Ein Tagebuch und eine Hymne
Mit dem zweiten Band der kommentierten Studienausgabe lässt sich der Wandel Emmy Hennings’ zur christlichen Schriftstellerin nachvollziehen
Von Johannes Schmidt
1919 konnte die begeisterte Literaturkritik Emmy Hennings’ Debütroman Gefängnis noch als radikal subjektive Schilderung des Strafvollzugs im Kaiserreich und der jungen Republik feiern. Das Brandmal, im Jahr darauf erschienen und nun gemeinsam mit Das ewige Lied im zweiten Band der kommentierten Hennings-Studienausgabe im Wallstein Verlag neu herausgegeben, machte es den Kritikern schon schwerer: Viel Lob fand sich für Hennings, die „gegenwärtig bedeutendste Romanschriftstellerin Deutschlands“, aber auch leise Zweifel, ob man es hier wirklich noch mit Literatur zu tun habe oder nicht vielmehr mit Bekenntnissen, Geständnissen, jedenfalls eher ungewöhnlichen und für die zeitgenössische Kritik irritierenden Dingen. Auch Hermann Hesse, mit dem Hennings inzwischen persönlich bekannt und befreundet war und der Gefängnis noch euphorisch besprochen hatte, fand keine eindeutigen Worte bei seiner Beurteilung des Werks. Tatsächlich macht es einem Brandmal, in dem Hennings die radikale Ästhetik ihrer Gefängnis-Variationen fortsetzt und ausbaut, nicht leicht.
Obschon im Untertitel Ein Tagebuch genannt, ist das Brandmal nicht wie ein solches aufgebaut. Aus der Ich-Perspektive der Erzählerin und Hauptfigur Dagny heraus gliedert es sich in drei Teile, die deren sozialem Auf und Ab bei gleichzeitig abnehmender Gesundheit und zunehmender Religiosität eine Struktur geben; weitere Unterteilungen gibt es nicht, mit Datum versehene Einträge oder chronologische Berichte über die Geschehnisse einzelner Tage sucht man vergebens. Gleichwohl ist das Werk eine Chronik Dagnys, die, wie schon die Erzählerin in Gefängnis, einen leichten, geradezu oberflächlichen Ton pflegt, der in krassem Kontrast zu ihrem inneren Erleben steht. Die Kritik ist dadurch oft veranlasst worden, Dagny (und die mit ihr gleichgesetzte Hennings) als naiv-gutherzige junge Frau wahrzunehmen, mit der „ein unbegreifliches Leben […] so hart, ach, und aufregend“ umspringe. Folgte man dieser Einschätzung, übersähe man jedoch die große Artifizialität, mit der Hennings ihren Stil entwickelt: Der gelegentlich, gerade auch in ‚erbaulichen‘ Passagen, an Thomas a Kempis oder Søren Kierkegaard erinnernde Tonfall ist gewiss nicht natürlich und ungekünstelt. Schon in Gefängnis konnte man die Diskrepanz zwischen dem Plauderton der Erzählung und der massiven psychischen Belastung durch das Erzählte wahrnehmen – ein stilistischer Kunstgriff, der das Ungeheure dieses Romans ganz eigentlich ausmachte.
Im Brandmal tritt dieser Kontrast noch stärker hervor, da hier ein Mehr an äußerer Handlung vorliegt: Dagny verlässt das Ensemble, bei dem sie als Schauspielerin arbeitet, und reist nach Köln, wo sie eine Weile mittel- und obdachlos lebt, bis sie sich als Animierdame, Vertreterin und Prostituierte durchschlägt. Sie reist weiter, nach Hannover etwa oder Budapest, arbeitet erneut als Schauspielerin und Sängerin, am Ende erkrankt sie an Typhus und kehrt zurück zu ihrer Mutter nach Norddeutschland; ob zur Erholung oder zum Sterben, das bleibt unklar. Da jedoch diese Reisen in der Erzählung ausgespart, die Ortswechsel nur benannt, nicht mitvollzogen werden, besitzt das Brandmal einen statischen Charakter, zumal diese äußeren Ereignisse ohnehin nur als Modulationen des gleichbleibenden Erzählstroms auf- und wieder abtauchen. Dagnys immer etwas entrücktes Erleben ihrer Umwelt, die dadurch angestoßenen Gedanken über ihren Platz in der Schöpfung, das wehmütige aber ergebene Konstatieren des eigenen Unglücks sind die beherrschenden Elemente dieses „Tagebuchs“. Charakteristisch dafür ist eine Episode, in der sie versucht, ihren Körper der anatomischen Forschung zu verkaufen, um wenigstens etwas Geld zu bekommen: In einem offenkundigen Zustand der Verwirrung, den sie selbst aber auch in der Nacherzählung nicht als solchen erkennt, kann Dagny sich dem Portier des Instituts kaum verständlich machen und lässt am Ende, von sich selbst peinlich berührt, von ihrem Vorhaben ab. Schon auf dem Weg denkt sie sich, ganz unberührt von der akuten Geldnot: „Na, und die kleine fragwürdige Flatterseele, wie ist es damit? Die kann man doch nicht auf den Seziertisch legen und zerschneiden. Das Schwebende, Flüchtige läßt sich nicht präparieren und sezieren.“
Diesen Leib-Seele-Dualismus vollzieht Das Brandmal formal und stilistisch nach. Alles irdisch-körperliche, die Mitmenschen, die Städte, selbst die Krankheit gelangen nur durch einen Schleier religiösen Empfindens zu Dagny und somit zum Leser; unmittelbar erfahrbar ist nur ihre wachsende Frömmigkeit. Das macht den Roman zu einer ungleich schwierigeren Lektüre als Gefängnis, dessen ebenfalls radikale erzählerische Anlage nicht im selben Maß religiös grundiert war. Es lässt aber auch erkennen, mit welcher Konsequenz hier bewusst an einem erzählerischen Stil gearbeitet wurde, der eine ungeheure Suggestionskraft entfalten kann. Eindrücklicher Beleg dafür sind die zahlreichen Rezensionen, die für den Anhang der Ausgabe zusammengetragen wurden.
