Bleiben oder gehen?

In Moritz Hegers Roman „Aus der Mitte des Sees“ kämpft ein Mönch mit dem Zwiespalt

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mönch zieht monologisierend Bilanz. Dabei geht es weniger um Religion, sondern um Lebensentwürfe, Vertrauen und den inneren Zwiespalt zwischen Nähe und Einsamkeit. Um es gleich vorwegzunehmen, der zweite Roman des 50-jährigen Stuttgarters Moritz Heger hat nur eine (im konventionellen Sinn) spärliche Handlung und kommt daher äußerst behäbig in Fahrt. Dem Autor, im Hauptberuf noch als Gymnasiallehrer für Deutsch und evangelische Religion tätig, kam die Idee zu der Geschichte im Sommer 2017, als er sich für eine Auszeit im Kloster Maria Laach aufhielt.

Im Mittelpunkt steht der Benediktinermönch Lukas, noch keine vierzig Jahre alt, aber schon sechzehn Jahre im Kloster. Dessen Gedankenwelt während 14 Tagen lässt Moritz Heger Revue passieren. Der Protagonist hat damit zu kämpfen, dass ihn sein bester Freund und Mitbruder Andreas vor einiger Zeit verlassen und eine Familie gegründet hat. Lukas empfindet das zunächst als doppelten Verrat. Er fühlt sich und vor allem den Orden im Stich gelassen.

Der Anfang ist ziemlich langatmig, gedankenschwer und stets mit leicht larmoyanter Hintergrundmelodie unterlegt. Lukas zieht sich zurück an einen Vulkansee – um zu schwimmen, die Natur zu genießen und um in der totalen Abgeschiedenheit über sich und sein Leben, über Ziele, über Ideale und mögliche Alternativen nachzudenken. Ausgerechnet dort begegnet er der Schauspielerin Sarah, die sich als „Gast“ im Kloster eingemietet hat und etwas „herunterfahren“ will.

Der See ist für Lukas eine Art Wallfahrtsort, eine Stätte der inneren Einkehr. Sarah setzt sich an einem Steg zu ihm. Sie nähern sich emotional und körperlich behutsam einander an. Erst tauschen sie Gedanken, später Zärtlichkeiten aus. „Ich will nichts von dir. Ich glaube, dass ich nicht lüge mit diesem Satz. Aber der andere Satz ist auch wahr: Ich schließe es nicht aus.“ Lukas entdeckt für sich, dass er ständig mit Widersprüchen und Zwiespälten zu kämpfen hat.

Vor allem die gemeinsame „geistige Wellenlänge“ mit Sarah fasziniert Lukas. Die Bedeutung des Sees wächst in der Dramaturgie des Romans stetig. Erst war es der beinahe meditative Rückzugsort, später – nach der Annäherung mit Sarah – wird der Steg zu einer Bühne, auf der sie ihr Rollenspiel inszenieren, und steht somit auch für die existenzielle Frage: Bleiben oder gehen?

„Bleiben heißt Benediktiner sein, gehen heißt Individuum sein“, bekennt der innerlich aufgewühlte Lukas. Seine Monologe, die wie selbstreinigende Beichten klingen, sind an alternierende Adressaten gerichtet. Die Kommunikation, der sprachliche Austausch, ist für Lukas ein beinahe rituelles Grundbedürfnis. Am offenen Romanende geht Lukas hart mit sich selbst ins Gericht, als er konstatiert: „Ich bin ein Möchtegern, ein Mönchtegern, ein Leben lang schuldig.“

Schlussendlich hat Moritz Heger (getreu dem Ibsen-Motto: Zu fragen sind wir da, nicht zu antworten) mehr Fragen aufgeworfen als Antworten geliefert. Die Lukas-Figur wirkt in ihrem inneren Kampf zwischen Genuss und Askese, zwischen Individualität und dogmatischem Glauben so authentisch und so extrem hin- und hergerissen, dass man als Leser bei seinen oftmals labyrinthischen Gedankenspielen förmlich mitleidet.

Wenn es so etwas wie andächtige Prosa gibt, dann ist Moritz Heger ein Meister dieses Fachs – ein Autor, der die Langsamkeit zelebriert und dessen Tiefsinn sich häppchenweise Seite für Seite erschließt. Der letzte Satz des Romans (vor dem kurzen Epilog) klingt in unserer schnelllebigen Zeit wie ein geflüstertes, nur gehauchtes Veto gegen den Zeitgeist: „Ach, ich sitze gerne noch ein bisschen hier. Hier kann man so schön denken.“

Titelbild

Moritz Heger: Aus der Mitte des Sees.
Diogenes Verlag, Zürich 2021.
256 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783257071467

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