Erinnerung an Ruth Klüger (30. Oktober 1931 – 6. Oktober 2020)

Von Heinrich DeteringRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heinrich Detering

Die Schriftstellerin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé: diese Freundin Nietzsches, Rilkes und Freuds nannte man im Göttinger Bildungsbürgertum gemeinhin nur „die Hexe vom Hainberg“ – manchmal bewundernd, manchmal verschreckt. Gäbe es im märchenhaften Figurenkabinett der Brüder Grimm Rollenfächer auch für Germanisten – die Rolle der Grimm-Preisträgerin, der zeitweiligen Wahl-Göttingerin, der akademischen Lehrerin und Ehrendoktorin der Göttinger Philosophischen Fakultät Ruth Klüger wäre vermutlich ebendiese gewesen.

Verhext hat sie auch ihre Fachkolleginnen und Fachkollegen gern und oft, provozierend und pointiert. „Meine geliebten Zuhörer, lasst uns […] noch über’s Kreuz pissen, damit ein Jud stirbt.“ Die Rede, die sie vor dem erstmals in Deutschland durchgeführten Kongress der Internationalen Germanistenvereinigung mit diesem unverschämten Woyzeck-Zitat eröffnete, machte ihre Zuhörer sprachlos. Aber es war ihre Form des Exorzismus, was sie in der so eröffneten Rede exemplarisch vorführte – eine Befreiung von jenen Geistern, die in Deutschland zu Meistern geworden waren, durch die Beschwörung aller guten Gegen-Geister der deutschen Literatur. Antisemitisches Ressentiment und Männerphantasie, Gegenaufklärung und Judenfeindschaft: immer wieder er­wiesen sie sich in Ruth Klügers Arbeiten als schauerliche Konstanten im Kanon der deutschen Literatur, von der jüngsten Nachkriegszeit bis zurück zu den inhu­manen Versuchungen anti-aufklärerischer Vernunftkritik.

Nicht von Auschwitz aus, hat Ruth Klüger geschrieben, wolle sie bestimmen lassen, wer sie ist. Nicht die Nummer, die deutsche Vollstrecker ihr dort eintätowierten, benenne ihre Identität, sondern ihr Name, der Name der in Wien geborenen, in Kalifornien und Göttingen lebenden amerikanischen Staatsbürgerin und deutschsprachigen Schriftstellerin Ruth Klüger. Unter ihren Büchern ist das bekannteste jenes geworden, in dem sie auch von ihrer Nummer erzählt und von dem Ort, zu dem diese Nummer gehört. Es ist ihre Geschichte – aber nicht mehr als diejenige, die ihr aufgezwungen und (buchstäblich) eingeschrieben worden ist, sondern für uns Lesende nun als die, die sie selbst in die Hand genommen hat, indem sie schreibend davon erzählt. Die Geschichte nicht einer Unterwerfung, sondern vom „weiter Leben“. Eine Jugend, lautet der Untertitel dieses „den Göttinger Freunden“ gewidmeten Buches, das nunmehr in zwei markant unterschiedlichen Fassungen vorliegt – der allgemein bekannten deutschen und einer überarbeiteten, in Teilen neu geschriebenen amerikanischen Version.

Was davon als Lebens-Geschichte bedeutsam ist, hat sie selbst so erzählt, dass jeder Versuch einer Paraphrase unnötig ist. Was an äußeren Lebensdaten dieser Gelehrten- und Literaten-Biographie daran anschließt, das hat sich mittlerweile über die akademische Welt hinaus herumgesprochen: ihre Germanistik-Professuren in Princeton, dann an der University of California in Irvine und immer wieder in Göttingen; ihr Rang in der internationalen Germanistik, etwa als Herausgeberin der German Quarterly, als langjährige Vizepräsidentin der Internationalen Germanistenvereinigung und tatkräftiges Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, als Forscherin, als Lehrerin, als charismatische und streitbare Vermittlerin deutscher Literatur in Amerika.

