Ein letzter Coup

Mit Stephen Greenalls „Winter Traffic“ kommt eine weitere Stimme der australischen Spannungsliteratur bei uns an

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mick Rawson hatte nie etwas dagegen, als Polizist ordentlich abzusahnen. Aber die Zeiten, in denen ihn seine Beziehungen zur Unterwelt von Sydney nicht nur mit Informationen, sondern auch mit jeder Menge Kohle versorgten, gehen langsam ihrem Ende zu. Man schreibt die frühen 1990er und inzwischen muss der Mann sich sogar schon vor den eigenen Leuten in Acht nehmen. Auch privat läuft es längst nicht mehr rund. Seine Wettleidenschaft hat ihn zunehmend ruiniert, seine Ehe ist den Bach hinuntergegangen, einen festen Wohnsitz scheint er auch nicht mehr zu haben und es kommt eher selten vor, dass er seine beiden Töchter in den Arm nehmen kann.

Karen Millar, auf genau dem entgegengesetzten Weg im Polizeiapparat der australischen Millionenstadt – Rawson zieht es nach unten, sie steigt auf, vielleicht sogar bis ganz an die Spitze, wenn Polizeichef Tony Berkovitch dabei mitspielt –, hat sich vorgenommen, den korrupten Cop mit dem unter Insidern längst ruinierten Ruf endgültig zur Strecke zu bringen. Entgegen kommt diesem Plan, dass es just Rawson ist, der ihr bei der Wiederaufnahme eines Entführungs- und Mordfalls zur Seite stehen soll, in dem er selbst einst mit anderen Kollegen eine mehr als dubiose Rolle spielte.

Stephen Greenall, geboren 1976, bringt mit seinem Debüt Winter Traffic neue Farben und vor allem Töne in die australische Spannungsliteratur. In den drei Romanteilen mit den Titeln Alpha, Beta und Omega läuft die Zeit jeweils rückwärts. Das erste Kapitel des ersten Teils trägt die Nummer 27. Von da an geht es hinunter bis zur 01 – ein Countdown, dem Greenall im dritten Teil noch einen draufsetzt, indem er das letzte Kapitel des Romans sogar im negativen Zahlenbereich enden lässt, bei -5 nämlich.

Diese ungewöhnliche Art der äußeren Strukturierung führt natürlich dazu, dass den Lesern zu Beginn ein paar wichtige Informationen vorenthalten bleiben. Dafür hat man aber bereits auf der ersten Buchseite zwei Leichen mit den merkwürdigen Namen Shark und Bison sowie eine viel zu fest geknebelte Frau namens Kristy. Nur auf die Erklärung der Vorgänge, die zu der beschriebenen Situation geführt haben, muss man noch ein paar Dutzend Seiten warten.

Vor allem mit Sutton, einer Art Gentleman-Gangster, scheint sich Sergeant Rawson richtig gut zu verstehen. Gemeinsam hängt man ab, schmiedet Pläne, macht Schulden beim Pferderennen, vertraut sich zu einhundert Prozent. Sutton ist mit der Straße und den hier herrschenden Tönen von Kindheit an vertraut. Die Reihe von Coups, die er gemeinsam mit korrupten Polizisten und den eigenen Leuten durchgezogen hat, ist lang. Aber auch er hat inzwischen Probleme, ist nicht mehr unumstritten unter seinesgleichen und muss sich mit Konkurrenten herumärgern, mit denen sich anzulegen unklug ist. Sich deshalb aus allen Geschäften zurückzuziehen scheint freilich auch nicht die Lösung zu sein. Zumal Sutton und Rawson noch einen letzten großen Plan verfolgen. Mit dem Überfall auf einen Geldtransporter – der Autor beschreibt die Tat lediglich aus der Funkspruchperspektive der anrückenden Ordnungskräfte – sollen die leeren Kassen noch einmal richtig voll gemacht werden, bevor endgültig Schluss ist.

