Wie zeichnet man einen Baum?

Ein Buch von Carmen José erzählt in poetischen Worten und Bildern von Wissen und Nicht-Wissen, Lehren und Lernen, Kunst und Haltung – und dem Erkenntnisprozess eines schöpferischen Subjekts

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein kleines Buch mit großem Inhalt: 80 Seiten, ein paar Händevoll Wörter, ein Tableau aus Bildern, Assoziations- und Vorstellungsräumen. Carmen Josés Buch I Don’t Know How to Draw a Tree ist haptisch, optisch und intellektuell eine Freude und steht fortan im Regal meiner klassischen, lebensbegleitenden und besonders geliebten Bücher.

José widmet ihr Buch all jenen, „who dare to unknow“. Das Buch beschreibt den Lern- und Erkenntnisprozess eines namenlos bleibenden Subjekts anhand von dessen künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Phänomen-Begriff-Konzept-Lebewesen ‚Baum‘. Das Ich weiß nicht, wie es ‚Baum‘ zeichnen kann. Ihm wurde beigebracht, in parallelen Linien zu zeichnen, sich innerhalb der Begrenzungen eines Blatts Papier zu halten, Perspektive, Proportionen und Maße zu beachten. Es hat gelernt, Distanz zu nehmen, um – „rationally“ – ‚das Ganze‘ zu sehen, und es hat auch gelernt, (zu) nah zu rücken, „means being too emotionally involved“. Die Aporie der Gestaltung, des Gestaltenden: Mit zu viel Abstand rückt der Baum fern, kann aber in seiner Gesamtgestalt abgebildet werden. Mit zu viel Nähe rückt der Baum nah, man sieht aber lediglich einen Ausschnitt des Gesamtbildes. Was nun wäre ‚richtige‘ Gestaltung? Richtig im Sinne von angemessen, mimetisch-abbildend oder (auto)poietisch-schöpferisch? Nah rücken? Fern rücken? Das Ich reflektiert: „I learned control / to follow and fill in / within the limits“. Nur im Abstand-Nehmen, im Kontrollieren, im Einhalten des Maßes und der ‚richtigen‘ Perspektive entsteht ein Produkt, das „recognized, acknowledged, rewarded“ werden kann; entsteht ein objektiv messbares, intersubjektiv überprüfbares, verlässliches Ergebnis. Doch irgendwann, irgendwo auf diesem Weg des Schauens-Zeichnens-Abbildens-Lernens entsteht im erzählenden Ich ein ungutes Gefühl der Entfremdung und Entfernung – nicht allein vom künstlerischen Gegenstand und dem Prozess des Schaffens, sondern von sich selbst: „somewhere / along the way / I feel disconnected“. Nicht mehr verbunden: Die Farbe weicht aus den Buchseiten, Äste, Hände, Arme werden zu dünnen schwarzen Linien auf weißem Papier. Das Ich hat gelernt, „to disconnect / from my fingers, hands, / arms, from my body / from / what moves / inside of me / when I am / under a tree“. Auf diesen Verlust des Körpers und der Empfindung, auf diese basale Form der Entfremdung von sich selbst als Schaffender, als Wahrnehmender, als Fühlender, folgt, wie ein Weckruf, eine Erinnerung: die Erinnerung daran, eine Nase zu haben, die atmet, und Augen, die wandern und sich wundern können … Das Grün der Bäume wird wieder üppig, die Perspektive auf den Kopf gestellt, der Bildrahmen, die Begrenzungen des Blatts Papier, werden gesprengt, Synästhesien fegen über die Seite hinweg wie der ein- und ausströmende Atem des Subjekts. Komplexität und Schichten („layerings“) von Wahrnehmung und Gefühl entstehen, Imaginationen dessen auch, was die Augen eben nicht sehen können. Alles erhält Eingang in den schöpferischen Prozess. Das Ich wird freigesprochen von dem Zwang, wissen zu müssen, sich innerhalb der Linien, der Begrenzungen zu bewegen, an Proportionen und Perspektive gebunden zu sein, in naturalistischer Manier abbilden zu müssen anstatt frei zu schöpfen, frei hervorbringen zu dürfen — unter Rückgriff eben auch auf innere Bilder, Bewegungen, Gefühle, Träume, Erinnerungen und bewusst gebunden an die Erste-Person-Perspektive. Ein Schöpfen aus dem Ich heraus. Creatio. Ein Baum, aus dem Subjekt geboren. Das Ich wundert sich darüber, wie es jener Obsession überhaupt verfallen konnte, zu kontrollieren und alles wissen zu müssen. Es ist wie ein Freispruch, wie ein Tanz: „it is ok / not to know / how to draw a tree / or anything / to fail the rules / to question / what does it mean / to succeed / and redefine it“. Progress, sinniert das Ich, kann ebenso bedeuten, zu experimentieren, zu teilen (anstatt zu sondern und zu trennen), zu wachsen und „transform together“. Und das Ich geht noch einen Schritt weiter und benennt, womit es fortan nicht mehr einverstanden sein wird: „to consider / that one / could know / how to / everything / to control trees / and land for capital / to use / to abuse / to destroy / to displace / to reduce to death“. Wieder entweicht die Farbe aus den Buchseiten, verdünnt die Malerei sich zur Zeichnung, entsteht Leerraum. Das poetische Ich beschließt: Wann immer die Furcht vor dem Nicht-Wissen fortan auftauchen wird, will es seine Finger tief in den Erdboden stecken, sodass sie wachsen können: „taller / than / my / fears / over my head / to protect / myself“. Der (poetisch und bildnerisch geschaffene) Baum beschützt das Ich in seinen Ängsten, beschützt Unterschiede wie Verbindungen, Komplexität und Leben, „so we can grow / in all directions and forms“. Das Ich verspürt Hoffnung, indem es das „Gewusste“ befragt – und fragend, schauend, wahrnehmend, staunend, überschreitet.

