Madame Bovary in Gummistiefeln

Über Alina Herbings Roman „Niemand ist bei den Kälbern“

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Niemand ist bei den Kälbern – dieser Titel führt mitten hinein in das Leben einer Familie mit Milchviehbetrieb. Die Nachzucht im Stall sei sogar wichtiger als die eigenen Nachkommen, mutmaßt die Ich-Erzählerin Christin, als sie sich vorstellt, mit ihrem Lebensgefährten Jan, einem Milchbauern durch und durch, eine Familie zu gründen. Nach einer Lehre als Friseurin, die sie wegen Insolvenz ihres Ausbildungsbetriebs aufgeben musste, ist sie zu ihm, seinem Vater und dessen zweiter Ehefrau, gerade hochschwanger, gezogen und arbeitet auf dem Betrieb im mecklenburgischen Schattin mit. Soweit die vordergründige Anlage des Romans von Alina Herbig.

„Niemand ist bei den Kälbern“ – das ist auch ein Satz der Sorge, der in einer Szene des Romans auf besonders krude Weise subvertiert wird und den definitiven Bewusstwerdungsprozess der Protagonistin als Dauerrauschen im Hintergrund begleitet.

Der Roman beginnt in medias res auf einer Wiese: Während gerade ein Reh in den Mäher gerät, versucht Christin sich „Strände und Cafés mit Tulpen auf den Tischen“ vorzustellen. Es gelingt ihr nicht, denn soweit das Auge reicht, sind nur Felder zu sehen. Mit dem zermalmten Reh, mit Vögeln, die von Windrädern zerschlagen werden, stellt sich beim Lesen sofort eine Atmosphäre des Grauens ein, die der andernorts oft kolportierten ländlichen Idylle diametral entgegensteht. So verwundert es nicht, dass Christin unbedingt weg möchte, am liebsten nach Hamburg, wo angeblich ihre Mutter wohnt, die ihren Ehemann, Vater ihrer Tochter, vor langen Jahren verlassen hat. Die kurze Reise mit dem Windkraftingenieur Klaus endet an einem Autobahnrastplatz kurz vor der Stadt. Ein Bekannter, den sie zufällig trifft, nimmt sie wieder mit nach Schattin, wo ein höchst eifersüchtiger Jan ihr Handy durchsucht. Die Wucht des Affekts gelangt gegen Ende des Romans zum Paroxysmus, als Jan vom Fremdgehen seiner Freundin erfährt, sie daraufhin im Kuhstall niederschlägt und vom Hof jagt. Sie ist nass, voll mit Dreck und Mist, kriecht auf dem schmutzigen und rutschigen Spaltenboden umher, bevor sie in ihr Auto steigt und den Hof verlässt.

Den ganzen Roman hindurch verquickt und verdichtet Herbing zwei Aussageschichten miteinander: Auf der iterativen Repräsentationsoberfläche des Landlebens geht es um das tägliche Melken zu festgesetzten Zeiten, um die Unterscheidung von Sterken, Trockenstehern und Milchkühen, um Windräder oder die Feste im Dorf. Parallel dazu waltet eine destruktive Macht, zum einen durativ, zum anderen sehr dynamisch als Folge klimaktisch angeordneter Störfaktoren. Aus beidem ergibt sich ein Subtext, der verdeutlicht, wie sehr es unter der Oberfläche brodelt. Da ist Christin, die „nicht verstehen“ kann, „wie man jeden Tag seines Lebens durch Scheiße laufen will“, die einen daueralkoholisierten Vater hat, um den sie sich kümmert, deren eigene Begleiter, selbst beim Autofahren, Kirsch, „Pfeffi“ und „Kleiner Feigling“ heißen, der es nicht gelingt, weil ihr der Wille dazu fehlt, sich in die Arbeitsabläufe auf dem Hof zu integrieren. Hinzu kommen Caro, Christins Freundin, die mit Fremdgehen der Enge des Dorfes entfliehen möchte, und eine Reihe von Figuren mit viel krimineller Energie (Einbruch in die Windkraftanlage, Diebstahl von Kraftstoff, Drogendealen). Vor diesem Hintergrund des Perniziösen entlädt sich explosionsartig und kursorisch Christins Wut. Das, was aus einer momentanen Laune heraus mit dem Durchschneiden eines Kabels am Traktor beginnt, endet mit dem Testen von Rattengift.

