Der Popstar als Sisyphus

Die Musikerin Judith Holofernes hat mit „Die Träume anderer Leute“ ein faszinierendes Buch über das Leben nach dem Popstarruhm geschrieben

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem Interview, das Judith Holofernes jüngst auf der Frankfurter Buchmesse zum Erscheinen von Die Träume anderer Leute gegeben hat, erzählte die Künstlerin davon, dass es bis vor kurzem ja eigentlich keine Bücher über das Leben nach der Rockstarkarriere gegeben habe; erst vor einigen Wochen sei eines erschienen, das letztlich genau das spiegle, was sie in ihrem eigenen Buch auch schildert. Gemeint ist Exit Stage Left – The Curious Afterlife of Pop Stars des britischen Autors Nick Duerden, und Holofernes zweifelte augenzwinkernd in jenem Gespräch an, dass es nach der Lektüre von Duerdens Werk eine Notwendigkeit gegeben hätte, ihr eigenes Buch zu verfassen.

Glücklicherweise hat sie es trotzdem geschrieben, denn Die Träume anderer Leute ist eines der besten Bücher, die eine Popmusiker*in jemals verfasst hat, nahezu auf einem Level mit einem Großwerk wie die Autobiographie von Robert Forster, Grant und Ich, die letztlich einen ähnlich schonungslosen, aber gleichzeitig humorvollen Blick hinter die Kulissen anbietet. Ob man die manchmal nervig exaltierte Art der Musikerin mag oder nicht, spielt dabei zum Glück kaum eine Rolle; der esoterische Gehalt des Buchs ist auf ein unaufdringliches Minimum reduziert, und das in dieser Art Musikerbiografie unangenehme Ungleichgewicht zwischen kritischer Vergangenheitsbetrachtung und selbstlobender Gegenwartseuphorie hält sich in Grenzen. Damit haben sich schließlich schon Wolfgang Niedecken und zuletzt Heinz Rudolf Kunze im Grunde gelungene Autobiographien regelrecht selbst versaut. Dass Holofernes anders als die beiden erwähnten Rocklegenden nichts mehr zu verkaufen hat, ist zwar nur die halbe Wahrheit, da sie durchaus genug Werbung für ihren Patreon-Kanal macht, doch letztlich fügt sie sich dem Mantra ihres Buches ein: Alles eine ganze Nummer kleiner, um dafür glücklicher zu sein. Das Einzige, was man sich auch bei Holofernes fragt, ist, welche Drogen die Teilnehmer des eigentlich aufgrund seiner Anbiederungskultur leicht widerlichen Privatfernsehenspektakels Sing Meinen Song verabreicht bekommen, um im Nachhinein zu erzählen, wie einschneidend positiv dieses Erlebnis gewesen sei. Aber das ist nur eine kleine Fußnote am Ende eines ansonsten durchweg überzeugenden und auch spannenden Buchs.

Der oben erwähnte Vergleich mit Robert Forsters Grant und Ich kommt nicht von ungefähr, denn das Schönste am Buch einer Popmusiker*in ist doch, dass man erfährt, wie die Wirklichkeit hinter den Kulissen einer großen (oder auch, wie in Forsters Fall, eher mittelgroßen) Karriere aussieht. Nun ist der Blick auf Judith Holofernes, einst strahlende Frontfrau der deutschen Popsensation der 00er Jahre, Wir Sind Helden, schon immer etwas verzerrt gewesen. Dazu lohnt ein Blick zurück: Als Wir Sind Helden mit ihrem leicht nervigen, konsumkritischen, musikalisch an der NDW angelegten Hit Die Reklamation über Nacht berühmt wurden, war dies der Startschuss zu einem neuen, unglaublich erfolgreichen Phänomen, der so genannten Female-Fronted-Popband mit deutschen Texten – ein aus heutiger Sicht ziemlich blöder Begriff, schließlich würde man Bands mit männlichem Sänger auch nicht als Male-Fronted bezeichnen. Es folgten nämlich unsympathische Plagiatoren wie Juli und sympathischere, dafür völlig nichtssagende Bands wie Silbermond, mit denen die Industrie das Versprechen, das Wir Sind Helden gegeben hatten, in viel Geld umwandelte. Ob den Leuten nicht aufgefallen ist, dass die Helden wirklich kluge (wenn auch manchmal durchaus nervige) Texte verfasst haben, während sich die restlichen Bands, die politischeren Jennifer Rostock vielleicht mal ausgenommen, auf die hohe Kunst des Nichtssagens konzentrierten, die dann von der nächsten Generation der Mark Forsters, Tim Bendzkos und Lea-Lottes auf die Spitze getrieben wurde? Auch daran ist Holofernes irgendwie schuld, was sie in ihrem Buch in weiser Voraussicht verschweigt.

