Ein anarchischer, rauschhafter Roman
Jonathan Garfinkel führt den Leser in „Platz der Freiheit“ mit einer hochgradig verzwickten Familiengeschichte in die Wirrnisse nach dem Untergang der Sowjetunion
Von Karsten Herrmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer in Berlin lebende Kanadier lässt seinen Roman mit einer Art Prolog in den Zeiten des Kalten Krieges beginnen: Der Amerikaner Gary Ruckler kommt als Stipendiat nach Moskau und studiert dort russische Literatur. Er ist Jazz-Liebhaber und möchte Schriftsteller werden – Vorbild ist ihm dabei Lermontows Ein Held unserer Zeit.
Im Studentenwohnheim, das von Spitzeln wimmelt, trifft Gary auf ein völlig verzerrtes Amerikabild und lernt den aus Georgien stammenden Schwarzmarkthändler Aslan und seinen Freund Zaza sowie dessen Freundin Anne kennen. Sie feiern wilde Feste, debattieren und rezitieren Lyrik. Aslan übergibt Gary ein regimekritisches Manuskript über die Entdeckung der DNA und seine Heimat Georgien zur Übersetzung und verschwindet dann plötzlich.
Zwanzig Jahre später setzt sich der Roman an einem neuen Schauplatz im georgischen Tiflis fort. Hier kommt es zu Demonstrationen gegen einen korrupten und dysfunktionalen Staat, die blutig niedergeschlagen werden. Mitten darunter Dawit und Tamara, die blutjung in bitterer Armut heiraten und eine eigene Wohnung beziehen. Sie bewegen sich im Dunstkreis einer kreativen kulturellen Boheme und werden von der Kanadierin Rachel unterstützt, die im Namen einer NGO demokratische Aufbruchbewegungen im ehemaligen Ostblock fördert und eine angesehene Politikwissenschaftlerin ist. Tamara entwickelt sich zu einer angesagten Performancekünstlerin und erstellt ein „Archiv von Tiflis, eine lebendige Bibliothek der Stadt“, die Gegenwart und Vergangenheit verknüpft. Dawit macht Karriere als investigativer Journalist und gerät bald in Todesgefahr.
Jonathan Garfinkel führt den Leser mit Platz der Freiheit in die politischen Wirren und Staatenbildungen nach dem Untergang der Sowjetunion, wo sich Korruption, Chaos, Gewalt sowie kultureller und demokratischer Aufbruch vermengen. Wie er in einer Danksagung ausführt, beruht der Roman dabei in wesentlichen Teilen auf einer Reise, die er Anfang der 2000er Jahre nach Georgien unternahm und auf der er „ein Land der Mythen, der Schönheit und des Schreckens“ erlebt hat. Sein Roman spiegelt diese Erfahrung wider und ist durchzogen von einer widerständigen Lebensfreude der Georgier, von einem heroisch-melancholischen „Trotzdem“. Hierzu trägt auch die immer präsente Bedrohung durch den ehemaligen „großen Bruder“ Russland bei, zu der Jonathan Garfinkel mit aktuellem Bezug zum Krieg in der Ukraine schreibt: Für die Georgier „lautete die Frage nie, ob Russland wiederkäme, sondern wann dies geschehen würde.“
Neben dieser spannenden politischen Dimension atmet der Roman aber auch stark den Geist von Off-Kunst und Subkultur und ist eine Hommage an den Jazz mit seinen schwebenden Improvisationen. Eine herausstechende Figur ist dabei Daniel Daniel, ein Freejazzer und Betreiber eines legendären Plattenladens, der einige Geheimnisse mit sich herumträgt und sich mit einem verballhornten Amerikanisch hervortut: „Die schlichte Wahrheit lautet, dass alles im Hinterteil ist, inklusive unserer Seelen. In einem Land ohne Hunde kläffen die Katzen“.
Platz der Freiheit ist ein anarchischer, rauschhafter Roman, der durch die Zeiten springt, parallele Handlungsstränge aufmacht, Fragmente von Manuskripten und Drehbüchern einfügt und verschiedene literarische Genres verbindet – er ist Familien- und Liebesroman, Kunst- und Politik-Roman und spielt mit dem Thrill von Spionage und Verbrechen. Am Schluss gerät er jedoch aus der Spur und schraubt sich schrill zu einem Trash- oder B-Movie Agententhriller mit Verfolgungsjagden und Schießereien hoch.
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