Kreißte der Berg und gebar eine Maus?

In seinem Debütroman „Wilde grüne Stadt“ packt Marius Hulpe viele Themen an. Vielleicht zu viele

Von Matthias FriedrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Matthias Friedrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer zum ersten Mal auf den Umschlag von Marius Hulpes Debütroman schaut, dürfte zunächst reichlich verwirrt sein. Was steht denn da? Ein Labyrinth aus goldenen und schwarzen Stäben, dessen Eingang mal hier liegen könnte, mal dort. Langsam fallen die Schuppen von den Augen, und siehe da: Inmitten dieser Konstruktion ist das Wörtchen „Roman“ versteckt, unten steht der Verlagsname („Dumont“), und viele Stäbe drängen sich zu drei Wörtern zusammen – Wilde grüne Stadt. Diese werden dann zur Sicherheit auch noch einmal ganz unten auf dem Cover wiederholt. Und wer sich nun noch traut, das Buch aufzuschlagen, entdeckt sogar den schönen Untertitel Im Labyrinth des entwurzelten Lebens.

Schon die Gestaltung und der Name dieses Buches wecken gewisse Erwartungen. Das Irrgartenmotiv hat eine reiche Tradition. Stellvertretend erinnert sei an Theseus, der mithilfe des Ariadnefadens den Weg aus dem Labyrinth nach draußen fand, nachdem er den Minotaurus getötet hatte. Einen solchen Faden braucht auch, wer in dieses kleine Universum eintreten möchte, das Hulpe in seinem Debüt entworfen hat. Denn hier wird nichts chronologisch erzählt. Die Handlung umfasst fast siebzig Jahre: von den späten 1940er bis in die frühen 2010er Jahre, und sie umspannt zwei Länder, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben, nämlich Deutschland und Iran. 1960 wird der junge Reza vom Schah-Regime nach Westfalen geschickt, um dort Industriespionage zu betreiben, und landet in einer „wilden grünen Stadt“, die wegen geographischer Anspielungen vonseiten des Autors unschwer als Soest zu erkennen ist. Er soll Agrarwissenschaften studieren und seine Auftraggeber über die wirtschaftlichen Innovationen in Kenntnis setzen, um sich Schritt für Schritt Einfluss in der deutschen Gesellschaft zu verschaffen.

Natürlich geht das nicht glatt, denn Reza verliebt sich. Zuerst in Bettina, dann in Clara. Mit beiden bekommt er Kinder. Allerdings konzentriert sich Hulpe weniger auf die Erst- als auf die Zweitgenannte, um an ihr die Verwerfungen zu beschreiben, die in der alten Bundesrepublik eine Rolle spielen. Clara, die ein Freigeist ist, hat es schwer in ihrer katholischen Familie. Dass sie Beziehungen zu „Ausländern“ pflegt (unter anderem zu einem Rumänen, von dem Sheva, ihre erste Tochter, stammt), ist für ihre Familie und ihr konservatives Umfeld leider schon Grund genug, auf sie herabzuschauen. Außerdem hat sie kaum eine andere Möglichkeit, als die Kürschnerei ihres Vaters Willi zu übernehmen. In den folgenden Jahren bemüht sie sich, ihre Familie durchzubringen – auch, nachdem beide Beziehungen längst in die Brüche gegangen sind. Ein großer Teil des Romans handelt von Niklas, Rezas Sohn; dieser sieht seinen Vater selten, bekommt schon früh den Alltagsrassismus seiner Umgebung zu spüren und kann als heimliche Hauptfigur der Geschichte bezeichnet werden. Aus seiner Perspektive wird deutlich, welche Zustände in der Familie herrschen. So gibt es am Anfang des Buches ein Kapitel, in dem die Mutter ihre Kinder zum Essen ruft. Alltäglich-banaler geht es kaum, aber die Passage macht durch die Dialoge klar, dass Clara wegen ihres Freisinns keinen guten Stand in ihrer Familie hat. So stellt sich heraus, dass es keine gute Idee ist, mit ihrer eigenen Mutter, Shevas und Niklas’ Oma, unter einem Dach zu leben, denn die Ältere sieht nicht ein, dass die Jüngere sich nicht für einen (deutschen) Mann entscheidet, und bezeichnet sie einmal sogar als „Hure“. Hulpe hat ein Talent dafür, in den banalsten Ereignissen des Alltags die kleineren und größeren Katastrophen des Zusammenlebens aufzustöbern.