Das doppelt strukturierte Geschehen im Dorf, konsequent im Präsens erzählt, erstreckt sich über mehrere Tage im Frühsommer. Immer wieder ist es von Rückblenden durchsetzt, die dem Charakter Christins eine gewisse Tiefendimension verleihen. Dazu gesellt sich der Blick auf ein neues Leben, auf einen Möglichkeitsraum, der zum einen als Cyberrealität oder geheime Objektwelt Christins Dasein eskortiert und zum anderen als Ausbruch aus der Beziehung zu Jan bereits gelebt wird. Anstatt jedoch einen profunden Einblick in ihre Affektwelt zu gewähren, begnügt sich die Ich-Erzählerin mit meist parataktisch angeordneten, kumulativen Bemerkungen zu ihren Handlungen. Gerade diese Aneinanderreihung steigert mithin den Poetizitätsgrad des Textes und lässt ein differenziertes Psychogramm entstehen. Einerseits wirkt Christin nahezu lethargisch und antriebslos, sie scheint sich unterzuordnen, passt mit ihrer leicht dialektal angehauchten Sprache (vor allem der grammatikalischen Varianz in der ersten Person Singular: „ich lächel“, „stöckel“ und so weiter) in das Dorf, andererseits ist ihr übel, sie ist voller Groll, den sie in der Beiläufigkeit ihrer Gesten, durch die Menschen zu Schaden kommen könnten und mit denen Tiere getötet werden, entlädt.

Beim Lesen resultiert aus diesen paradoxen Konstellationen so etwas wie ein dazu passender „Doppler-Effekt“: Während man das Buch schnell als ästhetisch hervorragend einstuft, wirft Christins Verhalten auf einer subjektiven, rein inhaltlichen, prätheoretischen und präinterpretatorischen Ebene einige Fragen auf: Weshalb ist sie nicht nach Hamburg gezogen? Warum die nahezu kriminellen Ersatzhandlungen, bevor es zum Eklat mit Jan kommt? Weshalb lässt sie sich auf eine sexuelle Beziehung zu Klaus ein, der eine Zigarette auf ihrem Oberschenkel ausdrückt und sie später ohrfeigt? Wenn sie zudem ein neugeborenes Kalb erstickt, anstatt ihm mit wenigen Handgriffen kompetente Lebenshilfe zu geben, ist das ein erneuter ästhetischer Coup, der aber inhaltlich schockt. Am schlimmsten dürfte es danach für alle Tierliebhaber sein, dass sie Köder mit altem Rattengift an Prinz, dem Hofhund, ausprobiert.

Niemand ist bei den Kälbern besticht auch durch seine zwar spärlich, dafür umso wirksamer eingesetzten Bilder. Gleich zu Beginn sinkt die „Sonne wie eine Bombe“ oder Christin hat „das Gefühl, ein dickes Kind“ klammere sich an ihren Rücken, als sie Sehnsucht verspürt. Am Ende des Romans unterzieht sich die Protagonistin einem Akt der Katharsis, indem sie die Kleidung, in der sie geschlagen wurde, auszieht und aus der Asche der niedergebrannten Scheune wie ein Phönix entsteigt.

Nicht zu vergessen sind eine Vielzahl von Intertexten, zu denen der Roman eine Beziehung der Similarität oder der Subversion eingeht. Der Ort Schattin ist ob seiner kleingeistigen Einwohner auf eine Ebene mit Friedrich Dürrenmatts Güllen zu stellen, erinnert ebenso an Andrea Schenkels Finsterau und ein bisschen an die Abgründe in Dörte Hansens Altes Land. Mehr noch schiebt sich der Gegenentwurf zur Idylle und damit die Subversion von bekannten Gattungsmustern populärer Literatur in den Vordergrund: allen voran ist in diesem Kontext Anna Wimschneiders Herbstmilch, ein Titel aus Herbings Geburtsjahr (1984), zu nennen. Ein bisschen auch scheint die postromantische Ästhetik des Hässlichen zu wirken und in gleicher Weise das Naturalismuskonzept eines Emile Zola, der seine Figuren als „Produkt“ ihrer Umwelt, ihres Milieus und gleichzeitig der historischen Situation bestimmt. Vor allen anderen ruft Herbings Protagonistin Gustave Flaubert in Erinnerung: sie ist eine Madame Bovary in intellektuell abgespeckter und noch provinziellerer Form.

Niemand ist bei den Kälbern ist ein lesenswerter Roman, obwohl (oder vielleicht gerade weil) man weder Mitleid mit der Heldin verspürt noch sich mit ihr identifizieren möchte. Allenfalls keimt ein bisschen Verständnis, dieses flankiert von ganz viel Wut. Alles in allem skizziert Herbing eine widersprüchliche junge Frau, deren Affektwelt als Puzzleteile für die Leser anklingt. Mehrfach doppelte Strukturen ergeben in ihrem Zusammenwirken eine äußerst kluge Komposition, eine Anti-Idylle, in deren Verlauf – so wie es ein Postulat Herbings ist – sich das Landleben mit all seinen Problemen als literaturwürdig erweist. So ist ein vielversprechendes Romandebut entstanden, das sich durch eine Komplexität auszeichnet, die weit über die Darstellung von Landfrust hinaus Bestand haben wird.

Titelbild

Alina Herbing: Niemand ist bei den Kälbern. Roman.
Arche Verlag, Hamburg 2017.
255 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783716027622

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