Stephen Greenall erzählt die Geschichten um Rawson, Sutton, die 30-jährige Karen Millar, deren Eltern bei einem Verkehrsunfall früh ums Leben gekommen sind, und das Sydney des Jahres 1994 mit zahlreichen Anklängen an antike Heldenepen. Bei ihm sind die Straßen nicht voller Autos, sondern „Streitwagen“ kämpfen hier um jeden Meter. Stets geht es ums Ganze, prallen urzeitliche Gewalten aufeinander, tauchen Achilles, Ajax, Perseus und die ihren auf, um sich kurz darauf schnell zurückzuverwandeln in Polizisten, Biker und allerlei halbseidene Unterwelt-Figuren. In Winter Traffic können Hunde bestimmte Autotypen nicht ausstehen, wechseln sich lyrische Passagen mit knallharten Action-Momenten ab und verkörpert die Journalistin Lenny Clarke einen immer auf Sensationen und Scoops erpichten Berufsstand, in dem auch der Autor des Romans gelegentlich sein Geld verdiente.

Für die Lektüre von Winter Traffic – erst im letzten Drittel des Romans erfährt man, dass der Titel sich auf eine Yacht bezieht, „ein abgehalfterter alter Kahn“, „etwas kleiner, älter und breiter als der Durchschnitt“, den Karen Millar von ihrem Vater geerbt hat – sollte man sich unbedingt Zeit lassen. Nicht alles erschließt sich sofort, manches bedarf der Ortskenntnis, bei anderem stört es nicht, wenn es bis zum Schluss im Dunkeln verbleibt. Der Roman führt seine Leser auf die Spuren vieler Menschen und einer ganzen Stadt mit ihren hellen und dunklen Orten, Leidenschaften und Begierden, Sehnsüchten und Rivalitäten. Und so war er von seinem Autor wohl auch von Anfang an konzipiert, wie eine CrimeMag-Interviewpassage mit Alf Mayer unterstreicht, in der es heißt: „Aber wenn man die richtig guten Bücher liest, dann realisiert man, das Crime einfach Alles ist. Entschlossen geschmiedete Kriminalromane haben die Fähigkeit, sich drängenden sozialen Fragen und zeitlosen existentiellen Dilemmata zu stellen.“

Gewöhnlich ist es so, dass ein Inhalt sich die ihm entsprechende Form sucht. Manchmal ist es auch umgekehrt. Eröffnet hat das experimentelle Auf’s-Ganze-Gehen mit der Form/den Formen der Ire James Joyce. Sein Roman Ulysses – auch eine Art (hoch-)literarische Kriminalgeschichte – bietet von Kapitel zu Kapitel eine andere formelle Bewältigung seines Stoffs an. Mit dem Verweis auf diesen Großmeister der Moderne arbeitet auch Greenalls deutscher Verlag, wenn er behauptet, dass Winter Traffic „eine Art kriminalliterarischer Ulysses auf höchstem Niveau“ sei. Das ist – schließlich muss man Bücher verkaufen – durchaus erlaubt, natürlich aber auch übertrieben.

Denn während bei Joyce der Zusammenhang von Stoff und Form klar auf der Hand liegt – man lese nur das erste Kapitel, in dem, analog zur Geburt eines Menschen, die Sprache aus der Tiefe der Zeit zu der Gestalt findet, die sie zu Joyces Lebzeiten besaß –, fragt man sich bei Greenall nicht selten, ob die manieristischen Übertreibungen bei der Wort- und Satzfindung, Zeichensetzung und anderem den Zugang zu diesem 500-Seiten-Buch für den durchschnittlichen Thriller-Konsumenten nicht unnötig erschweren. Doch gibt es solche Krimis und solche: Wer von einem Krimi erwartet, dass er nur Krimi ist, sollte vielleicht nicht unbedingt zu diesem Buch greifen. Wer bei einem Spannungsroman aber nicht nur auf die Handlung setzt und neben der Mörderjagd auch die Suche des Autors nach sprachlich raffinierter Umsetzung genießt, dürfte am erzählerischen Universum von Stephen Greenall richtig Spaß haben.

Titelbild

Stephen Greenall: Winter Traffic.
Aus dem australischen Englisch von Conny Lösch.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
494 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783518471104

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