Tatsächlich war das erste Helden-Album, das ebenfalls Die Reklamation hieß, ein großes Pop-Versprechen, dem man die angebliche Rohheit, partielle Inkompetenz und Verschrobenheit, die Holfernes der Band in ihrem Buch retrospektiv attestiert, dank der kommerziellen, allzu glatten Produktion (die sie, fairerweise muss das auch erwähnt werden, durchaus eingesteht) wirklich nicht anhörte. Die beiden Folgealben klangen etwas reifer, rockiger, waren aber immer noch mit genug chartskompatiblem Hitmaterial bestückt, um die Band zum Erfolgsgaranten und Livemagnet werden zu lassen. Der Bruch kam wohl mit dem vierten Album Bring mich nach Hause, das zeitgleich in einer regulären und einer „Unplugged“-Version erschien, und einen deutlichen Schritt hin zu einer neuen Ernsthaftigkeit bedeutete. Es ist eines der wunderbarsten deutschsprachigen Alben der letzten Jahrzehnte, auf dem Holofernes endlich zeigte, was als Sängerin und Texterin in ihr steckt, das aber leider kein großer Erfolg mehr war. 

Als die Band sich auflöste, wurde Holofernes, gegen ihre ursprünglichen Pläne, zur Solokünstlerin, veröffentlichte zunächst ein schwaches und ein gelungenes Album, und zog sich dann auch gesundheitsbedingt fürs Erste aus dem Pop-Zirkus zurück. Von genau dieser Post-Helden-Phase handelt Die Träume anderer Leute, übrigens der Titel eines Songs vom letzten Helden-Album. Genau hier bereits ein Teil der Verweigerungshaltung, die sich die Sängerin immer groß auf die Brust geschrieben hat und die sie in ihrer Autobiographie weiterhin konsequent durchzieht: Nicht die beliebte Zeit mit Wir Sind Helden wird den Leser*innen als Fan-Futter gegeben, sondern die Zeit des Zweifelns, der Richtungslosigkeit und des Abrutschens in die trostlose Existenz als gefühlte Has-Been, gekoppelt mit dem fortlaufenden Erkenntnisprozess, niemals mehr annähernd das Aufmerksamkeitslevel früherer Tage erreichen zu können. 

Für Menschen, die sich für Popmusik und die Mechanismen, die sie immerfort vorantreiben, interessieren, liefert das Buch erschütternde Einblicke in das Wesen des viel zitierten Hamsterrads: So sehr Judith Holofernes, aus familiären wie aus gesundheitlichen Gründen, einfach nur das Level ihres Erfolgs und ihrer Berühmtheit ein paar Stufen senken möchte, um auf bescheidenerem Niveau weiterhin ihre Kunst machen zu können – es mag ihr aufgrund ihrer Verstrickungen in das herrschende System nicht glücken. Offenbar kann man als nationaler Superstar nicht einfach ein paar Nummern kleiner weitermachen, sondern muss stets einem Status hinterherarbeiten, von dem man weiß, dass man ihn niemals mehr erreichen wird. Doch die Verstrickungen mit Management, Medienbranche, Fans und nicht zuletzt die kaum zu unterschätzende psychologische Komponente, namentlich die Sucht nach Anerkennung, scheinen kaum zu überwinden. Wie subtil und emotional, gleichzeitig selbstironisch sie diesen Abnabelungsprozess bzw. seine partielle Unmöglichkeit schildert, ist in hohem Maße faszinierend.

Man muss kein Fan oder, wie der Autor dieser Zeilen, nur gelegentlicher Hörer von Wir Sind Helden sein, um dieses Buch wertschätzen zu können. Denn letztlich ist es zum einen ein unglaublich ehrliches Buch über das unerbittliche Musikbusiness, aber auch ein Buch über Menschlichkeit, Nähe, Liebe und Selbstachtung.

Titelbild

Judith Holofernes: Die Träume anderer Leute.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
416 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783462003673

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