Ruth Klüger war Erzählerin und Essayistin, Literaturwissenschaftlerin und Lyrikerin, und sie war dies alles auf einmal. „Ruth Klüger ist eine Dichterin“, schrieb ein Rezensent gleich nach dem Erscheinen von weiter leben, und mit Recht; gar von einem Bildungsroman war, mit einem gar nicht ganz abwegigen Einfall, die Rede: ‚Ruth Klügers Lehr- und Wanderjahre‘. Ein möglicher und naheliegender Gegenvorschlag wäre gewesen: ‚Ruth fällt aus der Rolle‘; das hätte ein Erzählprinzip nicht nur des berühmten Berichts weiter leben bezeichnet, sondern auch der weniger berühmten, anstößigeren Fortsetzung unterwegs verloren.

Ihre autobiographischen Erzählungen, die große mit ihren Ortsnamen-Überschriften, von Wien über Auschwitz bis Göttingen (was für eine Reihe!) ebenso wie die unterwegs verloren eröffnende Geschichte der in den Unterarm eintätowierten und schließlich entfernten Lagernummer, Ruth Klügers Variante einer historischen Novelle – sind sie auf weite Strecken nicht auch bedeutende Essays, historische, politische, ästhetische Traktate? Und handeln sie nicht immer wieder auch von Gedichten, die uns im Wortlaut mitgeteilt werden?

Es hätte darum eigentlich keine Überraschung sein müssen – und es war dann, als das Buch erschien, doch wieder eine –, dass die Germanistin Ruth Klüger sich über die Arbeiten der Lyrikerin Ruth Klüger mit derselben analytischen Neugier und Skepsis beugen würde wie über diejenigen anderer Dichter, denen sie im Laufe von Marcel Reich-Ranickis Frankfurter Anthologie so viele kluge Interpretationen gewidmet hat. Zerreißproben heißt der schmale Band, der das Wort „Selbstkritik“ wörtlich nimmt – und der nebenbei einige bemerkenswert gelungene Gedichte enthält, zum Beispiel die zweite Strophe des Titelgedichts „Zerreißproben“. Die Strophe handelt von der Spannung zwischen Lebenserfahrung und Dichterträumen, zwischen biblischer Sintfluterzählung und Shakespeares Komödien:

Die zwei Waagschalen Pech oder Glück
kontrolliert weiß Gott welche Hand.
Noahs Taube kam nie zurück,
denn sie fand kein trockenes Land. –
Das Zeug, aus dem die Träume sind,
hält eher stand.

Ein kleinerer Skandal war es, als die Verfasserin dieser Verse in Marcel Reich-Ranickis Frankfurter Anthologie ausgerechnet das Deutschlandlied interpretierte. Die jüdische Germanistin aus Kalifornien – sie interpretierte den Text der deutschen Nationalhymne mit allen drei Strophen, mit scharfem Blick für Hoffmanns von Fallersleben eigenartige Verschränkungen von Nation und Geschlecht. Nicht die öffentlich untersagte erste Strophe interessiert sie zuerst, auch nicht die öffentlich erwünschte dritte, sondern die zweite, die zwischen Maas und Memel auf der einen, Recht und Freiheit auf der anderen Seite immer vergessene Strophe, die davon handelt, wie „deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein und deutscher Sang“ die Singenden, ausdrücklich „uns“, zu „edler Tat begeistern“ sollen, „unser ganzes Leben lang“. Die Frauen also gehören nicht zu den Deutschen, jedenfalls nicht zu den im engeren Sinne Deutschen; aber auch die Frau kann sich doch national nützlich machen, indem sie den deutschen Mann begeistert, so wie Wein und Gesang das tun. Ruth Klügers Artikel war gelassen und genau, er war außerdem witzig und pointiert, und er weckte bei manchen Lesern (vermutlich mehr als bei Leserinnen) beträchtliche Empörung.