Nur konsequent erscheint es aus dieser Perspektive, dass der auf das Brandmal folgende Text, Das ewige Lied (erschienen 1923), endgültig auf alles herkömmliche Erzählen verzichtet. Hier scheint Hennings die Summe ihrer langjährigen Auseinandersetzung mit katholischen Heiligenviten, Mystikern und Erbauungsschriften zu ziehen. Ohne erwähnenswerte äußere Handlung gestaltet sie den gedankenstromartigen Monolog einer Typhuskranken (die Nähe zu Brandmal wird sofort ersichtlich), die sich in immer neuen Kreisbewegungen um eine Formulierung ihrer Glaubensinhalte bemüht. Das Sprechen der Erzählerin, gelöst von der Notwendigkeit, Äußeres zu berichten, wird endgültig ein romantisch-poetisches, dass sich ganz offen in die Tradition christlicher Dichtung und Unterweisung stellt:
Wo bin ich, da ich mich berühren möchte? Meine Hände falten sich ineinander, und vermögen sich nicht zu begreifen. Und ich sehe auf meine Hände, und siehe, sie gehören nicht mir. Die Hände sagen mir: wir wollen halten. Aus fremden Zärtlichkeiten sind wir aufgebaut. So sagen die stillen Hände. Es spricht sich ja so wortlos. Seit wann bedarf es keines Wortes mehr? Seit wann? Ich weiß es nicht.
Für eine Weile sah Hennings für die Publikation den Untertitel Hymnische Prosa vor, der den Tonfall des Ganzen gut getroffen hätte. Denn was sich von Zweifeln und Unwissen in ihrer Rede findet, gelegentlich befeuert durch krankheitsbedingtes Leid, ist nicht jenes büchnersche „leiseste Zucken des Schmerzens“, das „einen Riß in der Schöpfung von oben bis unten“ macht. „[S]üßere Liebesworte vernahm ich nie“, berichtet die Erzählerin, als sie die Krankenschwester sagen hört: „Es geht zu Ende.“ Hymnisch ist diese Prosa aber auch in ihrem Lob der Sprachlichkeit, ihrem Selbstbezug, der neben die Tradition christlicher Mystik die frühromantische Poetik sprachlicher Absolutheit stellt: „Alle Worte wollen Wege sein zu dir. Du wirst die Wege den Wandernden bezeichnen. Das Wort will Erlösung, und alle Worte bestehen in diesem Zeichen.“ Das Ineins von Wort und Gott lässt den Vollzug des poetischen Sprechens als jenen Trost und zugleich jenes Lob Gottes erkennen, das sich im Werktitel bereits andeutet. Das ewige Lied entpuppt sich somit nicht einfach als Ausdruck der individuellen Frömmigkeit seiner Autorin, sondern – nicht anders als Das Brandmal – als präzise komponierte Dichtung, die bewusst an ältere Traditionen anknüpft und diese produktiv fortschreibt.
Die Ausgabe, die diese beiden ungewöhnlichen Texte vereint, gleicht in ihrem Aufbau dem ersten Band der Studienausgabe. Wieder gibt es einen umfangreichen Anhang, der in einem bewundernswert gründlichen Kommentar die intertextuellen und autobiografischen Anspielungen aufschlüsselt, sämtliche zeitgenössische Kritiken versammelt und neben einem reichen Abbildungsteil ein informatives Nachwort der Mitherausgeberin Nicola Behrmann bietet. Dem Publikum und der Forschung stehen somit alle Wege offen, die Prosaschriftstellerin Emmy Hennings näher kennenzulernen. Zudem informiert das Schweizerische Literaturarchiv erfreulicherweise bereits über die Planung der Briefedition im Rahmen der Studienausgabe. Die im vorigen Jahr formulierte Hoffnung, das Projekt möge rasch und mit gleichbleibender Qualität voranschreiten, erfüllt sich also offenbar.
![]() | ||
|
||
![]() |