsposition, mit welcher Prägung seines Wesens sein jugendlicher Charakter in diese Geschichte gestartet sei, berichtet uns der Text von seinem „heroische[n] Dasein, welches bald in ein halbkatholisches Romanzentum, bald in eine grübelnde Geisteskälte hinüberschillerte. Ich war bald mehr ein aufgeklärter Mystiker, bald mehr ein gläubiger Freigeist“ (178). Diese Ausgangsposition ist nicht nur interessant aufgrund seiner Berührung mit einem okkulten Interesse, sondern interessant ist auch, dass der Text im funktionalen Schaltkreis der Personenkonstellation dem Ich-Erzähler einen Freund zur Seite stellt, der „fast in allem das Gegenteil von mir zu sein schien.“ (179) Wenn auch in diesem Zitat noch der Schein angesprochen wird, ist klar, dass Mannelin, wie der Spitzname des Freundes lautet, in einer Dichotomie als Vertreter der Vernunft aufgebaut wird, demgegenüber der aus seinen Erinnerungen berichtende Oheim als ein junger Mann geschildert wird, der im Folgenden Gesichte haben wird, dem die zentrale Frauengestalt immer wieder wie ein Geist erscheint und der überhaupt die Neigung hat, irrationalistische Welterklärungsmodelle für seine Weltwahrnehmung in Anspruch zu nehmen. So heißt es wenig später: „Mit großer Duldsamkeit ertrug er meine Vorliebe für das Unerklärliche und Uebersinnliche, das ich fortwährend in allen Dingen herbeizog und anrief, und verteidigte ohne allen Eifer seinen Standpunkt der Vernunft, wie einer, der es besser weiß, aber es nicht gerade fühlen lassen will.“ (179f.) – ein interessanter Befund innerhalb einer Erzählung, in der es um Gefühle der Liebe und um das Werben um eine ersehnte Frau gehen wird. Mannelin nimmt für sich daher auch ganz die Kant’schen Erkenntnisgrenzen in Anspruch; er „war schon von seinem Vater her ein geübter Kantianer und ließ, was darüber hinausging, sich nicht anfechten.“ (180) Philip Ajouri schreibt:

Mit dem Hinweis, dass der Kanzler Kantianer ist, greift Keller die Opposition Kants gegen Emanuel Swedenborg auf, wie der Königsberger sie in Träume eines Geistersehers (1766) ausformuliert hat. Kant steht in Kellers Erzählung für die Beschränkung der Vernunft auf Erscheinungen in Raum und Zeit, und umgekehrt die Annahme, dass das, was in Raum und Zeit stattfindet, auch mit dem Verstand ergründet werden kann. Der Gegensatz hierzu ist die phantastische Schwärmerei des Marschalls, der unterliegt.[4]

In der Vernunftlogik des Textes wird gezeigt, wie wenig zielführend die Vorstellung des Ich-Erzählers ist, dass die Frau, in die sich sein Freund und er gleichermaßen verliebt haben, eigentlich nur ihm zugehörig sei. „[I]ch dagegen kann nicht leugnen, daß ich mich heimlich für prädestiniert hielt, weil die Schöne ebenso stark brünett war, wie ich selber, Mannelin hingegen der blonden Menschenart angehörte.“ (181) In der Auflösung dieser Beziehungsverwirrung wird der Text daher auch die Vernunft über die eigentlich okkultistische Anlage der Geisterseher siegen und die folgende Regel der geliebten Hildeburg nur bedingt zur Anwendung kommen lassen: „Wenn beide fallen oder beide zurückkehren, werde ich ledig bleiben, als das Opfer eines heillosen unnatürlichen Naturspieles oder unvernünftigen Ereignisses, das in meiner Seele und meinen Sinnen vorgeht und das ich vor der Welt verbergen muß, wenn ich mich nicht mit Schmach bedecken will!“ (183f.)

Als der Freund vermeintlich im Krieg fällt, ist dies folgerichtig für Hildeburg eine schreckliche Botschaft. Erst neigt sie sich dem Ich-Erzähler wieder aufs Neue zu, dann jedoch – sie entwickelt sich auf ganz eigene Weise zur Geisterseherin – „blieb sie wieder tagelang in sich gekehrt und lebte sichtlich mit düsteren Sinnen in der Ferne. Mein eigener Zustand schwankte daher fortwährend zwischen Hell und Dunkel hin und her“ (190).

