Die Gewissheiten der Nacht und die Möglichkeiten eines Tages

André Hille erzählt in seinem neuen Roman „Jahreszeit der Steine“ vom Leben und Leiden des Mittelstands

Von Swen Schulte EickholtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Swen Schulte Eickholt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist ein Leben anhand eines Tages erzählbar? So könnte die Ausgangsfrage gelautet haben, die André Hille sich für seinen neuen Roman Jahreszeit der Steine gestellt hat. Die Gefahr wäre dann, Handlungsbögen durch endlose Erinnerungen aufzubauen. Hilles grüblerischer Ich-Erzähler erinnert sich freilich auch öfters an Stationen seines Lebens ‒ besonders an seinen Vater und die Kindheit in Ostdeutschland ‒, aber im Vordergrund steht stets seine Wahrnehmung. Genaue Beobachtungen von Menschen, Tieren, der Natur und natürlich sich selbst. Man kann einen Menschen auch durch seine Wahrnehmungsweise kennenlernen, nicht immer nur durch seine Geschichte. Das ist eine ebenso gelungene wie intime Form der Darstellung, die auf diese Weise nur die Literatur zu leisten vermag. Der so schwergewichtig daherkommende Titel ist dabei nicht als Gegensatz zu dem poetischen Programm zu verstehen, sondern betont gerade eine neue Wahrnehmungsform von Zeit. Der Ich-Erzähler legt bei einem Spaziergang gerne die Hand auf einen Findling, der so anspielungsreich an einer Weggabelung liegt: „Ein Objekt, das eine Milliarde Jahre alt ist und vielleicht noch eine Milliarde Jahre vor sich hat, das die Zeit in sich gespeichert hat und an dem wir achtlos vorübergehen.“ Steine entfalten die gespeicherte Zeit für uns in ihrer materiellen Gegenwärtigkeit ‒ in ihrer Präsenz. Scheinen sie einerseits der Zeit enthoben, ist sie andererseits in ihre Körper eingeschrieben ‒ als unbelebte Objekte sind sie vollständig der Gegenwart verhaftet. Sie erwarten nichts, sie erinnern nichts.

So mögen auch die Koordinaten, in denen Hille das Leben seines Protagonisten verortet ‒ den Spielregeln der Autofiktion folgend eng an dem eigenen orientiert ‒, mehr interessieren, als die Geschichte, die der Roman mehr andeutet als erzählt. Ein Paar zieht mit Kindern von der Großstadt aufs Land, bemüht sich um die feste Etablierung ihres Literatur-Unternehmens und versucht den üblichen Spagat zwischen Kindern, Arbeit und Ehe. Während Bettina Baltschev in ihrer Rezension im Deutschlandfunk gerne mehr von Kindern und Frau gehört hätte, die recht blass gezeichnet bleiben, habe ich nicht den Eindruck, dass Hille hier mehr als erwartbare Klischees produziert hätte, die dann doch in konventionelleren Romanen besser erzählt werden können. Zu konventionell erscheint hier die Anlage aus Rollenkonflikten, Überarbeitung und Kindheit als letzter Raum freier Imagination, als dass am Beispiel eines Tages hier viel Neues erzählbar würde. Frau Baltschev vermisst offenbar eine deutlichere Ausgestaltung von Familie als harmonischem Rückzugsraum, wie er gerade allüberall gepredigt wird, und eine größere Sichtbarkeit all ihrer Protagonist:innen. Damit wäre aber die Anlage von Hilles Roman überladen und er tut gut daran, sich konsequent auf die Reflexionen seiner Hauptfigur zu verlassen. 

Während der Erzähler, geprägt durch seinen wortkargen Vater, dem er es nie recht machen konnte, geradezu obsessiv bemüht ist, alles richtig zu machen, mag auch hieran interessanter sein, wie er seine Kinder wahrnimmt, als der Konflikt mit seiner Vaterrolle. Die Kinder haben einen schweren Bezug zur Realität ‒ wie die Steine. Sie sind völlig in der Gegenwart geerdet: „Sie nehmen die Wirklichkeit, wie sie ist, nicht, wie sie sein sollte, alles, was real ist, ist für sie zugleich normal“. Dagegen leidet der Ich-Erzähler an der Fragmentierung seiner Zeit: „Ich habe den Kontakt zum Kontinuum verloren. Ich lebe nur noch in den kleinsten Einheiten, Zeiteinheiten, Informationseinheiten, Freundschaftseinheiten, Liebeseinheiten, anders halte ich das Leben gar nicht mehr aus. Vielleicht ist das Leben eine Praxis, die ich erst wieder lernen muss.“

