Ich fühle etwas, was du (nicht) fühlst

Zu Malte Hageners und Ingrid Vendrell Ferrans Sammelband über die Gefühle im Kino

Von Felix T. GregorRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix T. Gregor

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Roland Barthes, der französische Denker der Zeichen und Bedeutungen in der Alltagskultur der Moderne, ist kein großer Freund des Kinos gewesen. Im Gegenteil liebte er die Literatur und besonders die Fotografie „gegen das Kino“, wie er zu Beginn seiner Fotostudie Die helle Kammer schreibt. Doch angesichts von Pier Paolo Pasolinis de Sade Verfilmung Die 120 Tage von Sodom (1975) kann auch Barthes nicht anders als sich die starke affektive Wirkung des Films einzugestehen und anzuerkennen. Es ist die Buchstäblichkeit von Pasolinis Bildern, die für ihn ergreifend ist, „insistierend, geschliffen, ausführlich, minutiös wie ein Gemälde der Protorenaissance.“ Was Barthes in Pasolinis letztem Film sieht, ist die Fähigkeit desselben und seiner spezifischen Kinosituation, das Publikum in den Bann zu ziehen, es nicht mehr loszulassen und die Welt um dieses herum für 90 Minuten lang vergessen zu machen. Jean-Louis Baudry spricht daher auch von einem verstärkten Realitäts- und Wahrnehmungseindruck, den die Film- und Kinosituation hervorruft. Es scheint gerade diese Ansprache des Publikums durch den Film zu sein, die sich oft entlang von Gefühlen und Emotionen vollzieht, die dessen Faszination ausmacht – auch heute noch, wo der Film längst zu einer mobilen, von der Kinoleinwand entfesselten Kunst geworden ist. Doch wie der Film dies erreicht, wie sich die Verbindung der eigenen Gefühle mit Anderen vollzieht (besonders die Empathie mit den Figuren im Film, seien sie menschlich oder nicht), stellt nicht nur für die Filmwissenschaft noch immer einen blinden Fleck dar. Malte Hageners und Ingrid Vendrell Ferrans vorliegender Sammelband versucht in zehn Beiträgen unterschiedlicher Perspektivierung (Phänomenologie, ästhetische Theorie und analytische Philosophie, wie der Untertitel verrät) Antworten auf die Frage der Empathie im Film zu finden. Dass das mal mehr und mal weniger gelungen funktioniert, kann bereits verraten werden.

Empathie, so Hagener und Ferran in ihrer Einleitung, bezeichnet im weitesten Sinne „die verschiedenen und vielfältigen Formen, die Erfahrung eines anderen zu teilen.“ Doch der „Film als audiovisuelles Objekt verkompliziert […] die Frage nach der Empathie noch einmal, weil unter Umständen die Erweckung der Empathie erst in der spezifischen ästhetischen Gestalt liegt.“ Zu den sicherlich lesenswertesten Texten im vorliegenden Band gehören daher jene Beiträge, die nicht von dem Gefühl der Empathie ausgehen, sondern sich dieser vielmehr aus Richtung des filmischen Mediums annähern. So konstatiert Christian Ferencz-Flatz in seiner Beschäftigung mit Abbas Kiarostamis Shirin, dass Kiarostamis Kino von einer Poetologie des Unvollständigen bestimmt ist. Diese Handschrift äußert sich vor allem in offenen bzw. elliptischen Filmen und Narrativen, die ihrem Publikum einen eigenen Handlungs- und Spielraum ermöglichen, in dem dieses sich selber aktiv an der Produktion der Filmwirkung beteiligen kann. Ferencz-Flatz nähert sich mithilfe von Husserls Konzept der Einfühlung dem Prozess des Mitfühlens in Shirin, einem Film, der seine Zuschauer*innen mit der eigenen Situation des Sehens und Fühlens im Kino konfrontiert. Der Kamerablick ist im Film 90 Minuten lang ausschließlich auf ein weibliches Kinopublikum gerichtet, das die Projektion einer romantischen Mythenverfilmung verfolgt. Bei Husserl ist die Einfühlung als Fremdwahrnehmung ein phänomenologischer Akt der Paarung, in dem zwei Körper über Rückspiegelungsprozesse in Korrelation zueinander treten. Genau dies passiert auch, so Ferencz-Flatz, im Film Shirin. Die leibliche Rückspiegelung steht hier im Zusammenhang mit der nicht sichtbaren, sondern nur hörbaren diegetischen Filmhandlung, die sich für uns allein in den Gesichtern des Filmpublikums, seinen emotionalen Reaktionen erschließt und mit dem wir uns empathisch verbinden. Doch im Sinne einer Brecht’schen Verfremdung unterbricht Kiarostamis Film mittels des Filmschnitts stets den Prozess dieser empathischen Assoziation und fordert somit sein Publikum immer wieder von neuem heraus. Die Resonanz zwischen unserer Haltung während der Filmrezeption und der Haltung der Figuren auf der Leinwand während ihrer eigenen Rezeption ist für Ferencz-Flatz damit am Ende bei Kiraostami kein Moment verstärkter Immersion in das Geschehen, sondern vielmehr ein „leiblicher Schock“, der zu einer Haltungsänderung führt. Das empathische Moment von Shirin liegt genau in diesem gefühlten Bruch mit einer stetigen Form der filmischen Fremdwahrnehmung.

