Dem Ende des Texts nachgehen
Der Archivar und Übersetzer Lukas Dettwiler legt einen Sammelband von Essays des schwedischen Dichters, Literaturhistorikers und Übersetzers Gunnar D Hansson vor
Von Gabriele Wix
„Wo endet der Text?“ Seit Anfang der 2000er Jahre verfolgt der belgische Konzeptkünstler Kris Martin ein Projekt, das er Endpoints genannt hat. Aus Büchern der Weltliteratur und Wissenschaft, die sein Interesse geweckt haben, schneidet er den Punkt aus, der das Buch beschließt, klebt ihn auf einen leichten weißen Karton von 42 x 29,5 cm und schreibt mit dem Bleistift den Namen des Autors und den Titel des Buchs an den unteren Rand. Abschließend signiert und datiert er das Blatt.
Der bildnerischen Antwort des Künstlers auf die Frage: „Wo endet der Text?“ würde der schwedische Literaturwissenschaftler, Dichter, Essayist und Übersetzer Gunnar D Hansson (das Kürzel des zweiten Vornamens ohne Punkt) zunächst einmal zustimmen: Mit dem Satzendpunkt, wie sonst. Nur sei die Sache komplizierter, meint Hansson. Er verweist in seinem Vorwort auf den französischen Literaturwissenschaftler Gérard Genette, nach dem jeder Text von Paratexten umgeben sei, „jenem typografischen und materiellen Beiwerk um den Haupttext, das sein Verständnis beeinflusst. In gedruckten Texten können dies Nicht-Texte sein, wie der Name von Titel, Illustration, Geleitwort, Klappentext, Buchrücken, Vorwort und Nachwort.“ Konkret fragt Hansson: „Wo endet Shakespeare? Mit Der Sturm? Auf der letzten Zeile des König Lear? Oder in den Paratexten zur postumen Folio-Ausgabe?“ Genau diese Unabschließbarkeit, die sich nach Hansson auftut, wenn man nach dem Ende des Textes fragt, bestätigt das zeitgenössische künstlerische Projekt: Der Text setzt sich fort, wenn der Endpunkt seinen Ort wechselt. Und die Schraube lässt sich weiterdrehen. In Kris Martins Arbeit verkehrt der Endpunkt seine Funktion ins Gegenteil: Er schließt nicht mehr ab, er setzt einen Anfang.
Gunnar Detlof Hansson ist ein im deutschsprachigen Raum noch zu entdeckender schwedischer Literaturhistoriker, Dichter, Essayist, Publizist und Übersetzer. Als außerordentlicher Professor lehrte er Literaturwissenschaft an der Universität Göteborg und war von 2004 bis 2010 Professor für Literarisches Schreiben an der dortigen Kunsthochschule Valand. Für seine literarischen und essayistischen Werke sowie für seine Übersetzungen ist er mehrfach ausgezeichnet worden. Er ist 1945 geboren, mit 80 Jahren also in einem Alter, in dem der Wunsch naheliegt, bislang verstreut veröffentlichte Texte in einem Band zu vereinen und zugleich in der Übersetzung eine neue Leserschaft mit seinem essayistischen Werk bekannt zu machen.
Die Frage nach dem Ende des Texts, mit knapp 40 Seiten der umfangreichste Essay in der Sammlung, bildet das Zentrum, um das sich zwei weitere Essays, ein Brief und „sechs Passagen zum 19. Jahrhundert“ ranken. Schon der einfache Blick in das Inhaltsverzeichnis vermittelt die Spannweite seines Schreibens und seiner Untersuchungsgegenstände:
Das Ein-Kronen-Stück des Kolumbus – Gibt es Poetik? Gibt es Regeln? – Wo endet der Text? Muss man reden? – Die Langsamkeit von Metallgeld – Bilder, was macht ihr? – Wann verschwindet der Text? – Die alte Schule schlägt zurück – Oxenstiernas verlorenes Paradies – Unordnung und Redlichkeit – Almqvist im Äther – Das lotrechte Versinken in glühenden Gefühlstiefen.
Es sind Titel, die oft als Frage formuliert sind, und tatsächlich zeichnet Hansson eine dem Leser zugewandte, das Gespräch mit ihm suchende Schreibhaltung aus.
Das Kürzel GDH, gesprochen GeDeHo, wie dem Nachwort des Herausgebers und Übersetzers Lukas Dettwiler zu entnehmen, ist das Markenzeichen des Autors. 2011 erschien eine 600 Seiten umfassende Festschrift, betitelt GDH, 2023 eine Doppelnummer der Zeitschrift OEI, eine Anthologie „von der Dimension eines Telefonbuches“ (Dettwiler), betitelt mit: GDH fortsätta med andra medel, im Nachwort übersetzt mit: „GDH fortsetzen mit anderen Mitteln weitergesponnen“. Von diesem Zusatz der Übersetzung aus ließe sich Hanssons Ansatz als eine Poetologie des Weiterspinnens bestimmen. Entsprechend bescheinigt der in der Schweiz lehrende Skandinavist Klaus Müller-Wille dem Autor in seiner „Einführende[n] Vorrede“ eine Frische – trotz der Vernachlässigung rezenter medientheoretischer Reflexionen. Diese Frische sei in der Art der Präsentation begründet, wenn der Autor zum Beispiel in seinem Essay „Wo endet der Text?“ „wild zwischen lyrischen und prosaischen, literarischen und wissenschaftlichen Passagen, Autorinnen und Autoren, Themen und Jahrhunderten“ hin- und herspringe.
Im Mittelpunkt steht für Hansson, der selbst als Professor an der Kunstakademie Göteborg im Fach „Literarisches Gestalten“ zwischen Wissenschaft und sprachkünstlerischem Schaffen vermittelte, der Bereich „Literaturgeschichte und Poetik“ als Teil der allgemeinen Literaturwissenschaft und Literaturtheorie. Einen Schwerpunkt bilden die Autoren der Romantik. Dabei geht es einmal um diejenigen, denen es gelang, an führenden schwedischen Universitäten zu lehren wie Per Daniel Amadeus Atterbom oder Erik Gustaf Geijer, und die entscheidend die Anfänge der schwedischen Literaturwissenschaft prägten, zum anderen um diejenigen, die nicht einer akademischen Lehre nachgingen wie Erik Johan Stagnelius und Carl Jonas Love Almqvist. Klaus Müller-Wille hebt hierbei auf den Erkenntnisgewinn ab, den die sechs Essays über das 19. Jahrhundert im letzten Teil des Bandes für die deutschsprachige Leserschaft darstellen: Selbst die beiden mit Abstand prominentesten schwedischen Romantiker Stagnelius und Almqvist liegen bis heute nicht in aktuellen und umfassenden deutschen Übersetzungen vor. Der Sammelband von Hanssons Schriften vermittelt so auch einen ersten Einstieg in eine hier weitgehend unbekannte Literatur.
Wendet man die Metapher des Weiterspinnens auf die Gesamtkonzeption des Bandes an, erscheint es nur konsequent, dass sich paratextuell dem Vorwort des Autors eine „Einführende Vorrede“ zugesellt und ein „Nachwort“ den Band beschließt. Gerade im Hinblick auf Hanssons unkonventionellen Schreibstil ist das Namensregister hilfreich, das eindrucksvoll Klaus Müller-Willes These über die Frische des Autors in seiner lebendigen und unkonventionellen Art zu schreiben belegt.
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