Hingetupfte Gedankenbilder
Nicht nur die Sprache macht Jan Snelas Roman „Ja, Schnecke, ja“ lesenswert
Von Rolf Schönlau
Ja, Schnecke, ja. Lädt nicht schon der Titel ein, von hinten gelesen zu werden? „Seine – Seiten sind leer“, so endet das letzte Haiku. Wenn das nicht auch ein Anfang ist. Also los: Isadora schnuppert in Hannes linker Hemdbrusttasche, der endlich wieder ohne Schmerz an Amanda denken kann. Annabel in Stöckelschuhen klärt auf: Amanda ist weg, Isadora ein Tier. Ein Mäuschen, wie wir von Hannes erfahren, das Adegashi-Tofu verschmäht, dafür Icepresso macchiato eingeflößt bekommt. Wir lesen, dass Hajo, der Mäusedieb, Isidor mitgenommen hat. Ein Glücksfall für Hannes, denn so konnte er „aus dem Zwinger seines bornierten Menschentums entkommen“. Hannes und Isadora sind also ein Paar. Womit das (trendige) Thema gesetzt ist: Beziehungen mit nicht-menschlichen Lebewesen. Sabine hat die beiden zusammengeweht. Ein Sturm? Genau. „Wer sucht Zuflucht bei wem?“ schließt das obligatorische Haiku am Abschnittsende. Hannes spricht von seinem Hikikomori-Mäuschen. Hikikomori-Hannes, können wir ergänzen. Zwei Verlassene, die sich von der Welt zurückgezogen haben. Hannes sucht Isadora auf allen vieren, erinnert sich an das Tiergymnastik-Workout mit Amanda. Hat auch sie jetzt einen nicht-menschlichen Partner? Die titelgebende Schnecke? Hannes kocht japanisch: Umami-Geruch. Amanda muss in Japan sein.
Das vorletzte Kapitel, wieder rückwärts: Issa hat für seine Maus auf der Shamisen gespielt. Er trinkt Tee, sie bekommt artgerecht Apfelschnitzel. Issa muss sich einschärfen, Issa zu sein. War er früher Hajo, der Mäusedieb? Sieht so aus, denn seine Maus heißt Isidor, dem er, der Menschenmauser, die geliebte Isadora weggenommen hat. Beide waren Labormäuse. Issa schaukelt mit Isidor auf dem Spielplatz, andere beäugen ihn misstrauisch, einer telefoniert. Polizeisirene. Issa haut ab, lässt sich nicht fangen. (Weil er die Maus gestohlen hat?) Issa ist alles Mögliche, vom Flutschfinger-Stiel bis zur VHS-Kassette, auch „Der vom Kopf getrennte Rumpf einer fancy lumineszierenden Schlundsackschnecke in einem Aquarium im Labor des Meeresbiologischen Instituts einer japanischen Frauen-Uni.“ Starker Verweis auf Amanda, die an eben dieser Uni die Schnecken untersucht. Sie stopft eingelegtes Gemüse in sich hinein und macht Urinproben mit dem Yadorumeter, ein Schwangerschaftstest, wie wir lernen. Sie wünscht sich, schreibt sie Hannes, der ein Kind mit ihr will, eine hermaphroditische Partnerschaft „molluskenhafter Flexibilität“. Hannes schreibt ihr, dass Japaner Insektenlärm differenziert wahrnehmen. Seitdem hört Amanda einem Zikadenmännchen zu. Kurz vorher gab es ein Erdbeben, bei dem die Aufzuchtbecken aus dem Regal fielen. Uyuma (wohl eine Schnecke) ist tot und soll in ihre Bucht zurückgebracht werden.
Issa ist tatsächlich Hajo. Hannes hat ihm den Namen gegeben, weil er ihm wie der Haiku-Dichter Issa vorkommt. Hajo hat Lebensmittel gebracht und Isidor mitgenommen. Er arbeitet im Lieferdienst, hatte für Hannes Mäuse immer Käse dabei, lag mit gespitztem Mäusegesicht vor dem Käfig. Hannes hat Hajo sein Leid geklagt: Dass Amanda in Japan ist. Dass er geträumt hat, zwei Söhne zu haben. Dass Amanda ihn „Maman“ der zwei Mäuse genannt hat. Dass sie vielleicht doch nicht in Japan ist und gerade ein Kind kriegt. Von Ajdin, dem Kommilitonen, dem er vielleicht die Mäuse zu verdanken hat.
