Der Geschmack längst vergangener Zeiten

In Peter Handkes „Die Obstdiebin“ stehen die kleinen Begebenheiten im Fokus

Von Oliver KohnsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Kohns

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer schon die eine oder andere Erzählung von Peter Handke gelesen hat, wird in seinem neuesten Roman Die Obstdiebin viele Motive und Stilelemente wie alte Bekannte begrüßen können. Der Ich-Erzähler beschreibt sein Leben in der „Niemandsbucht“, einer suburbanen Ansiedlung am Rande von Paris, die man sich wohl nicht allzu idyllisch, aber immerhin als äußerst ruhig vorstellen muss. Er erzählt über sein Verhältnis zu seinen Nachbarn, die sich von dem Autor und Wanderer durch die aus seinem Haus entgegenkommende Stille gestört fühlen („Stillebelästigung“). Schließlich beginnt der Ich-Erzähler seine Wanderung durch das sommerliche Frankreich, zu Fuß und ohne zunächst klar erkennbares Ziel, vor allem aber „ohne jede Landkarte“. Der sofort erkennbare Handke-Sound beinhaltet natürlich auch kulturkritische Reflexionen – etwa über die „Mehrheit der Zweibeiner, die gemeinhin ‚Menschen‘ genannt werden“ oder über die „Maskengesichter“ in einer französischen Regionalbahn. Im Vergleich zu früheren Texten Handkes erscheint dieser kulturkritische Duktus hier jedoch gedämpft, ironisch gebrochen durch die Selbstdarstellung des Autors als seltsamer Kauz, der zurückgezogen in seiner Vorortsiedlung wohnt und den Moden und Gepflogenheiten der modernen Welt skeptisch gegenübersteht.

Nach etwas über 100 Seiten taucht schließlich die Titelheldin des Textes auf, die Ich-Erzählung des Anfangs erweist sich nun als eine Art Rahmenhandlung zu der eigentlichen Erzählung über die „Obstdiebin“. Alexia, die Obstdiebin, befindet sich auf einer Wanderung durch die Provinz Frankreichs – in der Picardie im Norden des Landes –, auf der Suche nach ihrer Mutter. Auch dieses narrative Muster erinnert an frühere Texte Handkes, beispielsweise an den Roman Die Wiederholung (1986), in dem Filip Kobal nach seinem verschollenen Bruder sucht. Aus mehreren Gründen erscheint die Geschichte der Obstdiebin im direkten Vergleich weniger dramatisch – und dafür nicht leichtgewichtiger, aber leichter, milder. Die Obstdiebin wandert, im Unterschied zu Kobal, nicht durch ein fremdes und als vormoderne Utopie ausgestaltetes Slowenien, sondern durch ein wenig exotisches, weitgehend ländliches Nordfrankreich; ihre Mutter ist nicht, wie der ältere Bruder Kobals in Die Wiederholung, seit 25 Jahren verschollen, sondern allenfalls etwas aus den Augen verloren.

Eine dramatische, spannende Handlung wird ohnehin kein Leser Handkes ernsthaft erwarten. Dass die Geschichte der Obstdiebin „keine Detektivstory“ und „kein Kriminalroman“ ist, vermerkt der Erzähler in diesem Sinn ausdrücklich. Stattdessen geht es um ein eher gemächliches Erzählen der kleinen Begebenheiten – Beobachtungen der Landschaft oder episodenhafte Begegnungen mit Tieren und Menschen. „Alles zu Entdeckende entdeckt? Blödsinn: es war eins ums andere zu entdecken, mit offenem Ende“, wird programmatisch der Glaube ausgedrückt, dass gerade die Erzählung einer unscheinbaren Wanderung durch wenig exotisches Terrain interessant sein kann. Die „Obstdiebin“ erhält ihren Namen durch ihr Talent, an den unwahrscheinlichsten Orten, etwa mitten in Großstädten, Obstbäume aufzufinden: Sie ist eine Entdeckerin und Abenteuerin par excellence. Ihre Sehnsucht richtet sich freilich nur oberflächlich betrachtet auf halblegale Möglichkeiten der Nahrungsergänzung, sondern primär auf das Auffinden verbliebener Naturorte inmitten der Zivilisation als solcher – und weitergehend auf Orte der „Unzeit“ im allgemeinen: Orte, an denen (noch) eine andere Zeit zu herrschen scheint.

So erklärt sich, dass der Text die Erzählung eine „Abenteuergeschichte“ nennt – und das hat einige Berechtigung, aber eher im Sinne der Âventiure, der epischen Form des Mittelalters. Nicht umsonst geistert der Name Wolfram von Eschenbach immer wieder durch den Text, beginnend mit dem Motto zur Erzählung, das dem Willehalm entnommen ist. Die Struktur der Erzählung folgt annähernd dem Modell der Âventiure: Die Reise der Obstdiebin durch die Picardie wird erzählt als eine Abfolge von Episoden, in denen die Protagonistin etwa unerwartete Bekanntschaften macht, auf Hindernisse und Unwegbarkeiten stößt und kleinere Abenteuer erlebt. Diese Abenteuer entsprechen freilich der Handlungszeit der Gegenwart: Die Begegnung mit einer Schulfreundin wird in einer Dönerbude gefeiert und im Wald der Picardie wird eine Katze gerettet.

Diese Diskrepanz zwischen epischen Genresignalen und den alltäglichen Erzählinhalten verweist darauf, dass Cervantes’ Don Quijote als intertextueller Bezugspunkt eine mindestens ebenso große Rolle spielt wie Wolfram von Eschenbachs Texte. Die „Obstdiebin“ erscheint so als eine Ritterin der traurigen Gestalt im Frankreich der Gegenwart, die in den Details der Orte, durch die sie wandert, jederzeit ein „längstvergangenes“ Zeitalter wiedererkennen will und sich begeistert auf die „Mühlenbackbrote“ der letzten verbliebenen Mühle im Ort Chars stürzt, um dort den Geschmack vergangener Zeiten aufzunehmen. Im Unterschied zu Cervantes’ Urmodell des modernen Romans ist die Diskrepanz zwischen dem epischen Willen des Protagonisten zum Abenteuer und dem prosaischen Mangel an Gelegenheit dazu bei Handke jedoch nur selten komisch ausgestaltet – am ehesten noch im ersten Drittel des Romans, der selbstironisch die Figur des alternden Erzählers einführt. Die Geschichte der Obstdiebin lädt vielmehr dazu ein, die Protagonistin auf der Suche nach Orten der „Unzeit“ zu begleiten. Benötigt wird dabei freilich eine Leserin respektive ein Leser, die oder der sich auf das Genrespiel des Textes geduldig einlassen und die damit verbundene Verlangsamung des Erzählens aushalten kann.

Titelbild

Peter Handke: Die Obstdiebin. Oder Einfache Fahrt ins Landesinnere.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
559 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783518427576

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