Das plötzliche wohlbehaltene Auftauchen des gefallen geglaubten Freundes wird „das unverhoffte Wiedersehen“ (190). Und wie es anders nicht sein könnte, kommt die eigentliche okkultistische Thematik der Geisterbeschwörung in Fahrt, als beide Freunde, um Hildeburg konkurrierend, die Nacht im Anwesen ihrer Eltern verbringen wollen. „Ein Bett für mich solle trotz der mangelhaften Einrichtung bereit sein, meinte sie, und vor Gespenstern würde ich mich wohl kaum genieren. Denn es gehe die Rede, daß in dem älteren Flügel des Hauses etwas nicht richtig sei.“ (192) Dieses Nichtrichtigsein erweist sich als der eigentliche Störfaktor im Beziehungsgeflecht des Dreiergespanns, und Mannelin fragt den Erzähler lachend, „[o]b ich noch unter die Geisterseher gehen wolle“ (193).

Die Vorabkenntnis der „Spukgeschichte“ ist vonnöten, um schon im Vorfeld somatisch auf den sich ankündigenden Spuk vorzubereiten. Der Ich-Erzähler bekommt daher „geheime[s] Herzklopfen“, während Hildeburg sich – auch hier ist der Begriff bezeichnend – „in die Unsichtbarkeit zurück[zieht]“. (194) Man mag sich fragen, was ihre Unsichtbarkeit mit der Geisterseherei, die im Ich-Erzähler ausgelöst werden wird, zu tun hat. Wie sich der Spuk im Folgenden vollzieht, ist bezeichnend, weshalb wir den Aufbau dieser Szene im Einzelnen betrachten sollten: Der Ich-Erzähler schreckt aufgrund eines Knallgeräusches aus tiefem Schlaf. Die Szene weist die üblichen Aspekte auch realweltlicher Spukphänomene auf. Eine Fokusperson ist nach der ersten, hier akustischen Wahrnehmung verwirrt, optisch kann er zuerst nichts wahrnehmen; „nichts war zu sehen oder zu hören, als der unheimliche Mondglanz auf der dunkeln Schreibkommode.“ (195) Bezeichnenderweise ist es dieses Möbel, auf das sein Blick fällt. Erst im Anschluss folgen weitere wahrnehmbare Phänomene: ein kalter Hauch; die Bettdecke wird ohne offensichtlichen Einflussnehmer fortgerissen; weitere akustische Wahrnehmungen. Dann „steht schon einen Schritt links von mir eine gebeugte graue Weibergestalt mit einer verschollenen Schleiermantille um den Kopf“ (196). Sie hantiert dort mit einem Schlüssel und öffnet ein Fach, wie sich der Ich-Erzähler erinnert: „Ich höre dort abermals ein Schlüsselchen umdrehen und sehe die Gestalt ein zweites verborgenes Fach hervorziehen, aus welchem sie hastig ein Paket nimmt, es öffnet und ein darin liegendes Papier entfaltet, in welchem ein drittes enthalten ist, das sie wiederum auseinanderschlägt.“ (196f.) Die Szene bleibt in gespenstisches Mondlicht getaucht, die Gestalt bückt sich „tiefer auf das aufgeschlagene Papier, das jetzt einen stattlichen Foliobogen darstellt, und liest darin, liest, nachdem das Gespenst eine Brille aufgesetzt hat, einen veritablen Nasenklemmer! Jetzt erst setzt sie den Finger auf eine Stelle und fängt an, etwas auszuradieren.“ (197) Da weder der Leser noch der Ich-Erzähler erfahren werden, was dort getilgt wird – im übertragenen Sinne ist es die Chance des Erzählers auf das Glücken der Liebesbeziehung, die aufgrund seiner Geistergläubigkeit, wie sich herausstellen wird, eliminiert wird –, deutet er die Zeichen narrativ um, wie häufig zu Spukphänomenen Erklärungsmuster in vermeintlichen Geisterbiografien gesucht werden: „Hier ist einstmals ein Vertrag gefälscht, ein Geburtsrecht, ein Erbe, ein Lebensglück gestohlen worden!“ (197)

