Herausforderungen des Fontaneschen Realismus

Von Ulrike Vedder und Peter Uwe Hohendahl herausgegebene Einzelstudien zu Fontanes Gesellschaftsromanen

Von Natalie MoserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalie Moser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Doppeltitel der jüngsten Buchpublikation zu Theodor Fontane – Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane – lädt zum Nachdenken ein: Wer oder was stellt für wen eine Herausforderung beziehungsweise Herausforderungen dar? Werden die Herausforderungen des Realismus in Fontanes Gesellschaftsromanen ins Auge gefasst oder impliziert der Publikationstitel, dass Fontanes Gesellschaftsromane Herausforderungen darstellen, wenn man sie den Registern des Realismus folgend zu lesen versucht? Oder will der Titel etwa dafür sensibilisieren, dass Fontanes Gesellschaftsprosa insgesamt eine Herausforderung ist, deren Etikettierung als ,realistisch‘ mehr Fragen aufwirft als Antworten zur Verfügung stellt?

Peter Uwe Hohendahl, emeritierter Professor an der Cornell University, und Ulrike Vedder, Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin, versammeln in einem sorgfältig lektorierten Sammelband dreizehn Studien zu je einem Fontaneschen Gesellschaftstext – trotz des Sammelbandtitels handelt es sich hierbei nicht nur um Romane, sondern auch um Novellen. Mit unterschiedlichem methodischem Werk- und theoretischem Rüstzeug analysieren namhafte Forschende Fontanes Gesellschaftstexte, die in einer Zeitspanne von mehr als 20 Jahren erschienen sind. Die aus zwei gleichnamigen Konferenzen in Ithaca und Berlin hervorgegangenen Einzelstudien überzeugen durch genaue Textlektüren, Perspektivenvielfalt und Leserfreundlichkeit.

In der dreiteiligen Einleitung des Sammelbandes zeichnet das Herausgeberteam die Entwicklung in der literaturwissenschaftlichen Beurteilung von Fontanes Werk nach, skizziert in groben Zügen die Forschung zu Fontanes Gesellschaftsprosa und verweist auf die Spezifik von Fontanes Realismus, der – so das Fazit des Bandes – sich nicht hinter demjenigen französischer oder englischer Realisten verstecken müsse. Während die Einleitung die Meilensteine der Fontane-Forschung nennt, liefern die nachfolgenden Textanalysen eigenständige Forschungsbeiträge zur Konstitution des Sozialen und zur Funktion des Realismus in Fontanes Gesellschaftsprosa. Die Aspekte ,Theatralität‘ und ,Inszenierung‘ zeichnen sich als zentrale Momente von Fontanes Auseinandersetzung mit dem Sozialen ab, bei der die Konstitution des Sozialen und weniger die sozialen Gegebenheiten selbst im Zentrum stehen. Auf eine in Sammelbänden typische chronologische Darstellung beziehungsweise Zusammenfassung der Einzelbeiträge wird verzichtet, an ihrer Stelle findet sich jedoch eine hilfreiche thematische Perspektivierung der nachfolgenden Einzelstudien.

Den Realismus als Schwerpunkt setzend, bildet der Sammelband eine Fortsetzung des von Stephan Braese und Anne-Kathrin Reulecke herausgegebenen, in der Einleitung erwähnten Bandes Realien des Realismus. Wissenschaft – Technik – Medien in Theodor Fontanes Erzählprosa (2010). Obwohl es im Rahmen von Einzelstudien schwierig ist, sowohl dem untersuchten Text als auch der auf dem Buchdeckel angekündigten Auseinandersetzung mit „neueren Realismus-Debatten“ gerecht zu werden, wäre mit Blick auf einzelne Beiträge ein stärkerer Bezug zu entsprechenden Diskussionen wünschenswert gewesen, zumal eine Vielzahl der Beitragenden nicht nur Fontane-, sondern auch Realismus-Spezialistinnen und -Spezialisten sind. Nachfolgend sollen fünf Beiträge vorgestellt werden, die sich explizit mit dem Realismus und seiner Bedeutung für die Analyse von Fontanes Gesellschaftsprosa auseinandersetzen.

Eva Geulen hat ihrer Lektüre von L’Adultera (1880) die Frage zugrunde gelegt, inwiefern Konzepte der (Früh-)Realismus-Poetik wie dasjenige der Entsagung oder Verklärung für die Interpretation von Fontanes Ehebruch-Novelle anwendbar sind. Mit Rückgriff auf Überlegungen von Gerhard Neumann und Moritz Baßler, der auf die Aporetik des realistischen Erzählens hinweisend eine irreduzible Differenz zwischen Realismus und ästhetischer Moderne betont, verweist sie auf die paradoxe Funktion der Kopie beziehungsweise des Zitats, die im Text sowohl als Problem als auch als Lösung fungieren: Gemäß Geulen treten beispielsweise in der Figurenkonstellation auffällige Wiederholungen auf, so etwa auf der Seite der männlichen Partner der Protagonistin und ihrer Rolle als Ehefrau. Geulen liest das Textende als eine „pseudotragische Wiederholung des Anfangs“, sodass L’Adultera kein Happy End bescheinigt werden kann und folglich der Konzeption von Effi Briest sehr ähnlich ist. L’Adultera sei ein ex negativo-Beispiel für das realistische Verklärungs- und Entsagungskonzept, ein spätrealistischer, (auch noch) der Entsagung entsagender Text.