Hermann Kappelhoff und Sarah Greifenstein fragen in ihrem Aufsatz wiederum danach, wie Filme und filmische Bildern an der Modellierung von Wahrnehmungsweisen beteiligt sind. Sie gehen dabei von der These aus, dass der Prozess der Narration und der Diskurs filmischer Bilder „nicht als Rekonstruktion repräsentierter Akteure und Ereignisfolgen [zu lesen sind], sondern als Fiktionalisierung medial generierter Raum-Zeit-Schemata“, „die sich refigurierend und modellierend zu bestehenden perzeptiven Schemata verhalten.“ Sie richten den Fokus ihrer Untersuchung gezielt auf die filmästhetischen und filmtechnischen Aspekte und machen sie als elementare Bedingungen von Empathie- und Gefühlskonstruktionen im Film aus. Darin unterscheiden sie sich wesentlich von einigen anderen Ansätzen im vorliegenden Sammelband, die das filmische Medium allein als Illustrationsgegenstand der Auseinandersetzung mit diversen Empathietheorien nutzen. Wesentlich für Kappelhoff und Greifenstein scheint außerdem die Feststellung zu sein, dass Fiktionalisierung und Empathie im Film einen Akt der Subjektivierung auf Seiten des Publikums darstellen, „eine Erfahrung der Einheit des Gefühls für sich selbst, als ein Gefühl für die gegebene Welt“. Dies zeigen sie in Analysen der Filme Magnificent Obsession (1953) und The Awful Truth (1937) nochmals am Material konkret auf. 

Vivian Sobchack und Christiane Voss gehen in ihren jeweiligen Untersuchungen von einem konkreten Element des filmischen Erzählens aus, das als Vehikel der Empathie dient: die subjektive Kamera bei Sobchack und der filmnarrative McGuffin bei Voss. Sie lenken den Blick ihrer Analysen auf den Umstand, dass es im Kino oftmals einzelne Techniken und Verfahren sind, die innerhalb eines Films durchgehend aufscheinen und eine emotionale und damit auch empathische Verbindung zwischen ihrem Publikum und den Figuren hervorrufen. Mit der These, dass Ästhetik eine Logik des Sinnlichen ist, setzt sich Christiane Voss zunächst mit Theodor Lipps Theorie der Einfühlung auseinander. Für Voss besteht in dieser ein wichtiger Punkt darin, dass Einfühlung ein singulärer Akt auf der Seite des fühlenden Subjektes ist. In der Übertragung auf den Film, um zu einer spezifisch medialen Konzeption der Lipps’schen Einfühlung zu gelangen, geht sie dann davon aus, „dass wir es genau genommen mit einer Verteilung unterschiedlicher sinnlicher Modalitäten (haptische, sensorische, visuelle, akustische etc.) über die verschiedenen medialen und temporalen Ebenen eines in sich immer schon multimedialen Films hinweg zu tun bekommen.“ Der McGuffin, ein von Alfred Hitchcock erfundener Gegenstand bzw. ein narratives Grundmuster, das die Handlung eines Films vorantreibt, für sich selbst aber eigentlich keine Bedeutung besitzt und dessen Auflösung stets ausbleibt, wird für Voss somit zu einer solchen strukturierenden Verteilung von Wahrnehmungsmodalitäten, die sie exemplarisch an verschiedenen Filmen untersucht. 

