Überstürztes

Egyd Gstättner nimmt sich der (Literatur-)Geschichte leichtfertig an

Von Martin A. HainzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin A. Hainz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 16. März 1938 starb Egon Friedell, zu seinem 80. Todestag wird er in den Mittelpunkt eines aberwitzigen Romans von Egyd Gstättner gestellt. Die Handlung beginnt mit dem, was damals geschah. Der Autor, zum evangelischen Christentum konvertierter Jude und zudem wegen seiner universalistischen und allem Autoritären gegenüber kritischen Haltung ein logischer Feind des nationalsozialistischen Regimes, war sich der Bedrohung seines Lebens bewusst, als zwei SA-Männer in seinem Haus nach dem „Jud Friedell“ fragten. Dem Tag war sein langes Bemühen um Gift und Pistole vorangegangen, er selbst hatte sich ferner als „reisefertig“ bezeichnet, im Wissen, dass das ein Euphemismus oder eine Selbstlüge sein muss. Seine Leibesfülle und sein Alkoholkonsum beschränkten seine Möglichkeiten.

Friedell weiß, was kommen kann. Gleichwohl scheint er an jenem Tag überrascht, die einzige Option ist für ihn, sich seiner (womöglich, wie man heute weiß, gar nicht vorgesehenen) Verhaftung durch einen Sprung aus einem Fenster im dritten Stock zu entziehen, mit dem bezeichnenden Detail, dass er die Passanten warnte, sie mögen „zur Seite treten“.

Mit diesem Tag und diesem Moment setzt die Handlung ein, als innerer Monolog, der geschichtlich korrekt die Geschehnisse aus Sicht des Journalisten wie Schriftstellers, Kritikers und Kulturphilosophen, aber auch Schauspielers, Kabarettisten und Conférenciers zum Augenblick des Sprungs und Falls rafft: Die Hölle, aus der er „flüchte“, sei „gestern endgültig und unwiderruflich losgebrochen“, nicht die Verhaftung, sondern ihre Unausweichlichkeit habe ihn nun ans Fenster getrieben. Wie die Wohnung, so sei auch Wien und Österreich, ja, das Erreichbare insgesamt zu „einer tödlichen Falle“ geworden: „Du stürzt nicht in die Hölle hinein, du stürzt aus der Hölle heraus!“

Vier Seiten inneren Monologs folgt der Perspektivenwechsel. Nun wird das, was geschehen ist, aus verschiedenen Blickwinkeln ergründet, aus Sicht Vertrauter, deren Schilderungen in der Tat zum Teil dokumentiert sind, aber auch aus Sicht Gleichgültiger und der der Täter und Mittäter. Diese beschreiben Friedell, seinen Tod, ihn aber auch als Toten, „eine voluminöse Masse“, denn, so ein Nazi, dem dazu sonst nichts einfällt, Friedell sei „unglaublich fett und unfassbar schwer“ gewesen. Die Spuren des Sturzes zu beseitigen habe „die letzten Kräfte“ geraubt, „Heilhitlernocheinmal“, so Gstättner. Ein sich für unpolitisch Haltender kommt bei seiner Wiedergabe der Ereignisse ins ihn „entschuldigende“ Plaudern:

Man muss mit der Zeit gehen! Und man muss ja bitteschön sagen, dass im Nationalsozialismus Nazis ganz normal sind. Es hätte überhaupt keinen Sinn gehabt, sich gegen die Bewegung zu stemmen! Das wäre ja zum eigenen Nachteil! Jetzt herrschte eben der Nationalsozialismus, und die meisten Nazis waren ohnehin unpolitische Nazis. Die meisten Nazis wollten niemandem etwas Böses.

Das trifft die „Diskurse“ des angeschlossenen Österreichs, das nach 1945 mit seiner Geschichte und Verantwortung fahrlässig umging, präzise.

Daneben stehen die liebevollen Betrachtungen zur Frage, wer dem zum Opfer gefallen ist. Friedell habe immer und „bei allem […] über die Liebe dissertiert“, so erinnert sich Olga Pollak bei Gstättner. Dabei sei er mitunter gescheitert, weil er unermüdlich das Risiko des Denkens und Schreibens eingegangen sei, das „Durchfallen war Egon gewohnt“, schon aus der Schulzeit.

Diesem nicht uninteressanten Panorama, an dem bloß ein Mangel an Zwischentönen missfällt – etwa, wenn es um Karl Kraus geht: „Kraus war eine Krätze!“ –, oder, dass Gstättners Kritik zuweilen allzu wohlfeil ist, etwa an der Provinz, folgt der zweite Teil: eine Reise aus der Vergangenheit ins Fantastische.

Da Friedell eine Rückkehr der Zeitmaschine (posthum 1946 erschienen) verfasste, wird er, so Gstättners Einfall, zum Zeitreisenden wider Willen. Ein „Zeitmaschinenbauertreffen“ qua „Zeitmaschinenhochzeit“ stößt ihm statt des Todes zu. H.G. Wells ist plötzlich da, wo zwei Zeitebenen und zwei Sätze (zu Beginn und nochmals auf Seite 142) konvergieren: „In einer Sekunde werde ich tot sein.“

Wells hat also erbaut, wovon er schrieb. Und natürlich kennt er Friedells Zeitmaschinen-Text wie des Verfassers von ihm nun verhindertes Ende. Friedell lebt also; und er lernt nun unsere Gegenwart kennen. Dabei gerät das Fantastische zum Zeitstück, dieses aber zum Klischee. Man sehe in Wien „nur Japanerinnen und Japaner in […] Fiakern“, heißt es zum Beispiel. Ansonsten wird statt Slibowitz „Anachrohol“ getrunken, gegen das „Zeitzittern“. Dabei kommt es zur den Nationalsozialismus und Friedells Geschick einigermaßen ungut relativierenden Schilderung, dass das „heutige Wien“ doch „noch schlimmer als das Nazi-Wien“ sei, wie eine von Gstättners Figuren kundtut: Man könne also noch immer und wieder nur springen, vom „Stephansturm […] in die Tiefe.“ Es geht in diese Zeit, aber auch zurück in die Vergangenheit, Erlösung findet Friedell dabei nicht.

Zuletzt bleiben viele Fragen: vor allem jene, ob, wer so in Friedell schlüpft, um dann das Leben und Sterben dieses eigentümlichen Genies doch vor allem auszubeuten, nicht fahrlässig schreibt. Es ist fragwürdig, wie hier einer zum Stoff einer Fiktion wird, aber zugleich den pseudomoralischen Unterton tragen soll: Die „unerhörtesten Durcheinanderbringungen“, die sich der Autor von einer fiktiven Buchhändlerin attestieren lässt, bagatellisieren mitunter, worum es Gstättner angeblich geht.

Der Stoff berührt also, manche Wendung desgleichen. Doch zu oft spricht Routine aus dem Roman, den Gestättner hier vorlegt, zu oft die Bereitschaft, beliebig zu werden, zu oft Moral als Investition, die sich amortisieren soll. Zu einer Empfehlung des Bandes will man sich darum nicht durchringen.

Titelbild

Egyd Gstättner: Wiener Fenstersturz. oder: Die Kulturgeschichte der Zukunft. Roman.
Picus Verlag, Wien 2017.
318 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783711720559

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