Der Untergang des Abendlandes

Julien Gracqs Romanfragment „Das Abendreich“ erscheint erstmals in deutscher Übersetzung

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Julien Gracq ist ein Sonderfall der französischen Literatur. Der 1910 geborene und 2007 im hohen Alter verstorbene Autor ist keiner Schule zuzuordnen, sondern steht für sich. In seinen Texten verbinden sich romantische und surrealistische Einflüsse mit phantastischen und solchen des magischen Realismus. Gracq ist aber ganz und gar kein Realist, sondern ein Phantast, dessen Texte von einer kompromisslos elaborierten Stilistik und der Konzentration auf Stimmungen und Atmosphären geprägt sind. Wie der Übersetzer Dieter Hornig in seinem Nachwort schreibt, hat der Roman für Gracq einen Wert an sich und soll über die Sprache eine neue und extreme Erfahrung darstellen. Das hat ihn 1939 mit Auf Schloß Argol in die Nähe der Surrealisten gerückt und ihm die große Bewunderung André Bretons eingebracht. Er blieb jedoch zeit seines Lebens ein Einzelgänger und schloss sich keiner Gruppierung an.

Im Sommer 1953 schrieb Gracq Das Abendreich, vollendete den Text aber nie. Entsprechend abrupt endet das Buch. Der Originaltitel, unter dem es 2014 durch den Verlag Corti aus dem Nachlass herausgegeben wurde, lautet Les terres de couchant. Der Titel, der nicht ganz exakt und sinnvoll ins Deutsche übersetzt werden kann, enthält eine Anspielung auf die Metapher vom „Abendland“.

In dem Romanfragment wird eine Reise durch ein Königreich beschrieben, das an den Grenzen von Barbarenhorden angegriffen wird. Das Reich erscheint alt, satt und selbstzufrieden, in der Hauptstadt Alt-Brega wird die Bedrohung nicht einmal ernst genommen und, wie Gracq mit treffenden Formulierungen ausführt, kleingeredet. Die Barbaren zeichnen sich hingegen durch radikale Kompromisslosigkeit und Kampfeswillen aus, auf Verhandlungsangebote gehen sie grundsätzlich nicht ein. Der namenlose Protagonist und Ich-Erzähler reist mit einigen Freunden verbotenerweise an die Grenze, um in den Kampf zu ziehen. Dazu müssen sie, auch das ist verboten, eine hohe Grenzmauer überwinden, die nicht umsonst an die chinesische Mauer erinnert. Sie schließt ein Reich ein, das für sich bleiben und sich gegen Einflüsse von außen abschotten will. Der Kampf selbst wird weniger als Handlung denn als ein Feld neuer, auf- und anregender Erfahrungen und Sinneseindrücke wahrgenommen, als echtes und intensives Leben, in dem der Protagonist sich erstmals vollständig fühlt.

Kampf und das aktive Vorantreiben von Aktion interessieren den Sprachkünstler Gracq aber nicht. In einer flirrenden, intensiven Sprache schildert er Atmosphären, Empfindungen, Sinneseindrücke, ohne psychologisch zu werden. Als die eigentlichen Protagonisten stellen sich die Natur, die Landschaft, das Licht, die Reise selbst heraus, hinter denen der Mensch fast verschwindet. Selbst wenn er Kampfhandlungen schildert (was nur gegen Ende einige Male vorkommt), verliert sich dieser Duktus nicht, so dass gerade der Krieg, auf den es – wenn man in Aktionen denkt – ja eigentlich hinauslaufen sollte, in einer geradezu irritierenden, fast traumhaften Distanz aufscheint.

Gracq vermeidet eine räumliche oder zeitliche Einordnung. Das Königreich ist am ehesten als ein europäisches Gebilde zu beschreiben, das in einer zeitlosen Vormoderne verankert scheint. Einige technische Anspielungen deuten eine Art Frühe Neuzeit an. Die Barbaren werden gelegentlich in die Nähe asiatischer Steppenkrieger gerückt, als stünde das Heer Dschinghis Khans vor den Toren. Dies sind jedoch nur Versatzstücke, die an der Phantastik des Szenarios nichts Grundlegendes ändern.

Wer im Abendreich eine Nähe zu Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen vermutet, liegt richtig. Gracq entdeckte Jüngers Buch 1941 in einer Bahnhofsbuchhandlung und war regelrecht überwältigt von dessen Prosa. Auch Jünger interessieren Stimmungen, Sinneseindrücke und Atmosphäre mehr als Handlung. Beiden wird die Welt zum Schauspiel und zum Wirkungsort der eigenen Wahrnehmung. Die Parallelen liegen auch im Szenario. Bei Jünger ist es ein friedliches Reich am Meer, welches von Barbaren bedroht und schließlich vernichtet wird. Während Gracqs Protagonist aber einem geistlichen und zugleich kriegerischen Orden angehört, erscheint er bei Jünger als Naturphilosoph und Dichter. Bei Jünger sind die Horden des „Oberförsters“ als Metaphern für die nationalsozialistische Barbarei lesbar; bei Gracq ist eine solche Engführung kaum möglich.

Von hier aus lassen sich weitere Unterschiede zwischen beiden Büchern und den dahinter stehenden Haltungen näher bestimmen. Gracqs Reisender will hinein ins Geschehen, ist auf eine Intensivierung seines Lebens aus, verbleibt aber eingewoben in seine oft traumhaft entrückten Empfindungen und Wahrnehmungen. Was bei Gracq gleichsam „warm“ wirkt, erscheint bei Jünger als Idealisierung einer kühl-distanzierten Haltung, die sich loslösen will von der Welt. Der im Sizilischen Brief an den Mann im Mond beschriebene „stereoskopische Blick“, in dem er diese distanzierte Haltung des Überblicks erstmals entwickelt, ist Gracqs Sache nicht, auch wenn er gleichfalls gerne die hohe Warte als Beobachtungsposten einsetzt.

Die gelegentlich behauptete Nähe zu J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings, das Gracq später ebenfalls mit Begeisterung las, erschließt sich jedoch kaum. Es ist gerade die Sprache, die hier einen eklatanten Unterschied aufstellt. Auch wenn Gracqs Königreich eine durchaus phantastische Anmutung bekommt und die Naturkulisse der Grenzstadt Roscharta monumental und beeindruckend geschildert wird, hat es mit Mittelerde doch nicht viel zu tun. Auch die Bedeutung des Krieges, der hier wie dort ein zentrales Movens ist, unterscheidet sich grundsätzlich. Man kann erneut auf die unterschiedlichen Atmosphären verweisen, die Gracq und Tolkien deutlich voneinander absetzen.

Was Gracq wiederum mit beiden Autoren verbindet, ist seine betont männliche Sichtweise. Der Umstand, dass es Männer sind, die ihren Weg abschreiten, ist von zentraler Bedeutung. Frauen kommen als eigenständige Figuren nicht vor, sie gehören gewissermaßen zum atmosphärischen Umfeld, in dem sich der Erzähler bewegt und das er erzählend konstituiert: Sie singen, sie stehen am Straßenrand, manche wandern auch auf den Straßen. Einige erotische Abenteuer werden angedeutet. Aber auch selbständiger auftretende Frauen gewinnen ihren Stellenwert nur durch den männlichen Blick. Allerdings treten auch von den Männern nur die Reisegefährten aus der Anonymität heraus und erfahren so eine gewisse Konturierung. Das ist aber keine Schwäche, sondern Stil: Eine psychologische Tiefe der Figuren widerspräche dem Stilwillen des Autoren und seiner Konzentration auf Sprache und Stimmung.

Es ist der kongenialen und einfühlsamen Übersetzung Dieter Hornigs zu verdanken, dass Gracqs Sprachkunstwerk Das Abendreich nun auch auf Deutsch zu lesen ist. Der österreichische Droschl-Verlag ergänzt damit seine Herausgabe wichtiger Texte Gracqs um ein herausragendes Werk aus dem Nachlass.

Titelbild

Julien Gracq: Das Abendreich. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Dieter Hornig.
Literaturverlag Droschl, Graz 2017.
220 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783854209874

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