Der Roman springt immer wieder zwischen den Jahrzehnten hin und her. Die 1980er sind mit am prominentesten vertreten, die ’90er auch, ebenso die ’60er und ’70er. Zunächst ist fraglich, wie alle diese Teile zusammengehören. Die Wilde grüne Stadt ist nämlich auch ein Panoptikum der Themen: das Schah-Regime; Katholizismus in Westfalen; Schulalltag in der BRD; marodierende Jugendliche; patriarchale Denkstrukturen in der Provinz; Agrarwissenschaften; linke Theorie; Studentenkultur; Tierschutzaktivisten; Kunstgeschichte; Soest. Welcher ist denn nun der Ariadnefaden, der durch dieses „Labyrinth des entwurzelten Lebens“ führt?

Zum Glück muss der Kritiker hier nichts hineinlesen, denn der Roman beantwortet diese Frage selbst. Am Ende seiner Ausbildung und nach der Arbeit auf einem Bauernhof denkt Reza nämlich über den Wandel nach, den er an sich und in seiner Umwelt beobachtet hat: „Und auch, wenn ihm die Kommunisten und Sozialdemokraten, auch die Adorniten und ohnehin die Trotzkisten, die sich neuerdings überall einmischen, nicht unsympathisch sind, sieht und ahnt er eine weitere Bewegung heraufdämmern, eine andere Form von Revolution, und zwar keine rote, sondern eine Art grüne Revolution, die aber erst ermöglicht wird durch die Modernisierung und bei der alles auf die Schonung der Kräfte und Ressourcen angelegt ist, um sie auf das Eigentliche zu verwenden“. Das entscheidende Stichwort ist hier die „Revolution“. Wilde grüne Stadt ist ein Buch über die Verwerfungen, die das Politische im Privaten hinterlässt. Da ist Reza, der sich nach dem Zusammenbruch einem Land überantworten muss, das er eigentlich aushorchen sollte; da ist Clara, die ihren Weg aus der Enge der katholischen Familie sucht; und da ist Niklas, der nach dem Ende der großen Erzählungen zwar nicht mehr befürchten muss, der Willkürlichkeit ausgeliefert zu sein, aber mitbekommt, was die Geschichte an seinen Eltern angerichtet hat. Kurzum: Wilde grüne Stadt ist ein politisches Buch. Aber keines, das einer plump entworfenen Agenda folgt, denn der Erzähler schlüpft in viele unterschiedliche Persönlichkeiten hinein. So erhält das Publikum Einblick in Reza, den Sohn eines wohlhabenden iranischen Gutsbesitzers, in Clara, die sich vor allem von ihrem Vater emanzipieren will, aber letztlich doch klein beigeben muss, und in Niklas, der von klein auf das Gefühl hat, irgendwie eine andere Herkunft zu haben als die anderen.