„Um mit Gespenstern umzugehen, muss man sie ködern“, heißt es einmal in weiter leben: „Ihnen Reibflächen hinhalten, um sie aus ihrem Ruhezustand herauszureizen und sie in Bewegung zu bringen.“ Das war Ruth Klügers Exorzismus. Es bleibt, über ihren Tod hinaus, ihre Poetik und zugleich, und ineins damit, ihre Moral. Genau in der Mitte von weiter leben hat sie dieses Prinzip als einen Appell formuliert – ein Appell, der nur auf Anhieb wie ein Affront klingt und beim zweiten Hören etwas beinahe Beschwörendes hat: „Ihr müßt euch nicht mit mir identifizieren, es ist mir sogar lieber, wenn ihr es nicht tut […] Aber laßt euch doch mindestens reizen, verschanzt euch nicht, sagt nicht von vornherein, das gehe euch nichts an oder es gehe euch nur innerhalb eines festgelegten […] Rahmens an […]. Werdet streitsüchtig, sucht die Auseinandersetzung.“

Wer von professoraler Prosa erwartet, dass sie keine Widerrede duldet, wird bei der Lektüre von Ruth Klügers germanistischen Studien – ihren gesammelten Aufsätzen und Interpretationen, aber auch den Ausgaben der von ihr wiederentdeckten Schriften Simon Mosenthals oder ihrer Lieblingsgedichte der Else Lasker-Schüler – noch manche Überraschungen erleben. Auf die Frage nach der Absicht ihres Textes hat sie, am Ende des Bandes Frauen lesen anders, geantwortet: „zum Widerspruch reizen“. Darum sind die Punkte am Ende von Ruth Klügers Thesen oft verkleidete Doppelpunkte oder Fragezeichen. Der Nährboden ihrer Provokationen war die Neugier auf Dialoge, die Triebfeder ihrer energischen Indikative die Hoffnung auf konjunktivische Einwände.

Es gehörte zu dieser Streitlust, dass die, die zu ihr aufforderte, wenig Neigung zeigte, sich selbst zu schonen; die Einladung zur Erwiderung war stets ernstgemeint. Ihren Büchern, ihren Reden und Aufsätzen fehlt es darum nicht nur an Larmoyanz – an deren Stelle setzen sie Tugenden wie Selbstironie, Beobachtungsschärfe, Witz. So machen sie das Gespräch, das sie fordern, erst möglich – „weil“, hat Ruth Klüger einmal bemerkt, „weil der Verstand so viel wert ist. Eine Zuwendung zur Welt ist der Verstand. So wie die Liebe eine solche Zuwendung ist.“ Der Verstand als ein Analogon der Liebe: das ist das Prinzip der Denklust als einer Form der Lebenslust, der Weiter-Lebens-Lust, die Verteidigung des Widerspruchsgeistes als einer Zuwendung zur Welt; streitbar, weil liebend.

Am Beginn ihres Buches Katastrophen. Über deutsche Literatur hat Ruth Klüger für das, was zwischen ihr und ihrer Lektüre geschieht, ein prägnantes Bild formuliert: „Was uns ein geliebtes oder auch ein nur anregendes Buch sagt“, ist da zu lesen, „ist nicht dasselbe wie das, was ‚der Dichter uns sagen will‘. Die Autoren sprechen eine Sprache, wir eine ande­re, sie sind ge­sättigt von ihren, wir von unseren Erfahrungen, sie werfen uns mit ihren Büchern ein Seil zu und ziehen an dessen ei­nem Ende, wir am anderen, zwischen uns ist die Spannung.“ Nicht nur das Agonale dieses Tauziehens bleibt bemer­kenswert, sondern auch das Beharren auf dem Eigenrecht beider Seiten und das Vergnügen an der „Spannung“ – und zwar als Zweck, nicht als Mittel zum Gewinnen. Wer da nicht Lust be­kommt, Literaturwissenschaft zu studieren, hat es schon hinter sich.