Diese Deutung des Onkels setzt sich insoweit fort, als er die Geistererscheinung mit einem „infame[n] Hexengesicht“ beschreibt. Was könnte in der subjektiven Beschreibung, nachdem man die Auflösung kennt, unpassender sein? „Nase, Kinn, der Mund, alles grinste wie in blühendem Leichenwachs ausgeprägt mir entgegen, voll Hohn und Grimm, wie das dunkle Feuer in den doch unkenntlichen Augen.“ (198) So banal die Wahrheit, die hinter dem Geist steht, so schlicht ist die Erscheinungsweise des Schreibtisches, an dem sich der Geist zu schaffen gemacht hat, nimmt man das Mondlicht fort: „Die Schreibkommode war am Tage ein ganz gemütliches Möbel.“ (199) Bei Tageslicht, nach Verschwinden der Geister-Erscheinung, treten nicht nur die profanen Dinge wieder in ihre Sichtbarkeit, während zugleich ein Subtext – das Begehren, das sich auf die Frau richtet – wieder unsichtbar wird, sondern mehr noch wird die den Ich-Erzähler beschwerende „übersinnliche Jenseitigkeit mit ihren dunklen Schatten“ (200) zum zentralen Gegenargument der ihm gestellten Geisterprüfung. Denn im Ergebnis, als sein dem Prinzip der Aufklärung verpflichteter Konkurrent, der sich von der Verkleidung nicht täuschen lässt, dem Geist die Wachsmaske im Mondlicht herabreißt und Hildeburg enttarnt, bekräftigt dies ihre Wahl. „[A]lles das wäre mein gewesen“, klagt der das romantische Prinzip vertretende Ich-Erzähler, „wenn ich in der vorigen Nacht den einfachen Verstand des verfluchten Duckmäusers besessen hätte!“ (204) Dies erinnert natürlich an Schillers Geisterseher, „dessen Prinz mit seinem Schwanken zwischen religiöser Schwärmerei und Freigeisterei unübersehbar die Grundzüge vom Charakter des Marschalls [so der von der Geliebten vergebene Spitzname des Ich-Erzählers] lieferte.“[5] Geisterseherei bedeutet hier eben auch, dass man dem, was zu sehen ist, die falsche Wirklichkeitsdeutung überzustülpen versucht.

3. Geisterspuk in Kellers Leben und Schreiben

Im Anschluss an diesen Blick in Kellers Die Geisterseher sei noch auf ein weiteres, kanonisch gewordenes Verfahren hingewiesen, die Keller-Geister zu entdecken. Mit Philipp Theisohn haben wir zum Ersten gesehen, wie man ausgehend von einem konkreten (okkultistischen) Buchbestand Geister in Kellers Texten zu finden vermag. Zum Zweiten haben wir in den okkulten Sachverhalten der Novelle Die Geisterseher einen konkreteren Bezug Kellers zum Okkultismus und zu Anspielungen auf Spuk- und Schauertexte festgestellt. Nun sei zum Dritten noch darauf hingewiesen, wie sich die Keller-Geister, extrahiert aus Kellers Werken, in einer mehr biografistischen Lesart auch in seinem eigenen Leben verorten lassen. Mustergültig vorgeführt hat dies der Schriftsteller W. G. Sebald, der er in seinem Essay Her kommt der Tod die Zeit geht hin. Anmerkungen zu Gottfried Keller[6] beispielsweise zu den Motiven Arbeit, Entbehrung, Armut und Dunkelheit bemerkt, dass „[d]erlei Gespenster […] bei Keller überall um[gehen]“ (101), und darauf hinweist, dass „[t]atsächlich […] ja die Ausgewanderten in der damaligen Zeit in der Regel so wenig nach Hause zurückgekehrt [sind] als die Toten“ (109). Bereits motivischen Allusionen haftet demnach bei Keller etwas Geisterhaftes und Gespenstisches an. Der Essay ist Teil von W. G. Sebalds Projekt Logis in einem Landhaus, das diejenigen alemannischen Autoren umkreist, die für Sebalds eigenes Schriftstellerleben als Vorbild und Deutungsfolie fungieren. Die Lektüre dieser Autoren und darum auch die Gottfried Kellers hat etwas Geisterhaft-Schicksalhaftes, denn aufgrund seiner Keller-Lektüre gelangt Sebald zu Robert Walser, einem anderen wichtigen Autor seines Lebens. In Sebalds Lektürebewegungen kommt es so zu einer eigentümlichen, beinahe okkult anmutenden Verschränkung von Gottfried Keller und Robert Walser:

