Stiefkinder oder Der Kugelschreiber als Fortsetzung einer sprachlichen Aufgabe mit anderen Mitteln

Das Werkverzeichnis der Zeichnungen Oskar Pastiors (1927–2006) von Heidede Becker

Von Gabriele WixRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Wix

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es beginnt mit Zeichen und Plunder. Der Untertitel von Oskar Pastiors Gedichtband An die Neue Aubergine verweist auf ein Schreibexperiment: Pastior veröffentlicht 1976 bei Rainer in Berlin erstmals Arbeiten, in denen sich Text und Bild –  in seiner Terminologie: „Wort- und Zeichengebilde“ – verbinden. Der Begriff „Gebilde“ macht in der Tradition von Dada und der konkreten Poesie die Bildlichkeit wie auch die Materialität von grafischen und sprachlichen Zeichen geltend. Weitere Sondierungen des intermedialen Terrains folgen in unregelmäßigem Rhythmus bis wenige Jahre vor Pastiors Tod: 1978 Der krimgotische Fächer. Lieder und Balladen. Mit 15 Bildtafeln des Autors, 1983 sonetburger. mit 3 x 14 zeichnungen des autors, 1990 EINE SCHEIBE DINGSBUMS. Gedichte. Mit 10 Zeichnungen des Autors und 2003 sestinenformulate. monadengraphik und minisestinen.

Tatsächlich hat Pastior schon 1956 als Student in Bukarest handschriftliche Textzeichnungen angefertigt. Wegen ihrer politischen Bedeutung, aber auch wegen ihrer „Machart“ habe es damals, so Ernest Wichner, der Herausgeber des ersten Bands der Werkausgabe, keine Möglichkeit gegeben, diese gezeichneten gedichte zu veröffentlichen. Sterne, eines der fünf Blätter, gilt dem gescheiterten Ungarn-Aufstand: Das handgeschriebene Gedicht bildet von der linken oberen Ecke aus eine abfallende Diagonale; der schmale Grat zwischen dem Text und der gegenüberliegenden Zeichnung wird zu einem Weg, auf dem sich getötete Menschen reihen. Das Gedicht endet mit den Sätzen: „Ich kann nicht auf die gezackten Leichen treten. Ich bin angebrochen wie die Kante Schnee zum Wasser.“

Auch wenn Pastior die Bedeutung seiner Zeichnungen gegenüber den Texten mit der Metapher „Stiefkinder“ herunterspielt, kommt er immer wieder auf das Zeichnen zurück und bildet die Zeichnungen an exponierter Stelle ab: Mehrere Umschläge seiner Gedichtbände sowie die Umschläge der ersten vier Bände der Werkausgabe wurden unter Verwendung seiner Zeichnungen gestaltet. Hinzu kommen zwei grafische Publikationen: 1986 Römischer Zeichenblock und 1987 Modeheft.

2007 ging Pastiors Nachlass an das Deutsche Literaturarchiv Marbach. Dort sichtete Heidede Becker, von Hause aus Stadtplanerin und dem Dichter nach einer studentischen Wohngemeinschaft in den 1970er und 1980er Jahren bis zu dessen Tod freundschaftlich verbunden, den Bestand seiner weitgehend in Vergessenheit geratenen Zeichnungen. Das Ergebnis ihrer Recherchen liegt jetzt in einem bei Wunderhorn erschienenen Buch vor.

Der Titel Aubergine mit Scheibenwischer – die Zeichnungen von Oskar Pastior knüpft an den eingangs genannten ersten intermedialen Gedichtband Pastiors und die Aubergine als ein Zentralmotiv in seinem Œuvre an. Das Buch ist lila eingebunden, wie auch sonst. Gleichzeitig zitiert der Titel eine Zeichnung von Pastior, die seine Poetologie der grafischen und textuellen Kreuzungen widerspiegelt: „Was kommt dabei heraus, wenn sich die Aubergine mit einem Scheibenwischer einläßt?“, schrieb Pastior 1982 an Hartmut Geerken.

650 Zeichnungen umfasst das penibel aufgearbeitete grafische Werk des Dichters. Sie sind zu einem großen Teil im Werkverzeichnis auf über 100 Seiten abgebildet. Gezeichnet hat Pastior mit dem Bleistift und dem Buntstift, vor allem aber mit dem Kugelschreiber. Er liebt das kleine Format, 10 x 15 cm, 17 x 24 cm oder 21 x 29 cm. Es gibt keine perspektivischen Darstellungen, und er setzt seine Motive nicht in einen gezeichneten Hintergrund. Vielmehr sind Motiv und Umgebung eins, und das Liniengebilde steht isoliert auf dem Blatt, vergleichbar mit einer Drahtzeichnung im leeren Raum. „Mir gefielen die filigranen, eigensinnigen Gebilde sehr“, schreibt Becker rückblickend auf die Zeit der Wohngemeinschaft Clausewitzstraße in Berlin-Charlottenburg und zitiert Hermann Wallmann:

Einige Dinge, hat es den Schein, sind von Oskar Pastior aus Liebe mit links gezeichnet, kleine, neiderweckende Billetdoux. Und so ist es denn dieser verschmitzte Autismus, der es macht, daß man dann und wann seinen Kopf in den Nacken legt oder auf die eine oder andere Schulter – und lächelt, ohne es zu wissen.