Das letzte Achtel des Romans, 50 von 400 Seiten im Retourgang gelesen, ergibt also folgendes Tableau: Drei Menschen, zwei Mäuse, eine Schlundsackschnecke. Fünf Beziehungen, zwei gescheiterte zwischen Mensch und Mensch beziehungsweise Maus und Maus sowie drei geglückte zwischen Mensch und Nicht-Mensch. Dass in diesem Setting auch Pflanzen und Roboter zu möglichen Beziehungspartnern zählen, verwundert nicht. Auch nicht, dass sich Hannes überflüssig fühlt wie der Körper, den die Schlundsackschnecke bei Parasitenbefall abwirft, um sich aus dem Kopf heraus einen neuen zu bilden. Dass Amanda davon fasziniert ist, liegt auf der Hand. Flucht ins Animalische, wirft ihr Hannes in einer Mail vor. Und was sieht sie in Nara auf der Straße? Eine alte Dame mit Hund, der gerade von legfifting.exe dazu veranlasst wird, an einer nicht-menschlichen, ragenden Entität, vulgo Baum, surrend sein Bein zu heben.
Amanda hält ihre Textnachrichten fragmentarisch: Splitter, Haiku, Inventur des Moments. Hannes schreibt ihr schriftstellernd alles, was er hört, sieht, denkt, fühlt und traktiert sie mit angelesenem Japanwissen. Auch die Form des Romans ist japanisierend: 220 Haibun, gegliedert in 27 verschieden lange Kapitel. Das Haibun ist eine im 17. Jahrhundert entwickelte skizzenhafte Prosa, oft mit einem Haiku als lyrischem Höhepunkt am Ende. Kobayashi Issa (1763–1828) war ein Meister dieser literarischen Form, dessen Biografie Snela nacherzählt und sich dabei an einem fiktiven Buch eines gewissen Udo Makura orientiert, das auch den Titel „Ja, Schnecke, ja!“ trägt (aber mit Ausrufzeichen). Nicht zum Verwirrspiel gehört dagegen Issas berühmtes Haiku:
Ja, kleine Schnecke
Besteige den Berg Fuji
Aber ganz langsam.
Eine Passage aus dem Haibun Nr. 12, in dem Hannes ist auf dem Weg zu Hajo ist, weist die Hauptmerkmale der japanischen Form auf – aneinandergereihte Gedanken, spontane Eingebung, inneres Erleben, Tonmalerei:
Um ihn her – Häuser. Und um die Häuser: Hecken, die ‚Hecken‘ heißen.
Er denkt an die Maus. Ohne an sie als ‚Maus‘ zu denken, auch wenn es Kraft kostet. Ach mit ihr – Hajo, der heißt wie er heißt, stellt sie sich genauestens vor – einfach nur dazusitzen …
Das von den Mündern Modellierte in die gepiepste Stille schnuten …
Zum onomatopoetischen Arsenal des Haibuns gehören auch das ständige „Pling. Pling“ des Smartphones oder das „Plitsch“ der Pfützen. Wie überhaupt der Dingwelt ein Eigenleben zugeschrieben wird: Wege fuchteln mit ihren Etappen, Oberfläche dehnen sich hinaussehnend, der Asphalt schmaust Sohlen. Symptomatisch in Snelas Prosa ist auch das Um-die-Ecke-denken, wie wir es aus avancierten Kreuzworträtseln kennen: „eine Antlitzöffnung, deren zumeist nur Ritz-zarter Schlitz gerade ein phänomenal funktionales Klaffen aufweist.“ Die Auflösung folgt auf dem Fuße: „Und beißt kräftig zu.“
Stylisher Wit oder doch nur Sprachgymnastik? Eine Frage, die sich auch bei der Gesamtkonzeption des Romans stellt, denn der Autor lässt kaum ein trendiges Thema aus: Klimakleber, Gebärstreik im Anthropozän, Transgender, Fuzzy-Logik, RoboPets, Kintsugi, was auch immer. Ist das nun Haschen nach dem Zeitgeist oder stimmt es, dass die Sprache Snelas eigentliches Thema ist, wie es im Blurb auf dem Umschlagrückseite heißt? Auf jeden Fall bindet der Sound, der Klang der Gedanken, alles zusammen. Allein das macht das Buch lesenswert.
PS: Die Frauen-Uni in Nara gibt es wirklich. Elysia marginata ging 2021 als sich selbst köpfende Meeresschnecke durch die Medien. Die Studentin, die die Entdeckung machte, heißt Sayaka und nicht, wie im Roman, Sakaya.