Vivian Sobchack beschäftigt sich in Bezug auf die subjektive Kamera hingegen mit jenen Bereichen, in denen zugleich die Probleme und Schwierigkeiten dieses technischen Verfahrens liegen, eine empathische Nähe aufzubauen – obwohl es doch an sich prädestiniert zu sein scheint, eine emotionale Verbindung zwischen dem Film und den Zuschauer*innen zu schaffen. Vor allem die Momente menschlicher Motorik im Film sind es, die Sobchack als Problemfelder ausmacht und die zumindest in Zeiten analoger Filmproduktion ein kaum zu überwindendes Hindernis für den Kamerablick und damit die anthropomorphe Bewegung derselben darstellen. Was im menschlichen Alltag so einfach zu sein scheint, wird in dem Moment, in dem eine technische Apparatur versucht, dieses zu imitieren, in all seiner Komplexität deutlich: „Korrelativ schrumpft die Subjektivität dieses Körpers auf eine Dimension zusammen, seine intentionale Gerichtetheit fokussiert nur darauf, was objektiv vor seinen Augen ist.“ Eine geplante emotionale Verbindung kann somit von Beginn an bereits zum Scheitern verurteilt sein.

Zuletzt bietet Jens Eders Aufsatz einen weiteren Ansatz an, sich dem Verhältnis von Empathie und Film produktiv anzunähern. Ausgehend von der Feststellung, dass Empathie „als ein facettenreicher Prozess affektiver Perspektivüberlagerung aufgefasst“ wird, „der mit anderen Vorgängen der Filmrezeption auf vielfältige Weisen interagiert“, stellt Eder am Beispiel von Joshua Oppenheimers The Look of Silence (2014) ein Empathiemodell auf, das in vier Kategorien funktioniert. Diese sind zugleich synchronisiert mit bestimmten Funktionsebenen innerhalb des Films. So ist zunächst die somatische Empathie als eine körperliche Reaktion zu lesen, die mit der expressiven Präsentation von Figurenkörpern im Film korrespondiert. Zuckt ihr Körper beispielsweise zusammen, so kann dem Publikum im Kinosessel womöglich selbiges widerfahren. Davon ausgehend folgt für Eder die situierte Empathie, die als das Teilen ähnlicher Reaktionen auf vergleichbare Situationen zu definieren ist. Hier steht der Film vor allem in seiner narrativen Dimension im Vordergrund, geht es doch um Formen der Präsentation und Fokalisierung von Figurenperspektiven. Die projektive Empathie ist im Gegensatz dazu die Projektion von eigenen Gefühlen auf die Figuren auf der Leinwand. Dies funktioniert unabhängig einer geteilten Situation und vollzieht sich auf Filmebene vor allem über den Einsatz außerdiegetischer Stilmittel wie Musik, Farben und Erzählerkommentare, die die Figuren nicht hören können. Als letzte Stufe führt Eder die imaginative Empathie ein, die die Empathieproduktion auf Seiten des Publikums verortet, welches aktiv versucht, sich eine Situation zu erschließen und die Perspektive einer Figur einzunehmen. Hier spielen gerade die Lücken und Brüche der filmischen Diegese als auch die Neugierde des Publikums eine Rolle, sich diesem Akt hinzugeben. Wie umfassend Eders Ansatz auch erscheinen mag, umso eindringlicher macht er dessen spezifische Abhängigkeit vom jeweils zu untersuchenden Film deutlich: „Empathie lässt sich letztlich nur durch eine stipulative Definition bestimmen, die für die jeweilige Fragestellung geeignet ist.“

Im Gegensatz zu den kurz vorgestellten Beiträgen bieten die übrigen Texte im Band eher wenig neue Erkenntnisse in Bezug auf das Verhältnis von Film und Empathie. Vor allem wird an ihnen deutlich, wie wichtig eine dezidiert filmwissenschaftliche Herangehensweise an das Thema ist, die das zu analysierende Filmartefakt nicht zu einem bloßen, illustrativen Beiwerk werden lässt, sondern es in all seinen Möglichkeiten ernst nimmt. Wenn am Ende der Textsammlung schon keine allgemeingültige Arbeitsdefinition von Empathie steht bzw. stehen kann, so wird zumindest ersichtlich, wie wichtig und gewinnbringend vor allem die aus den Geistes- und Kulturwissenschaften stammenden Untersuchungen für das Thema sind.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Malte Hagener / Ingrid Vendrell Ferran (Hg.): Empathie im Film. Perspektiven der Ästhetischen Theorie, Phänomenologie und Analytischen Philosophie.
Transcript Verlag, Bielefeld 2017.
210 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783837632583

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