Roman über Welterfahrung und ästhetische Erfahrung

Christian Hallers zweiter Teil seiner neuen Trilogie des Erinnerns

Von Volker HeigenmooserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Heigenmooser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das unaufhaltsame Fließen, so der Titel des neuen Romans des schweizerischen Schriftstellers Christian Haller, ist seine persönliche Adaption des πάντα ῥεῖ, des „alles fließt“ der klassischen griechischen Philosophie. Es entspricht auf der metaphorischen Ebene der Lebenserfahrung des Autors, auf die er im Roman immer wieder anspielt, ebenso wie in seinem materiellen Leben am Fluss, dem Rhein, der die Terrasse seines Hauses weggerissen hat und die es wiederherzurichten gilt. Eine knifflige Ingenieursleistung. Genauso wie die literarische Rekonstruktion seines Lebens. Nach dem Roman Die verborgenen Ufer, der 2015 erschienen ist, gehört Das unaufhaltsame Fließen zu einer neuen Trilogie des Erinnerns, der sich Christian Haller stellt. Hatte die erste Trilogie (Die verschluckte Musik, Das schwarze Eisen, Die besseren Zeiten) noch im Wesentlichen die Geschichte seiner Großeltern im Blick, geht es jetzt nahezu radikal um den Erzähler selbst. Haller setzt damit das Projekt seines „Entwicklungsromans“ fort, das auf den ersten Blick dem populären autobiografischen Erzählwerk des Norwegers Karl Ove Knausgård (Mein Kampf) zu ähneln scheint. Tatsächlich unterscheidet es sich vom geradezu geschwätzigen Norweger grundlegend dadurch, dass Haller mit analytischer Kraft und erzählerischem Hochvermögen Komposition und Sprache seinen Stoff, den eigenen Lebensfluss, dank gediegener Komposition und herausragender Sprache beherrscht. Wo sich Knausgård in seinen Romanen auf 500 bis 1200 Seiten ausbreitet und verliert, belässt es Haller bei etwa der Hälfte des Umfangs von Knausgårds Büchern – und ist um Längen besser. Das liegt wahrscheinlich an den Skrupeln, die dem Autor und Mensch Christian Haller eigen sind, und seinem Lehrmeister, dem vor allem als Kinderbuchautor in den 1950er Jahren bekannten Max Voegeli zu verdanken sind. Als er ihm eine Erzählung geschickt hat, antwortete der ihm:

„Wenn Sie Ihren Text durchgehen, werden Sie selbst finden, in wie vielen Konventionen Sie noch befangen sind. Sie werden Spaß haben, sie zu entdecken und zu streichen. Es geht hier – obwohl um Handwerk – letztlich um nichts Machbares, um keinen Trick, den man lernen kann, sondern um Haltung, also um etwas, bei dem Stil beginnt und Stilistik aufhört.“

Hallers Schreiben hat sowohl Stil als auch ein ausgeprägtes Verständnis für Dramaturgie. Es gibt wenige Autorinnen und Autoren, die ihm in dieser Hinsicht das Wasser reichen können.

Sehr kurz gesagt und in dieser Beschreibung bereits auf den Schlusspunkt gebracht, führt Hallers Lebensweg zu einem Studium der Zoologie und danach ins Gottlieb Duttweiler-Institut bei Zürich, das von dem Migros-Gründer als Think-Tank gedacht war und das auch Querdenken erlaubte oder sogar förderte. Haller gehört bald zum Leitungskreis des Instituts. Es ist ausgesprochen anregend, was und von wem dort initiiert an einer Weiterentwicklung der Gesellschaften dieser Welt gearbeitet wird. Und es ist ernüchternd. Mit am stärksten erschüttert den eindringlich erzählenden Haller das Erlebnis einer Konferenz über „Marketing-Technologien zur wirtschaftlichen Entwicklung in nicht-industrialisierten Ländern“. Haller schreibt:

Es war ein Redner aus Nigeria, der unverhohlen aussprach, worum es ging: Erst müssten Märkte geschaffen werden, damit eine wirtschaftlich-industrielle Entwicklung ermöglicht würde. Traditionelle Stammesgesellschaften besäßen jedoch eine Subsistenzwirtschaft. Das heißt, sie sind bedürfnislos, und es ist die Aufgabe einer modernen Marketing-Technologie, diese Gesellschaften zu zerstören, die Menschen in die Slums der Vorstädte zu bringen, da einzig in der Entwurzelung die psychischen Voraussetzungen geschaffen werden, damit der Mensch Konsumwünsche entwickelt.

Als das Duttweiler-Institut, das bis dato mehr oder weniger unabhängiges Denken gefördert hatte, jedoch nach einem Führungswechsel als Vehikel für die Migrosgruppe umfunktioniert wurde und vor allem dem Unternehmen dienen sollte, passt einer wie Haller nicht mehr dorthin. Sein Scheitern, so könnte man es aus der konventionellen Sicht beurteilen, ist in Wahrheit ein Triumph der Befreiung aus dem Konventionellen. Dass Haller vom neuen Chef der „Denkfabrik“ freie Hand bekommt, einen internationalen Kongress zu veranstalten, der „alle Elemente vereinigen [sollte], die das Institut groß gemacht hatten: subversive Strategie, Glamour, mediale Aufmerksamkeit“, ist eine Falle. Denn längst hat das Institut vor der Macht der Industrie kapituliert und sich in deren Dienst gestellt. Wie Haller diese Strategie als gesellschaftliche und ihre Wirkung auf sich selbst beschreibt, ist bedeutend.

Der Roman endet, wo er begonnen hat: beim Wiederaufbau der Terrasse von Hallers Haus direkt am Fluss. Und er endet mit einer wichtigen Erkenntnis:

Ich hatte diese Welt erforscht und mich an ihr ‚abgeklärt’. Jetzt würde ich mich von ihr zurückziehen. Ich hatte Erfahrungen gemacht und eine Fülle an Stoffen gewonnen, die ich gestalten wollte. […] Ich würde über die Welt der Macht, der Politik und des Handelns nach Opportunitäten schreiben, doch in ihr und mit ihr leben wollte ich nicht mehr.

Haller kündigte seine Stellung am Duttweiler-Institut an seinem 40. Geburtstag, sein Geschenk an sich.

Es ist eine individuelle Lösung, die Haller angesichts der Weltentwicklung wählt, die bedingungslose Hinwendung zur Kunst, die er für die ihm gemäße hält. An dieser Entwicklung teilhaben zu dürfen, ist für den Leser eine spannende Reise, auf deren weiteren Verlauf in einem dritten Band man gespannt sein darf.

Titelbild

Christian Haller: Das unaufhaltsame Fließen. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2017.
252 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875576

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