Vergangenheit, Verführung und Vision

Ulla Hahn veröffentlicht mit „Wir werden erwartet“ den Abschluss ihres autobiografischen Romanzyklus

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist man davon ausgegangen, dass Ulla Hahn mit Spiel der Zeit ihre autobiografischen Schriften beendet hätte, wird man mit Wir werden erwartet eines Besseren belehrt. Das autobiografische Großprojekt, an dem Ulla Hahn nahezu 20 Jahre gearbeitet hat, ist also keine Trilogie, sondern eine Tetralogie, an deren Ende inhaltlich gesehen ein Band der Tragik, in kompositorischer Hinsicht indessen ein Werk der Längen steht, was sich in erster Linie im mittleren Teil bemerkbar macht. Nichtsdestoweniger: Ulla Hahn hat einen würdigen Abschluss ihres Romanzyklus vorgelegt.

Hilla Palm, Hahns Alter Ego, die nun mit ihrem Kommilitonen Hugo Breidenbach verlobt ist, arbeitet in Köln an ihrer Doktorarbeit. Nachdem sie mit Hugo nach Rom gereist ist und gemeinsam mit ihm an den Hochzeitsfeierlichkeiten ihrer Tante Maria teilgenommen hat, wird sie abrupt und unsagbar tragisch aus allen Zukunftsträumen gerissen, als Hugo mit seinem 2CV tödlich verunglückt. Während der Zeit intensivster Trauer versorgt sie ein Arzt mit Sedativa. Sie ist kaum in der Lage, ihre Dissertation zum Thema „Sprache im Spielfilm“ weiter zu verfolgen und nimmt aufgrund finanzieller Probleme eine Urlaubsvertretung in einer Autowerkstatt an. Als sie sich während einer Feier auf dem Land kaum noch gegen die Belästigungen ihres Seniorchefs wehren kann, kehrt sie per Anhalter nach Köln zurück. In den folgenden Monaten trifft sie verschiedene Männer, nähert sich in Dondorf ihren Eltern, insbesondere ihrem Vater, an, bevor sie in Köln mit ihrem Bruder Bertram und dessen Frau Jutta zusammenzieht. Auf einer WG-Party lernt sie Marga Wiedebusch kennen, die ebenfalls an ihrer Dissertation schreibt und deren Ex-Verlobter sich zu einem Leben als Mönch entschlossen hat. Die Treffen mit Marga sind für Hillas politische Aktivierung, die Lektüre der marxistischen Klassiker und schließlich die Mitgliedschaft in der DKP entscheidend. Da sie in ihrer fast abgeschlossenen Dissertation keinen gesellschaftlichen Nutzen erkennt, wechselt sie kurzerhand das Thema und zieht nach Hamburg, wo ihr neues Projekt anstandslos akzeptiert wird. Marga wohnt dort bereits. Vor dem endgültigen Umzug stehen einige Wochenenden in Dondorf, eine Silvesterfeier ebendort und ein herzergreifender Abschied. „Arbeiten, Studium, die Welt verbessern“ – das nimmt sich Hilla als eine Art Gebet für Hugo vor.

In Hamburg richtet sie sich in Margas WG mit Sperrmüllmöbeln ein, insbesondere mit einem „neugeborenen Schreibtisch“, orientiert sich intellektuell hin zu einem Opus magnum, das schließlich den Titel Literatur in Aktion. Zur Entwicklung operativer Literaturformen in der Bundesrepublik seit Beginn der sechziger Jahre tragen wird. Zuvor nimmt sie regelmäßig an Treffen der ParteigenossInnen teil und lernt dabei Gretel Hofer kennen, eine Widerstandskämpferin, die ihre bewegende Geschichte erzählt. Zu Marga wächst hingegen die Distanz, sodass sich nach einem Jahr nur noch „Genossin Palm“ und „Genossin Wiedebusch“ gegenüberstehen. Als Angehörige unterschiedlicher Lebenswelten findet Hilla erneut, aber bei weitem nicht so intensiv wie in den Jahren zuvor, Halt in ihren Büchern. Sie schwört sich, niemals Menschen hinter einer Meinung verschwinden zu lassen.

Ein großer Einschnitt in den Hamburger Jahren ist der Tod des Vaters. Auf der Beerdigung in Dondorf trifft Hilla Richard und Friedrich (Hugos Onkel und dessen Freund) wieder, die ihr einen Band mit Gedichten von Hugo übergeben. In diese Zeit fällt auch die Geburtsstunde der Lyrikerin, mit Parodien und vor allem mit einem langen Gedicht an den Vater. Als sie für die Bezirksversammlung aufgestellt wird, lernt sie Markus, einen Maler, kennen, schließt ihre Promotion ab und empfängt ihre Mutter in Hamburg, die nicht nur von Markus, sondern ebenso von Hillas ParteigenossInnen begeistert ist.