Carmen José hat mit I Don’t Know How to Draw a Tree  ein in sich stimmiges künstlerisch-poetisches wie denkerisch-philosophisches Juwel geschaffen. Erschienen ist das Buch bei Rotopol, einem Verlag für grafisches Erzählen mit Sitz in Kassel, der im Jahr 2023 mit dem „Spitzenpreis des Deutschen Verlagspreises“ ausgezeichnet wurde und dessen Verlagsprogramm vor allem Comics und Bilderbücher für Kinder und Erwachsene sowie Kunstdrucke, Papierspiele, Postkarten und Skizzenhefte umfasst. Wie auf der Verlagsseite zu lesen ist, interessieren Rotopol vor allem „starke eigene Handschriften, experimentelle Erzählstile und eigensinnige Geschichten“ sowie die Realisation auch unkonventioneller Inhalte und visueller Ideen. Jedes Projekt werde in eine hochwertige materielle Form gebracht, den jeweiligen Inhalten und dem Produkt als gut gestaltetes und für die Leser*innen funktionierendes Objekt angemessen. Jede Veröffentlichung sei als ein „gestalterischer Mikrokosmos“ zu betrachten: Ein Anspruch, der sich in Carmen Josés Künstlerin-Buch zur Gänze erfüllt sieht.

I Don’t Know How to Draw a Tree  nimmt uns mit auf eine so sinnliche wie intellektuelle Reise durch satte, dichte, sich bedrohlich ausdünnende und, mit dem Finden der eigenen (künstlerischen) Stimme, wieder erstarkende, ihrer selbst bewusste Bildräume. Das Buch stellt Fragen wie die nach den Möglichkeiten und Formen von Malerei, Zeichnung, kreativer Gestaltung überhaupt und kunstpädagogischer Vermittlung. Was sagen die Arten und Weisen künstlerischer Gestaltung über uns selbst und unser Verhältnis zur uns umgebenden Welt und zu unseren Mit-Geschöpfen aus? Das Buch ist eine Einladung, Kreativität und künstlerisches Schaffen gleichsam mit neuen Augen zu betrachten, oder, besser noch, zu begreifen – und zu ergreifen. Ein Augenpaar, Hände und Arme durchwandern die Buchseiten. Sehsinn und Tastsinn zeigen sich gleichberechtigt in der Wahrnehmung und künstlerisch-kreativen Erschaffung von ‚Welt‘. Die Sinne werden herausgelöst aus einer überkommenen, jahrhundertealten Hierarchie, die den Sehsinn als den höchsten der Sinne nobilitierte und ihm die anderen Sinne unterordnete. In Carmen Josés Buch erschließen die Sinne simultan und gemeinschaftlich die Welt: Sehend, hörend, riechend, tastend ist das Subjekt unterwegs und jeder einzelne Sinn ist von Bedeutung. Wie die Sinne integriert werden, so wird auch die Subjekt-Objekt-Trennung in einem ganzheitlichen und verstehenden Entwurf von Ästhetik und Didaktik überwunden. Künstlerisches Subjekt und dargestelltes/geschaffenes Objekt zeigen sich zuinnerst miteinander verbunden. Das Hervorgebrachte beschützt die Hervorbringende. Natur ist nicht ein vom Betrachter losgelöstes, ihm entgegengestelltes Gegenüber, das sich wie ein Gegenstand behandeln und verhandeln ließe, sondern vielmehr ein Teil des Selbst. Kunst und Leben sind nur integrativ und nachhaltig zu denken, wenn keine der beiden Seiten verletzt werden soll. Am Ende – oder am Anfang – sehen wir eine Kunst, die dem Leben nicht gegenübersteht, und eine künstlerisch Tätige, die die Prozesse des Lebens in sich und in das von ihr Geschaffene aufnimmt und die von denselben Prozessen bewegt wird. Josés Buch lädt zum Betasten, Riechen und genauem Hinsehen, Hinschauen, ein – der materiellen Welt der Objekte wie der immateriellen Welt der Gefühle, Gedanken und Erinnerungen. Alles ist im erlebten Raum zusammengeführt. Veranschaulicht wird die unmittelbare, intuitive und nicht eindämmbare Lust am Gestalten und am kreativen Prozess, bar und fern jedweder Einschränkung, sei sie didaktischer oder gedanklicher Art.

Titelbild

Carmen José: I don‘t know how to draw a tree.
Rotopol Verlag, Kassel 2025.
80 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783964510327

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