Hier ist die eigentliche Konfliktlinie, an der der Mittelstand zu kämpfen hat ‒ zumindest der Mittelstand mit akademischer Bildung und ethisch orientierter Grundhaltung. Hatte der Erzähler in seiner Jugend gegen „das“ System revoltiert, fühlt er sich nun hoffnungslos verstrickt in einen Alltag, der vom Pulsschlag eines kapitalistischen Wirtschaftssystems vorgegeben wird. Seine Probleme als Vater resultieren aus der damit inkonsequenten Haltung, nicht Repräsentant des Systems und seiner Zwänge sein zu wollen. Die Familie ist auch in Hilles Roman das utopische Gegenbild zu diesem Ort der Zwänge. Den Kindern soll mit Liebe und Verständnis begegnet werden, damit man sich wärmen kann an ihrem unverbraucht direkten Verhältnis zu den Dingen. Sie leben im Jetzt, was dem Ich-Erzähler nicht mehr möglich ist, was er gleichwohl diesen ganzen Tag lang versucht. Beim Beobachten der Vögel, beim Betrachten der Steine, beim Spiel mit den Kindern.

Die Möglichkeiten, die der Tag bietet, sind in erster Linie Möglichkeiten für die Kinder, die sich unbekümmert der Zeit überlassen, weil diese für sie noch gar nicht existiert. Während der Protagonist am Abend ‒ wie jeden Abend ‒ als Knecht des Neoliberalismus, der freilich auch er geworden ist, das Gefühl hat, „zu wenig geschafft zu haben“, fallen die Kinder sorglos in den Schlaf. Ihn selbst rettet nur die Gewissheit in die Nacht, dass die ARD-Infonacht, die er zum ein- und durchschlafen hört, ohne Unterbrechung senden wird.

André Hille ist ein Roman gelungen, der aus den Kleinigkeiten des Alltags das Lebenskonzept einer bestimmten Gruppierung des Mittelstands entwickelt, die sich der Kontrolle durch die Marktmechanismen entziehen möchte und ihnen dennoch ihr Leben schon gänzlich gewidmet hat. Erscheint dem Protagonisten ‒ und möglicherweise Hille mit ihm ‒ die Kindheit als ein Schon- und Gegenraum, den es in seinem vermeintlichen Glück gegen die Verzweckung aller Mittel zu bewahren gilt, wird eigentlich die Sehnsucht dieser Schicht deutlich, ein sinnerfülltes Leben zu leben und sich dem Tag wieder anvertrauen zu können. Der enorme Druck, den das zu erzeugende Familienglück auf diese Familien ausübt, wird in dem Roman in einer wenig ausgestalteten Ehekrise deutlich und in den geradezu verzweifelten Versuchen, den Kindern „gerecht“ zu werden ‒ als guter Vater scheint der Erzählet sich besonders dann zu fühlen, wenn er in einer Funktion als Pausenclown die Zwänge des Alltags für kurze Momente vergessen machen kann. In dieser Aporie hat Hille möglicherweise den Kern einer kollektiven Krise erkannt: Glück ist das Opium des Volkes, das der Neoliberalismus so reichhaltig verspricht und so nachhaltig unmöglich macht. Das mag hauptsächlich etwas mit unserem Verhältnis zur Zeit zu tun haben. Der ganze Roman ist so zu begreifen als ein Projekt, den Alltag gegen das Verschwinden der Zeit zu imprägnieren. Der Ich-Erzähler ist bezeichnender Weise auch nebenberuflich (was schon vieles sagen mag) als Autor tätig und sammelt Wörter. Nicht nur skurrile, sondern besonders altertümliche Ausdrücke, wie er sie in der Landwirtschaft oder im Handwerk so reichhaltig findet. Wörter wie etwa ‚Findling‘, die wie der Stein selbst etwas von der Tiefe der Zeit transportieren, aus der sie stammen. Nur, mit Wörtern allein wird er das Verhältnis zur Zeit nicht ändern können. Anders als Proust hat sich Hille nicht auf die Suche nach der verlorenen, sondern der verschwindenden Zeit gemacht. Dabei ist ein lesenswerter, teilweise langatmiger, aber immer sprachlich anspruchsvoller Roman entstanden, der zum Mit- und Nachdenken anregt und im günstigsten Fall zu dem Leseglück führt, zu Einsichten zu kommen, die einem zuvor verschlossen waren. Wenn man sich die Zeit dafür nimmt.

Titelbild

André Hille: Jahreszeit der Steine.
Verlag C.H.Beck, München 2023.
338 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783406799914

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