Sehr großen Raum nimmt gegen Ende des Romans die Schilderung einer Reise in die DDR ein. Allmählich wächst die Skepsis gegenüber der Partei, wobei sich viele Facetten des Diktums „Theorie ist Marx, Praxis ist Murx“ offenbaren: Der immer kritischer werdende Blick bewegt sich von abgelehnten Gedichten über die Wohnungssituation im Plattenbau bis hin zu der Frage, warum eigentlich der Busfahrer nicht mit der Reisegesellschaft zu Abend isst. Am Ende steht die ernüchternde Erkenntnis, dass zumindest in der DDR die Dinge den Worten nicht folgen. Ganz konsequent wendet sich Hilla von der Partei ab, die ihrerseits die „ideologische Unzulänglichkeit“ der Genossin diagnostiziert. So fühlt sie sich von ihren eigenen Leuten, die nicht kritikfähig seien, verraten und wendet sich nach der Rückgabe des Parteibuchs wieder gänzlich der Literatur zu.

Obgleich Wir werden erwartet nicht durchgängig an die hohe Aussagedichte anknüpfen kann, mit der Ulla Hahn in den Vorgängerromanen brilliert, finden sich im ersten Teil und nahezu in allen Passagen, die in Dondorf angesiedelt sind, Momente höchster inhaltlicher und poetischer Expressivität. Die Unsagbarkeit angesichts des Unfalltods ihres Verlobten, der existentielle Einbruch, die affektive Achterbahnfahrt von der Trauer zur Wut, die Gewissheit, dass nichts wieder so wie vor der Katastrophe sein wird – all das entfaltet große emotionale Wirkkraft während der Lektüre. So wie in den ersten Bänden der Trilogie entscheidet sich Hahn auch hier für eine Großstrukturierung ihres Textes (drei Teile: „Der Tod“, „Der Kampf“, „Das Fest“), der auf einer Mikroebene in viele kleine Abschnitte zerfällt, grafisch markiert von sogenannten „Buch- und Wutsteinen“, Reminiszenz an den Großvater. Mit dem „Panta rhei“, inhaltlich ganz konkret das Fluidum Rhein, geht formal das Plätschern der Episoden einher, verklammern sich Leben und Literatur und nicht zuletzt auch die einzelnen Bände der Tetralogie.

Ihrem narrativen Stil bleibt Ulla Hahn treu, denn wie schon zuvor wählt sie die homodiegetische Erzählperspektive schlechthin: Schreiben von einem Ich aus, dessen Erleben immer wieder Kommentierungen zulässt. Die damit verbundene Authentizität lässt keine lückenlose Illusionierung der Leser zu, denn immer wieder einmal, selten zwar insgesamt, verdeutlicht die Autorin die Konstruktion und gleichzeitig die autobiografische Fixierung dieses fiktionalen Ichs. Während in Spiel der Zeit ab und an ein Erzähler in der 3. Person ins Spiel kommt, der Hilla als sein Äquivalent definiert und die Spaltung in erzählendes und erlebendes Ich markiert, manifestiert sich eine solche Perspektive der Allwissenheit in Wir werden erwartet in erster Linie mit einer Reihe von Vorausdeutungen, die sich ebenso wie Kommentare zum Geschehen lesen. Dass sich reales und fiktives Ich mehr und mehr einander annähern, sich am Ende des Romans quasi gleichberechtigt gegenüberstehen, dass sich vor allem die Autorin Ulla Hahn nicht mehr hinter ihrer Kreatur verstecken kann – das beweisen schon allein diese Prolepsen.

Die Auseinandersetzung mit der 68er-Generation mündet in die Definition möglicher Lösungsstrategien, bei denen Hilla als williges Opfer parteilicher Verführungsstrategien erscheint. Auch bei der Initiation in den Kommunismus erweist sich das Thema der Verquickung von Kunst und Leben als omnipräsent, in Spiel der Zeit besonders in einem hervorragenden Exkurs zu Ezra Pound elaboriert. Wir werden erwartet steigert die Ansprüche an die Literatur für die gesellschaftliche Praxis, dominiert hier doch die Frage, inwieweit Kunst die politische Entwicklung eines Staates beflügeln kann. Insgesamt allerdings fällt die Auseinandersetzung mit der Funktion von Literatur im Rahmen politischer Agitation sehr knapp aus. Da hätte man sich mehr wünschen dürfen, zumindest einen knappen Blick auf Jean-Paul Sartres Konzeption der littérature engagée.