Hulpe verspricht viel in seinem Roman. Das fängt bereits im Klappentext an, in dem es heißt: „Als Reza 1979 die Islamische Revolution live im Fernsehen verfolgt, begreift er, dass es kein Zurück gibt. Er kollabiert und gerät in Abhängigkeit – von einer Familie, deren Hoffnungen er selbst stets enttäuscht hat.“ Nun muss vorsichtig sein, wer der Werbeprosa des Literaturbetriebs zu viel Aufmerksamkeit schenkt, denn allzu schnell folgt der Euphorie über die Entdeckung einer neuen Stimme die Enttäuschung. Hier allerdings erwartet der Kritiker etwas ganz Konkretes, nämlich die Schilderung jenes „Kollabierens“ und der „Abhängigkeit“, die mit einer Lüge einhergeht. Denn natürlich kann Reza nicht sagen, dass er ein iranischer Spion ist. Er versucht, sich in den deutschen Alltag einzuleben und integriert sich nach und nach. Die politischen Entwicklungen in seinem Heimatland stellen seinen Auftrag jedoch grundlegend in Frage, und so muss er sich eine andere Arbeit anderes suchen (und findet sie auch). Allerdings ist er immer noch aufs Engste mit Claras Familie verbunden. Hieraus ergibt sich die Frage, ob er die Wahrheit sagen oder es lieber bleiben lassen soll. Er entscheidet sich für Letzteres und frisst seine Gefühle immer weiter in sich hinein – was natürlich nicht gut ausgehen kann. Die Erwartung des Kritikers bestand nun darin, darüber zu lesen, wie Rezas Lüge nach und nach ans Licht kommt und was das mit den involvierten Personen, insbesondere Clara und Niklas, anstellt. Genauer: der Kritiker erhoffte sich ein Gesellschaftsdrama à la Henrik Ibsen, in dem alle unschönen Geheimnisse wie die Kellerasseln unter einem Stein hervorflitzen. Stattdessen schneidet der Roman viele schon erwähnte Themen aus Politik und Gesellschaft an, vermag sich allerdings nicht auf seinen heißen Kern zu konzentrieren: Claras Familie, ihre Verstrickung in die Diskurse und Denkweisen ihrer Zeit und die allmähliche Veränderung der Gegebenheiten. Zu erwarten gewesen wäre etwa Folgendes: Die erste Romanhälfte konzentriert sich auf Rezas Aufbruch nach Deutschland und seine Ankunft; das Publikum erfährt etwas über Clara und ihre Lebensumstände; sie trifft Reza und verliebt sich in ihn, Niklas wird geboren. Es entwickelt sich ein Zusammenleben, das allerdings an der Feindseligkeit der Umgebung scheitert. Denn allmählich kommt Rezas Tätigkeit für den iranischen Geheimdienst ans Licht. In der zweiten Romanhälfte hätte Hulpe die Konsequenzen für Clara und ihre Kinder beschreiben können; denn was bedeutet es für die Liebe, wenn sie auf einer Lüge basiert?

Diese Erwartung wird enttäuscht. Dem Kritiker ist bewusst, dass er den verunfallten Klappentext nicht für ein eventuelles Scheitern des Romans verantwortlich machen kann. Gleichwohl schürt eine derartig forcierte Literaturbetriebsprosa Hoffnungen, die der Roman nicht einhält. Verspricht er zu viel auf einmal? Der römische Dichter Horaz formulierte dieses Problem so: „Es kreißen die Berge, zur Welt kommt nur ein lächerliches Mäuschen.“ Böse Zungen mögen einwenden, Hulpe habe das realistische Erzählen neu erfinden wollen, indem er alle möglichen Diskurse in eine Handlung hineinstopfte, wobei aber nur ein mediokrer Text zustande gekommen sei. Dies trifft auch teilweise zu, jedenfalls dann, wenn lediglich die schiere Fülle der Themen in Betracht gezogen wird. Man muss zum Glück nicht so weit gehen, Wilde grüne Stadt als misslungen abzustempeln. Eine Konzentration auf das Wesentliche hätte dem Buch gut getan, eine besser ausbalancierte Dramaturgie ebenso. Es ist zum Beispiel nicht nachvollziehbar, weshalb die Beziehungsgeflechte und Erlebnisse der Charaktere in den ersten drei Vierteln so breit ausgewalzt werden, um dann im letzten Viertel allzu schnell zu einem Ende gebracht zu werden, und leider einem, das aus den vorangegangenen Entwicklungen nicht zu ersehen ist. Ein längerer erzählerischer Atem hätte einer Beschreibung, welche Auswirkungen eine Lüge auf das Zusammenleben haben kann, durchaus gut getan. Aber dass Hulpes Roman nicht gescheitert ist, liegt vor allem an den warmherzigen Charakteren. Ihnen gebührt die Sympathie des Publikums. 

Titelbild

Marius Hulpe: Wilde grüne Stadt. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2019.
397 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783832183677

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch