Manifest der digitalen Bohème

Die 'Generation Praktikum' wehrt sich: Holm Friebe und Sascha Lobo proklamieren einen neuen Arbeitsbegriff

Von Laura WilfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Wilfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist weder eine Imagekampagne der Gewerkschaften, noch ein neues Konsolenspiel Marke "Krieg der Arbeitswelten". Es ist auch kein hauptstädtisches Kunstprojekt und nicht einmal die Verzweiflungstat der Generation Praktikum: "Wir nennen es Arbeit" ist eine erste Antwort auf den unselbstständigen Stubenhocker, der wie der kleine Jean-Paul Sartre die große weite Welt nur medial vermittelt bekam - wenngleich er sie auch nicht wie dieser in der großväterlichen Bibliothek, sondern durch den väterlichen Heimcomputer kennen lernte. Aus Spiel wurde Ernst, aus Sartre ein Intellektueller und aus dem jugendlichen Computerfreak bald ein Blogger, dem das virtuelle Dasein zur essentiellen Komponente seines alltäglichen und daher konsequenterweise auch des Arbeitslebens wird.

Der notwendige Realitätsverlust, der aus der Kommunikation via Mattscheibe folgt, wendet sich in der weitgehend an sich selbst exemplifizierten Darstellung von Holm Friebe und Sascha Lobo in die Anerkennung des unleugbaren Gewinns an sozialer Kompetenz, die in Form von Respektnetzwerken und Aufmerksamkeitsbörsen Gestalt gewinnt und nicht zuletzt - das ist der Ausgangspunkt ihrer Argumentation - durch geschickte Interaktion des Einzelnen auch ganz reale Gewinne zu erwirtschaften erlaubt.

Geradezu symptomatisch erscheint die Kombination Volkswirt (Friebe) und Werbetexter (Lobo) für das Arbeitsmodell, mit dem das "System Festanstellung" nach Mainstream-Maßstäben zum alten Eisen der Massenproduktion geworfen und der Kleinfamilie mit geregeltem Einkommen zugeordnet werden soll. Verbindliche Strukturen, die zuverlässig Fachidioten, Duckmäuser, Bürotyrannen sowie bedeutende Quantitäten ausschließlich autoreferentiellen Leerlaufes produzierten, erscheinen angesichts der technologischen Entwicklung, die den Arbeitskampf auf einer höheren Ebene reproduziert, und des zivilisatorischen Stands nach der Perfektionierung des Individualismus spätestens mit der Jahrtausendwende als überholt: Wer in dieser Situation nun "vom Kofferraum auf den Fahrersitz" steigt, gehört auf den ersten Blick zur unscheinbaren und erst auf den zweiten Blick wieder auffälligen 'kritische Masse', die ihre Tage in öffentlichen Cafés sitzend verbringt, durch Kopfhörer unabgelenkt stumm vor sich in die Maschine tippend. Komplizenhafte Blick- sowie dem Außenstehenden kryptisch erscheinende Wortwechsel in einem fachwortgespickten Englisch ergänzen das Klischee einer zur konspirativen Gemeinschaft verbundenen jeunesse dorée, deren Arbeitsethos kaum zu durchschauen, im klassischen Sinne nicht existent zu sein scheint.

Die programmatische Ankündigung "Wir nennen es Arbeit" rekurriert auf diese Divergenz und stellt zu gleich die Analogie her zu dem, was der Begriff gemeinhin zu bedeuten scheint: Die mit umfassender, materieller wie intellektueller Abhängigkeit erkaufte Sicherung der eigenen bzw. familiären wirtschaftlichen Existenz. Bekanntermaßen droht sie diese Garantiefunktion zusehends zu verlieren, ihre Monopolstellung als bürgerliches Lebensziel bleibt jedoch, nicht zuletzt aus Gründen zunehmender Verunsicherung, ungebrochen - so die Argumentation der Autoren.

Die allseits geforderte Flexibilität des künftigen Arbeitnehmers, die sich in der sogenannten Generation Praktikum zu einer Form der freiwilligen Ausbeutung pervertiert wiederfindet, soll ihm stattdessen als Kapital zur selbstbestimmten Verwertung dienen. In der Ablehnung des zur maximalen Flexibilität verurteilten "unflexiblen Menschen", in dessen Kopf der "imaginäre Personalchef" über die Karrieretauglichkeit jedweder Entscheidung wacht, sowie in der gelebten Forderung nach individuell flexiblen Arbeitszeiten, -orten und -zwecken geriert sich der Vorschlag für "intelligentes Leben jenseits der Festanstellung", nicht nur im Gestus als antibürgerlicher Befreiungsschlag einer bestimmten Generation. Es sind jene Mittdreißiger, denen stets die Prüfung überkommener Lebensmodelle auf ihre Zukunftstauglichkeit obliegt.

Aus der Historie solcher alternativer Haltungen wählen sich die Autoren das Modell der klassischen Bohème, das in der Aktualisierung als "digitale Bohème" zur Charakterisierung dieses Lebens- als Arbeitmodells nur in eingeschränktem Maße tauglich erscheint, dafür aber einen klangvollen Markennamen ergibt.

Zur Konsolidierung dieses Selbstverständnisses, das zunächst den "kreativen Umgang mit temporärer Armut" den dem selbstbestimmten Individuum ohnehin zuwiderlaufenden neoliberalen Wahn entgegenstellt, leistet die Bohème-Kategorie gute Dienste. Dennoch geht sie in ihrer zeitgemäßen Ausprägung als "digitale Bohème" einen bedeutsamen "Schritt in die Richtung einer erwachsenen Selbständigkeit", die über das wiederholt postulierte unbefangene "Einfach-mal-machen" hinaus, dem Arbeitsmarkt echte Alternativen nicht nur für mutige Avantgardisten in Aussicht stellt.

Der entscheidende Unterschied zu der ex negativo als "analoge Bohème" bezeichneten Vorläuferin wird am technologischen Bedarf ihrer digitalen Vertreter erkennbar; wo bis dato stets ein Moleskine-Notizbuch auszureichen schien, ist nunmehr über den internetfähigen Laptop hinaus auch die Internetfähigkeit des Bohémien Bedingung für die Teilnahme an den kreativen Prozessen der "digitalen Bohème". Was diese per definitionem voraussetzt, Sensibilität und Zugänglichkeit für die digitale Welt - bis hin zu lauter werdenden Rufen nach "DSL als Bürgerrecht" - erschließt sich dem Laien über die Bloggerszene. In ihr Eigenleben führt das Buch unter dem in diesem Kontext fast archaisch anmutenden Titel "Kommunizierende Röhren" ein und geleitet den Leser zielgerichtet zu den "10 Gründen, warum jeder bloggen sollte", und zwar auf dem zugehörigen Blog "wirnennenesarbeit.de". Dort wird die analoge, will heißen suchmaschinenresistente Existenz mitsamt der des Freizeitangebots örtlicher Schachclubs der faktischen Bedeutungslosigkeit überführt und die kommunikative Dimension des menschlichen Daseins ins Virtuelle verlängert. Mit den "längsten Kontaktanzeigen der Welt" (F. Schwenzel) wird sieals essentielles Medium etabliert. Erst in der theoretischen Festlegung auf die Brecht'sche Radiotheorie jedoch wird die richtungsweisend politische Bedeutung dieses Vorstoßes sichtbar: In der so genannten "Blogrevolution" manifestiere sich, besagt das dem Spaßfaktor vorgeschaltete Argument Nummer neun, "der radikalste und funktionierende Gegenentwurf zur Gleichschaltung", der einzig in der Lage sei, einem "Individualismus 2.0" den Weg zu bereiten.

Dessen Realisierung via Selbstvermarktung sei jedoch unterschieden von jener virtuellen Existenzform, die sich in der Parallelwelt ausdifferenzierter Computerspiele fortsetzt und in der Tat nur für den geschulten Individualisten praktikabel sein dürfte. Bevor sich der Verkauf virtueller Schwerter für reelle Tausender als Broterwerb etablieren können wird, sind es die im Kapitel "Virtuelle Mikroökonomie" vorgestellten vielfältigen Geschäftsmodelle in Heimarbeit zwischen "Minipreneur" und ebay-Powerseller, die ein "intelligentes Leben jenseits der Festanstellung" greifbar werden lässt. Die Kernidee bildet das auf Angebot und Nachfrage basierende Handelsmodell, das die "Ware Aufmerksamkeit" zum begehrtesten Gut und die Perfektionierung des Werbeeffekts zum Beweis wirtschaftlicher und nicht zuletzt aber auch technischer Kompetenz macht.

Der Leitspruch "Wir sind das Netz" legitimiert die Bildung ungezählter Interessensgemeinschaften als "Netzwerke frei assoziierter Prosumenten." Er etabliert damit ein unüberschaubares Geflecht untereinander verwobener und zuweilen austauschbarer wirtschaftlicher und privater Kontakte. Durch die (ohne Lagerkosten und Überproduktion) ökonomische, (nach individuell angefertigtem Muster) kundenfreundliche und (durch unabhängige Preispolitik) rentable Produktion "on demand" füllt das kreative Netzwerk der "digitalen Bohème" aktuelle Marktlücken gleich mit einem neuen Marktkonzept. Es deutet an, was die Autoren mit einem Seitenblick auf die "Zentrale Intelligenz Agentur", mit der "Subversion des kapitalistischen Systems durch Affirmation und perfekte Assimilation" zur möglichen Maxime dieses nicht notwendigerweise politischen, nicht zwangsläufig antikapitalistischen Programms erheben.

Dass "Arbeit ohne Kapital" sich ebenso wenig auf die Existenz eines Hungerleiders beschränken muss, kann in diesem Buch an zahlreichen Beispielen nachvollzogen und für den ein oder anderen als Vorgeschmack auf das Glück in der "Verschmelzung eines Menschen mit seiner Tätigkeit" betrachtet werden. In dieser Mischung aus Selbstdarstellung bzw. klassischer "Argumentationshilfe gegenüber der älteren Generation" und Ausbeute an "nötigem Rüstzeug" für Nachahmer birgt dieses Buch hochaktuelles Erkenntnismaterial, das zu selten den Weg aus der "small world" der digital Vernetzten hinaus findet und doch nur so einer allgemeinen Verrätselung entgehen kann. In dieser Hinsicht erweist es sich zweifelsohne als nützlich, dass der - hoffentlich etwas zu weit gegriffene - Abgesang auf den "papierne[n] Ziegelstein" noch als papierner Ziegelstein erhältlich ist; diese Reminiszenz an die Kommunikationsformen der analogen Bohème dürfte sich als Link zur digitalen und nunmehr kommentaroffenen Fortsetzung des Buchs bezahlt machen.


Titelbild

Holm Friebe / Sascha Lobo: Wir nennen es Arbeit. Die digitale Boheme oder Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung.
Heyne Verlag, München 2006.
302 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-10: 3453120922

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