Dass es hier um Verführung geht, spiegelt sich auch im Stil wider: Wenn das Politische dominiert, entsteht überdies der Eindruck einer Aneinanderreihung von Episoden, der Stil verliert an Kraft, denn lange parataktische Reihungen, in denen vermutlich die Signifikate die Übermacht gewinnen sollen, ersetzen die poetische Wucht der Signifikanten. All dies übertüncht den Roman streckenweise mit einer Schicht des Zähen und Stockenden. Als Kontrapunkt dazu verlebendigen Schlaglichter auf die Vergangenheit Hillas Entwicklung, ganz besonders der Bericht von Gretel Hofer, deren politische Aktionen aus tiefster ethischer Überzeugung gespeist wurden und werden. Insgesamt mehr Fahrt nimmt der Text auf, wenn die Erlebnisse während der Reise in die DDR und damit die Konfrontation mit dem real existierenden Sozialismus im Mittelpunkt stehen. Zwar werden hier Allgemeinplätze kolportiert, die vielen älteren Lesern bekannt sein dürften, diese wirken jedoch personalisiert und vital, eskortieren die Abkehr vom real existierenden Sozialismus, führen hin zu einer klaren ideologischen Standortbestimmung und besiegeln vor allem den Triumph des Wortes.

Mehr noch als in den Romanen zuvor spannt Ulla Hahn in Wir werden erwartet den Bogen von der Komik zur Tragik. Dass sie nicht nur ironisch, sondern auch komisch sein kann, hat sie bereits in Spiel der Zeit mit der Schilderung einer Familienfeier in der „Festung“ von Hugos Eltern bewiesen: Ausnahmslos werden dabei alle gesellschaftlich verkrusteten Strukturen aufgefahren, gegen die Hilla in Köln demonstriert. Dass solche Demonstrationen und der modus vivendi einiger Revolutionäre mitunter kuriose, gar lächerliche Nachwirkungen haben, verdeutlicht die Abrechnung mit der 68er-Bewegung auf den cirka ersten 30 Seiten des Romans.

Hillas Initiation in die Welt außerhalb von Dondorf scheint nun vollzogen, denn „dat Kenk von nem Prolete“, das noch Jahre nach dem Weggang aus dem Ort ein sehr stabiler Egostate darstellte – sie war ihre Vergangenheit, identifizierte sich fest mit ihr –, kann sie nun aus der Distanz nicht nur begutachten, sondern sogar wertschätzen. Wir werden erwartet führt vor, dass Hilla nicht mehr ihre Vergangenheit ist, sondern eine solche hat, eine, von der sie sich emanzipieren und mit der sie sich gleichermaßen aussöhnen kann. Nicht von ungefähr erreicht der Text die höchste Expressivität und Emotionalität, als Hilla in Dondorf mit dem herzkranken Vater über Friedrich Schiller spricht, sie den Text gemeinsam aus einer Dose in Hillas Gartenhüttchen, einst Holzstall, das ihr der Vater zum Lesen herrichtete, befreien. Die ganze Spannung zum Vater löst sich in den intensiven gemeinsamen Gesprächen auf und die neue Beziehungsqualität offenbart sich post mortem im Gedicht An den Vater.

Obwohl Wir werden erwartet mehr zerfasert als die Romane zuvor, obwohl die Entdeckung der marxistischen Schriften in keiner Weise an die Entdeckung der Literatur im Allgemeinen und die Offenbarung der Schriften der Klassiker im Besonderen heranreichen kann, entfaltet sich hier in besonderer Weise die Interdependenz von Literatur und Leben. Es ist ein steiniger und lehrreicher Weg, der über die Verlockung des Agitatorischen führt und mit diesem abrechnet, doch an manchen Punkten ebenso klarmacht, dass die meisten GenossInnen von einem apolitischen und ontologischen humanistischen Ethos angetrieben werden.

Am Ende geht Hahn sowohl über die politische Lebenspraxis als auch über „die Literatur, die Kunst als ein eigenständig-selbstständiges Medium von Wirklichkeitsaneignung und Bewusstseinserweiterung hinaus“, indem sie tief empfundene transzendentale Akzente setzt und „an einem der ersten Frühlingstage am Rhein, an der Alster, an der Elbe“ an den Großvater und an Hugo erinnert. Sie wolle sich Zeit lassen, Hugo könne warten, aber irgendwann werde sie dem Großvater und ihm folgen: „Lommer jonn!“

Wenn man Ulla Hahns immense Leistungen als Prosaschriftstellerin und Lyrikerin auch nur annähernd begreifen möchte, kommt man an Wir werden erwartet nicht vorbei. Den eiligen LeserInnen seien indessen ganz besonders die ersten und die letzten 200 Seiten empfohlen.

Titelbild

Ulla Hahn: Wir werden erwartet. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017.
634 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783421047823

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