Das fucking Problem mit Theo

Svenja Gräfen erzählt in „Freiraum“ von den Träumen der Millenials

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Großstadt ist out, das Landleben ist in: Was in der gesellschaftlichen Wirklichkeit eine Konsequenz von Wohnungsnot und Mietwahnsinn ist, wird immer häufiger auch von der Gegenwartsliteratur reflektiert. Die Kritikerin Ursula März diagnostizierte sogar schon eine Renaissance des Heimat- und Dorfromans. Bekanntestes Beispiel dafür ist Juli Zehs Bestseller Unterleuten, der auch gleich das Grundmuster lieferte: Meist geht es um bislang überzeugte Großstädter, die aufgrund ökonomischer Zwangslagen auf die urbane Vielfalt verzichten und sich nun im Soziotop Dorf zurechtzufinden versuchen.

Auch Sonja Gräfens neuer Roman Freiraum folgt diesem Muster, kombiniert es aber geschickt mit einem zweiten Thema, der Suche nach alternativen Wohn- und Lebensformen. Im Mittelpunkt stehen Vela und Maren, ein lesbisches Paar Anfang 30, das zwar das Nachtleben genießt, aber genug hat von schimmligen Tapeten, streikender Heizung und einem Vermieter, der sich nur meldet, wenn er noch mehr aus seinem Eigentum herausholen will. Zumal die beiden auch ihren Kinderwunsch verwirklichen wollen, via Samenspende aus Dänemark. Teuer zwar, aber dafür anonym; etwaige Bindungen zum Kindsvater soll es schließlich nicht geben, da sind sich die beiden jungen Frauen einig.

Das Paar hat Glück, wie es scheint: In einem Wohnprojekt außerhalb der Stadt ist überraschend etwas frei geworden. Ein großes Haus mit viel Platz und Garten, in dem es angenehm nach Holz und Kaffee riecht. In dem schon Marens Schwester Jo mit ihrem Freund und ihrer kleinen Tochter Eli wohnt. Nebst sympathisch bunten Mitbewohnern, die gern mal einspringen, wennʼs ums Kinderhüten geht. Dazu im nahen Ort ein großer Hofladen. Und gleich um die Ecke Wiese und Wald – was will man mehr?

„Die Idee hier ist“, so formuliert es Projektgründer Theo, der das Haus geerbt hat, „tatsächlich eine Alternative zu schaffen. Freiraum. Einen Ort, an dem es um mehr geht als um so ein Nebeneinanderher. Das heißt sich umeinander zu kümmern, sich zu unterstützen. Und in erster Linie auch ein Ort, an dem man überhaupt wohnen kann.“ Das „Konzept“ einer „Gemeinschaft“, ja „Kommune“, erscheint so verführerisch, dass die zum Gartenfest eingeladenen Nachbarn einfach nur begeistert sind. „Das löst doch auch viele Probleme, so was“, schwärmt eine Besucherin.

Zu diesem Zeitpunkt ahnt der Leser längst: „So was“ könnte auch neue Probleme schaffen. Der Konjunktiv ist hier allerdings wichtig, denn genau besehen, lässt es der Roman offen, ob solche Probleme in dieser „Oase“ inmitten des „Dreckskapitalismus“ tatsächlich existieren – oder nicht primär nur im Kopf von Vela, aus deren Perspektive der Roman erzählt ist. Im Unterschied zu ihrer Freundin, der notorisch optimistischen, begeisterungsfähigen Tänzerin Maren, ist die studierte Geisteswissenschaftlerin nämlich ein Kopfmensch, feinhörig für Untertöne und anfällig für in paranoide Abgründe führende Gedankenspiralen.

Schon in Das Rauschen in unseren Köpfen (2017), dem Romandebüt der 29-jährigen Autorin, Feministin, Netzaktivistin und Poetry-Slammerin, war es die Angst einer der Hauptfiguren, die Beziehungskrisen auslöste. Hier sorgt sie nun dafür, dass Vela mehr und mehr die klaustrophobische Enge der neuen Wohnsituation spürt, während Maren sich endlich angekommen fühlt. Auslöser für Velas wachsendes Unbehagen ist vor allem Theo, ein freischaffender Landschaftsarchitekt, der davon träumt, eines Tages den Welthunger mithilfe von Eicheln abzuschaffen. Ein Projektemacher und Gutmensch also. Und hinter der Fassade? Warum zum Beispiel taucht er sofort auf, als Vela bei ihrem ersten Ausflug in den Wald die Orientierung verliert? Was läuft da zwischen Theo, der doch eigentlich mit der Therapeutin Ellen zusammen ist (jedoch „nicht exklusiv“, wie Vela von Maren erfährt), und der Tischlerin Nat? Oder zwischen Theo und dem schwulen Ex-Schauspieler Darek?

„Was ist dein fucking Problem mit Theo?“, fragt Maren verärgert, weil sich Vela in dessen Haus mehr und mehr wie in einer „bescheuerten Seifenoper“ vorkommt. Eine Frage, die der Roman auf raffinierte Weise offenlässt, indem er Theo zu einer Kippfigur macht. Zum Beispiel sein Insistieren auf eine regelmäßige Aussprache unter den Mitbewohnern, die alle so ihre Geheimnisse haben, wie sich nach und nach zeigt: Handelt es sich dabei einfach nur um kluges Krisenmanagement oder am Ende doch um Kontrollwahn oder gar Patriarchalismus? Nicht anders bei seinem überraschenden Vorschlag, mit dem das Paar viel Geld sparen könnte – Ausdruck seiner Selbstlosigkeit oder betrachtet er seine Mitbewohner als eine Art „Harem“, wie Vela fürchtet?

Das alles ist von Svenja Gräfen in einer schnörkellos direkten Prosa erzählt, immer nah an der Umgangssprache und mit lebensnahen Dialogen ohne Anführungszeichen. Schade nur, dass die Autorin die Marotte hat, ihre Figuren unentwegt zu typisieren („So eine nämlich ist Maren“, „So eine ist Nat“ und so weiter), oder dass sie einmal die Perspektive wechselt, und zwar so unmotiviert, dass man es als handwerklichen Fehler werten muss.

Dabei pendelt Gräfens Roman zwischen den Ereignissen nach dem Einzug und der Vorgeschichte des Paares. Es sind gerade die Rückblicke, die am Beispiel von Maren und Vela zeigen, wie die Lebensträume der Millenials in der rauen Großstadtrealität zerplatzen und „Übergangslösungen“ zu Endstationen werden. Während Vela zum Beispiel in der Vorgeschichte hoffnungsfroh auf der Suche nach ihrem Traumjob im Medienbetrieb ist, hat sie in der Gegenwart offenbar längst resigniert; in einsamen Nachtsessions betreut sie die Leserkommentare einer Zeitungsseite. Freiraum ist ein lesenswerter Roman über die Träume und Illusionen der Generation Y, aber auch über das paradoxe Verhältnis von äußerer und innerer Freiheit.

Titelbild

Svenja Gräfen: Freiraum. Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2019.
304 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783961010370

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