Ein frischgewaschenesgedicht hat man sich als vier wie Linien in einem Schreibheft untereinander angeordnete Wäscheleinen an Stangen vorzustellen, rechts und links verknotet. Als Zeichnung aus einem einzigen Strich gehen die Leinen in verknäuelte Wäschestücke über und setzen sich so weiter fort. Eine schriftleiter erwächst aus einer Linie, die ein Gebilde von Haus mit Spitzdach entstehen lässt, in das die Leiter als Schornstein, als Doppelmotiv auf einem Schild, als Initiale und Bildfragment gesetzt und mit den Anfangsbuchstaben LE präsent ist. Es ist der suchende, schnörkelig-gedankenverloren-verspielte Strich, wie ein Spaziergang mit dem Zeichengerät auf dem Blatt, der Pastiors Zeichnungen unverwechselbar macht. 1994 schrieb Pastior in Gedankenstrich ——- zur Nebensache im Namen des Rahmens am Rande von Lana:

Ich zeichne selten. Wenn, dann schubweise. Zwischen oder parallel zu den jeweiligen Textprojekten – der Kugelschreiber als Fortsetzung einer sprachlichen Aufgabe mit anderen Mitteln. (Und Auskünfte, wie diese, als Abfall einer graphischen Aufgabe mit anderen Ohren.)

Während in Pastiors erstem intermedialen Gedichtband Wort und Bild miteinander verwoben sind, ergibt sich aus der Referenz auf die Sonettform für den ebenfalls im 10 x 15 cm-Format bei Rainer erschienenen Band sonetburger von 1983 eine Trennung von Text und Zeichnung. Dazu Becker: „Im Arrangement der Gedichte und Zeichnungen spiegelt sich das Sonettschema von 4 + 4 + 3 + 3 Zeilen (Summe: 14): Vier Gedichtblöcke mit jeweils 14-zeiligen ‚Sonetburgern‘ sind durch drei Blöcke mit jeweils vierzehn Zeichnungen unterteilt.“ Fast scheint es, als habe Pastior mit dieser strengen Komposition das Verknäulte, Verworrene und Ausufernde seiner Zeichnungen bändigen wollen. Wie in den oben angesprochenen Gedichten Sterne oder schriftleiter aufgezeigt, arbeitet Pastior häufig mit Schrift, sei es Gekritzel, das sich der eindeutigen Lesbarkeit entzieht, seien es Texte, Wortpartikel oder Buchstaben; hier gilt sein besonderes Interesse einem Vokal, dem O – „Staunen, Stöhnen, Stammeln“ (Pastior 1995 in: Vom Umgang in Texten).

Die Sichtung des Materials ergibt zwei Hauptzeichenphasen in Pastiors Schaffen, die erste von 1974 bis Mitte der 1980er Jahre, die zweite ab 1993 mit der Berufung Pastiors in die internationale Autorengruppe „Oulipo“ (Akronym für L’Ouvroir de Littérature Potentielle, Werkstatt für potentielle Literatur). Es lassen sich aber keine stilistisch grundlegend voneinander abweichenden Phasen abgrenzen. Pastior bleibt Pastior.

In einer Vorbemerkung beschreibt Becker die Zeit der Wohngemeinschaft:

Oskar und ich wohnten Zimmer an Zimmer. Aus dem Nachbarzimmer drang nun unermüdlich das Geklapper seiner Schreibmaschine Olympia, Modell „Reporter“, hin und wieder unterbrochen von energischem Klopfen auf den Schreibtisch zur Verfestigung des Ernte 23-Tabaks bei der massenhaften Produktion von King-Size-Filter-Zigaretten mit einem Stopfgerät der Firma Winner.

Die freundschaftliche Zuwendung und präzise Beobachtung, die sich in diesem Zitat ausdrücken, prägen Beckers Arbeit an der Erfassung der grafischen Hinterlassenschaft Pastiors. Beides vermittelt sich dem Leser und eröffnet ihm einen Zugang zu dem höchst eigenwilligen zeichnerischen Werk des Dichters. Für Literaturwissenschaft und Intermedialitätsforschung stellt der Band mit Werk-, Ausstellungsverzeichnis und Bibliografie ein wichtiges Referenzwerk dar.

Titelbild

Heidede Becker: Aubergine mit Scheibenwischer. Die Zeichnungen von Oskar Pastior.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2018.
229 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783884235942

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