Zu den Anfängen meiner Walser-Lektüre in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre gehört auch, daß ich damals, einliegend der in Manchester von mir antiquarisch erstandenen dreibändigen Keller-Biografie von Bächtold, die mit einiger Gewißheit aus dem Nachlaß eines aus Deutschland vertriebenen Juden stammt, eine schöne Sepia-Fotografie von dem ganz aus von Buschen und Bäumen umstandenen Haus auf der Aare-Insel gefunden habe. (162)

Sebalds Essayistik lädt den Zusammenhang zu Kellers Werk und Leben hier nicht nur durch ein weiteres Beispiel aus der Literaturgeschichte auf, sondern er schlägt, biografistisch, aber autopoetologisch geschickt, auch einen Bogen von Kellers Werk hin zu seinem Leben und zu den Themen, die seine Text vermeintlich bestimmen: „Es stimmt zu diesem Festhalten am irdischen Leben, daß die Erlösungssehnsucht in den Erzählungen Kellers nirgends deutlicher sich meldet als in der von ihm, ganz gegen die eigene Erfahrung, immer wieder imaginierten Vollendung der Liebe.“ (116) Sebald weist auch darauf hin, „daß Kellers erotische Sehnsucht auf eine Vertauschung der von der Gesellschaft vorgeschriebenen Rollen der Geschlechter ging.“ (120) Finden könnte man dies, so sei an dieser Stelle nachgetragen, nicht zuletzt auch im vierten Kapitel des Sinngedichts, unter dem Titel Worin ein Rückschritt vermieden wird, wo von dem stattlichen Frauenzimmer vor dem Wirtshaus erzählt wird, einer Frau, die Reinhart vorschlägt, endlich um sie zu werben. Andernfalls sei sie gezwungen, die Geschlechterrollen zu vertauschen, so dass die Frau um ihn werben müsse. Die okkulten Geister erscheinen in diesem Falle mithin als biografische Schmerzenspunkte in Gottfried Kellers Leben, die gemäß dieser alles auf das Leben zurückrechnenden Sebald’schen Betrachtung direkten Niederschlag in Kellers Schreiben gefunden haben.

4. Keller okkult und Kellers Okkultismus

Dass sich gemäß Sebalds Überlegungen ein okkulter, nicht sichtbarer Anteil von Kellers Leben mit seinem Werk verschränkt, ist natürlich nicht absolut nachweisbar. Doch geht es ja auch in Die Geisterseher in der Tiefe, jenseits der Bewährungsprobe des Spuks, um ein Erhört- und Erwähltwerden durch die geliebte Frau, was auch Sebald in seinem Keller-Essay biografistisch aufgenommen sehen möchte, wenn aus der Geisterschau ein Leiden an der Liebe wird: „Kellers Leben war ja von Anfang an, trotz einem tiefen Liebesbedürfnis und einer offenbar unerschöpflichen Liebesfähigkeit, gekennzeichnet von Zurückweisung und Enttäuschung.“ (122) Diese Feststellung, die sich sowohl durch Kellers Leben zieht als auch in zahlreichen Liebeskonstellationen seines Werkes wiederkehrt, lässt sich materialiter auf Kellers Manuskripte und auf die poetologische Thematisierung von Schreib-Szenen in seinem Werk zurückbeziehen. Es ist keine nur randständige Tatsache, dass der erscheinende Geist, die Auslöserin des Spukphänomens in Die Geisterseher, die geliebte Hildeburg selbst ist, also diejenige Frau, die sich als Geist an einem Schreibtisch zu schaffen macht und dort Manuskriptpapier bearbeitet. Materialisierte Geisterspuren einer Geliebten Kellers findet man, im Sinne Sebalds, beispielsweise in Anbetracht der Schauspielerin Johanna Kapp:

Auch die Heidelberger Schauspielerin ist in der Umnachtung vergangen. Es gibt in der Züricher Zentralbibliothek ein kleines Aquarell Kellers, das eine ideale Baumlandschaft darstellt und das […] an Johanna Kapp gelangte, die in der Zeit ihrer Krankheit aus dem unteren Teil des Bildes in einer feinen Operation zirka ein Viertel herausschnitt. Was sie zu diesem drastischen Eingriff veranlaßte, wissen wir nicht, noch, wie es Keller zumute war, als er das verstümmelte Werk, nachdem es aus Johannas Nachlaß zurückgekommen war an ihn, wieder in Händen hielt. Aber vielleicht dünkte es auch ihn, daß die schneeweiße Leere, die sich da hinter der beinahe transparenten Landschaft auftut, schöner ist noch als das Farbenwunder der Kunst. (122–123)

Was sich aufgrund eines bestimmten Geistes-Zustands ins Papier eingeschrieben hat, was sich schemenhaft auf dessen schneeweißen Leere abzuzeichnen beginnt, mag an die Kritzeleien des Grünen Heinrich denken lassen und damit auch an Kellers nahezu zeitgleich neben dem Grünen Heinrich entstandenen eigene Kritzeleien, die Sebald gleichfalls argumentativ miteinander verbindet.

Die Beschreibung des hochgradig melancholischen Kritzelwerks erinnert an die blauen Papierbögen, die Keller, als er in Berlin an seinem Bildungsroman saß, zur Unterlage benutzte und auf die er den Namen seiner unerwiderten Liebe in langen verschlungenen Linien, Spiralen, Kolonnen und Schlaufen in vielhundertfacher Variation festgehalten hat. (124–125)

Besonders augenfällig in unserem okkultistischen Zusammenhang sind natürlich der Sensenmann und das Knochengerippe, die Keller wie zum Anklang ans Reich der Toten aufs Papier gesetzt hat. Jenes Nekromantische der Kunst Gottfried Kellers, das wie etwas grausames Okkultes auf sein Leben selbst überschlägt, beschreibt Sebald folgendermaßen:

Die Kunst des Schreibens ist der Versuch, das schwarze Gewusel, das überhand zu nehmen droht, zu bannen im Interesse der Erhaltung einer halbwegs praktikablen Persönlichkeit. Lange Jahre hat Keller sich dieser schweren Bemühung unterzogen, obwohl er früh schon wußte, daß sie letztendlich nichts verschlug. (125–126)

Die Exorzismen, welche Keller in seinen Novellen vollzieht, wie Theisohn festgestellt hat, die für und wider die Aufklärung streitenden Kräfte, wie er sie in Die Geisterseher zur Darstellung bringt, und die Schatten seines Lebens, die auch in okkulten Passagen seines Werkes wirksam werden und sich nicht wie die Schrift durch den Geist der Novelle vom Papier radieren lassen, belegen: „Das Exil, wie Keller es beschreibt, ist ein Purgatorium ein Stück außerhalb dieser Welt.“ (110)

Dieses Außerhalb-dieser-sichtbaren-Welt ist ein bedeutender Aspekt von Gottfried Kellers Okkultismus, vielleicht sogar dessen okkulte Essenz, dass nämlich im Unsehbaren das Wesentliche erst sichtbar wird.

Hinweis: Der Essay basiert auf einem Vortrag, der am 25.05.2019 an der Universität Zürich im Rahmen des internationalen Kongresses „Welt Wollen. Gottfried Kellers Moderne (1819–1890)“ gehalten wurde.

Anmerkungen:

[1] Philipp Theisohn: Besessen von den Toten, in: Neue Zürcher Zeitung, 25.5.2015. https://www.nzz.ch/feuilleton/besessen-von-den-toten-1.18547312 (22.05.2019).

[2] Philip Ajouri: Vom unerklärbaren Übernatürlichen zur unerklärten Natur. Gottfried Kellers Die Geisterseher und sein romantischer Prätext, E. T. A. Hoffmanns Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, in: Dirk Göttsche, Nicholas Saul (Hg.): Realism and Romanticism in German Literature. Realismus und Romantik in der deutschsprachigen Literatur. Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 261–295, hier: S. 261. Der Kommentar in der großen Keller-Ausgabe lautet: „Anfang Februar 1877 las er von Anton Birlinger mitgeteilte Zauber- und Gespenstergeschichten, wohl keine direkte Quelle, vielleicht aber eine Anregung für Die Geisterseher.“ (HKKA, Bd. 23.1, S. 31. Zitate aus der HKKA im Folgenden im Fließtext mit Seitenangabe.)

[3] Ajouri, S. 262.

[4] Ajouri, S. 284.

[5] Ajouri, S. 286.

[6] W. G. Sebald: Her kommt der Tod die Zeit geht hin. Anmerkungen zu Gottfried Keller, in: ders.: Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser und andere, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003, S. 95–126.