Die zwei Beiträge der Herausgeberin Ulrike Vedder führen anhand der Romane Graf Petöfy und Frau Jenny Treibel vor, wie Fremd- und Selbstreferenzialität textintern in Erscheinung treten. Bei Graf Petöfy (1884) handle es sich, so Vedder, um „einen theatral-semiologischen Roman“, der vor allem Darstellungsprobleme behandle. Mittels des Theater- und Theatralitätsdiskurses führe der Text Wirklichkeitsbezüge vor und mache zugleich das Verhältnis zur Wirklichkeit insgesamt thematisierbar. Bei der Verschränkung von Fremd- und Selbstreferenzialität spielen insbesondere Auslassungen, die Interpretationstätigkeiten nach sich ziehen, und das gegen Ende des Textes in der Lebensweise der Protagonistin zutage tretende Moment der Entsagung eine wichtige Rolle. Hier verweist auch Vedder auf Überlegungen Baßlers, genauer auf die realistische Kippfigur, einem Changieren des Erzählens zwischen metonymischer und metaphorischer Erzählweise. Prototypisch-realistische Darstellungsweisen wie das Moment der Entsagung werden gemäß Vedder im Roman nicht nur angewandt, sondern beispielsweise durch Fokussierung der Lebens- und Theaterprogrammatik des Grafen Petöfy textintern sicht- und reflektierbar.

Auch in Vedders zweitem Beitrag, welcher der Analyse von Frau Jenny Treibel (1892) gewidmet ist, spielt der Aspekt der Theatralität eine wichtige Rolle. Die in der Analyse von Graf Petöfy angedeutete Geschlechterdramaturgie, die nach Vedder ebenfalls Bestandteil der realistischen (Selbst-)‌Reflexion ist, wird hier beispielreich vorgeführt. Vedder zeigt anhand einer anschaulichen Textanalyse auf, dass die auf den ersten Blick realistischen Darstellungen widerstreitender Darstellungsverfahren wie die Detail(über)fülle, das Beobachten des Beobachtens und die Genrebilder im Dienste des Realismus stehen. Den drei Aspekten liege ein Modell der Zweiteilung beziehungsweise Unterscheidung zugrunde, das die Differenz von Wirklichkeit und Darstellung der Wirklichkeit in die realistischen Texte einkopiere. Diese unendlich fortsetzbare Differenzierungsarbeit und damit eine Radikalisierung der dem Realismus eingeschriebenen Prämissen rücke Fontanes Text denn auch in die Nähe der ästhetischen Moderne.

Im Beitrag von Peter Uwe Hohendahl steht die Frage nach der Spezifik von Fontanes Realismus ebenfalls im Zentrum. Hohendahl leitet seine Überlegungen mit der Feststellung ein, dass Fontane mit Unwiederbringlich (1891) den Rang eines europäischen Realisten erreicht habe, den unter anderen Erich Auerbach den deutschen Realisten pauschal abgesprochen hat, und dass dieser Roman an der Grenze zur ästhetischen Moderne stünde. „Fontanes Realismus ergibt sich nicht aus dem Erzählen vorgefundener Wirklichkeit (Ereignisse, Orte, Menschen), sondern aus der Inszenierung von Sprache“, hält Hohendahl fest und betont, dass vor den Augen der Leserschaft das Soziale erst konstituiert werde, wodurch die Leserschaft Einblicke in die Beschaffenheit der gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit, aber auch Einblicke in die Konstruiertheit von Wirklichkeit erhalte. Hohendahls Interpretation von Unwiederbringlich belegt wiederum die Korrespondenz von Fremd- und Selbstreferenzialität in Fontanes Gesellschaftsprosa.

Eine ähnliche Perspektive nimmt Elisabeth Strohwick ein, wenn sie hinsichtlich der Poggenpuhls (1896) von einem „Realismus der Überreste“ spricht und betont, dass in diesem Buch die Genese des Wirklichen als Wiederholung beobachtet werden könne. Strohwick nennt Fontanes Realismus einen „Realismus des Alltäglichen“ , der das Kleine und Nebensächliche in den Fokus rücke, damit aber auch die Bedeutung des ,Neben-‘ für die Wirklichkeitskonstitution in realistischen Texten anzeige.

Der verdienstvolle Sammelband generiert in seiner induktiven Vorgehensweise – in keinem der Beiträge wird versucht, ausgehend von einer Definition des Gesellschaftsromans die einzelnen Gesellschaftsromane Fontanes zu interpretieren – sowohl neue Interpretationsansätze hinsichtlich der Primärtexte als auch der Ausprägung von Fontanes Realismus. Im Hinblick auf Fontanes Gesellschaftsprosa und die Spezifik seines Realismus könnte der Sammelband gar eine Art von Vorarbeit für das 2019 erscheinende neue Fontane-Handbuch darstellen, das sich weiteren Herausforderungen in und durch Fontanes Werk stellen wird.

Titelbild

Peter Uwe Hohendahl / Ulrike Vedder (Hg.): Herausforderungen des Realismus. Theodor Fontanes Gesellschaftsromane.
Reihe Litterae Band 229.
Rombach Verlag, Freiburg 2018.
331 Seiten, 56,00 EUR.
ISBN-13: 9783793098959

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