Alte Grille Jugend

Alter(ndes) Ego: Hellmuth Karaseks ganz persönliches Marienbad "Süßer Vogel Jugend oder Der Abend wirft längere Schatten"

Von Konrad LeistikowRSS-Newsfeed neuer Artikel von Konrad Leistikow

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach über 70 Jahren Lebenserfahrung hat sich der Journalist und Literaturkritiker Hellmuth Karasek nun des Themas Alter angenommen. Das Reflektieren der Probleme und Fragen, die mit einer steigenden Lebenserwartung zusammenhängen, erscheint in unseren rasant vergreisenden Gesellschaften auch wichtiger als je zuvor. Doch was soll man mit diesem Buch anfangen?

Fangen wir mit dem Schluss an. Denn erst dort benennt Karasek ganz konkret die Gründe für das beim Leser ständig präsente Unbehagen: "Drei Schwächen bedrohen das öffentliche Sprechen älterer Herren. Erstens die Weitschweifigkeit, weil man alles, was man weiß oder noch behalten hat, vor dem staunenden Publikum ausbreiten möchte. Dass man es eher ermüdet als erfreut und dies nicht bemerkt, ist der wachsenden Eitelkeit zuzuschreiben. Das ist die zweite Schwäche, und sie ergibt sich daraus, dass man sich auf seinen Lorbeeren ausruhen will, weil es an neuen Verdiensten, Leistungen und Eroberungen mangelt. Wir verdanken dieser selbstgefälligen Rückschau allerdings auch Casanovas Memoiren, aber dass deshalb jeder Erzähler, jeder Plauderer, jeder Redner, ist er ins Alter gekommen, seine Rede mit vergangenen Taten, die sonst keiner bemerkt hätte, aufbrezelt, ist für Zuhörer beklagenswert. Sie werden zum Opfer einer Nabelschau, die deshalb so schrecklich ausfällt, weil der alte Nabel zum Vorzeigen nicht mehr geeignet ist. [...] Die dritte, die unschuldigste, weil selten selbst verschuldete Schwäche ist das schon angeführte Sich-Verstricken im eigenen Gedankenlabyrinth."

Mit dieser überaus treffenden Einschätzung widerlegt Karasek seine zuvor aufgestellte Behauptung, allen Erzählern fehle im Grunde Kafkas "Fähigkeit, im Individuellen das Kollektive abzubilden, im Privaten das Allgemeine zu fassen". Denn genau das gelingt ihm mit seinem neuen Buch besonders gut. Ärgerlich nur, dass die Warnung vor den Eigenheiten alternder Erzähler dem Text nicht vorangestellt wurde. Karasek nämlich ist solch ein Plauderer; ein intelligenter Plauderer mit viel Sprachwitz zwar, keine Frage, aber gleichzeitig seit eh und je ebenso redselig wie selbstbezogen.

Trotz seiner wie immer gut zu lesenden 'Schreibe' stellt er den Leser schon zu Beginn des Buches auf enorme Geduldsproben. So etwa, wenn er über mehrere Seiten die Schwierigkeiten beschreibt, die ihm das Schuhbinden inzwischen bereitet. Das soll natürlich hochkomisch sein, geht einem aber sehr bald auf den Senkel. Diese abgeschmackten Passagen wirken so, als wolle Karasek seinen jüngeren Lesern durch die Vorführung eines authentischen Beispiels zwischen den Zeilen hindurch mitteilen: Seht Ihr, so ist das im Alter. Alte Leute erzählen gern solche Schnurren und halten sich dabei für witzig. Gewöhnt Euch schon mal dran, denn das werdet Ihr in Zukunft immer häufiger zu hören bekommen!

Wann immer sich eine Gelegenheit bietet, führt er schulmeisterlich die nach seiner Meinung am besten zu einer Situation passende Redewendung an: "Mitgefangen, mitgehangen, heißt das entsprechende Sprichwort", und man weiß oft nicht, ob man das lustig oder nervig finden soll. Im selben Plauderton erzählt er ausführlich von seiner "präsenilen Bettflucht", von seiner Tätigkeit am Stuttgarter Theater und seinen Tändeleien mit Studentinnen. Seine Vergesslichkeit scheint sich dabei leider nur auf Namen zu beschränken.

Manchmal findet Karasek durchaus treffende und geistreiche Formulierungen oder Vergleiche. Im Zeitalter der elektronischen Revolution etwa werden die heutigen Alten zu "lebenden Anachronismen". Aber richtig interessant wird es erst dann, wenn Karasek aufhört, von sich zu sprechen. Dann zeigt sich sein eigentliches Erzähltalent. Zum Beispiel beschreibt er durchaus unterhaltsam und mitreißend die kuriose Betriebsamkeit des alten Goethe, der 1821 in Marienbad gewissermaßen seinen letzten Frühling erlebte, als er die 55 Jahre jüngere Ulrike von Levetzow kennenlernte. Die Ablehnung seines bald folgenden Heiratsantrags wurde für den vergreisten Dichterfürsten zur größten Niederlage seines Lebens, poetisch verarbeitet in der berühmten "Marienbader Elegie", einem der schönsten Gedichte deutscher Sprache.

Dies alles liest man mit Vergnügen und Interesse, bis man bemerkt, dass Karasek eigentlich doch wieder nur von sich selbst redet - vermittelt durch ein Alter Ego. So holt der Kunstkenner weit aus zu einer eigenartigen Studie über Alterspädophilie bei Goethe, Brecht und Charlie Chaplin. Immer mit Ironie und Witz natürlich, denn "Ironie ist ein Ausdrucksmittel des Alters", wie Karasek mit Bezug auf Thomas Mann konstatiert. Allerdings fügt er noch hinzu: "wenn es zu Abstand, zur Distanz fähig ist und noch die Kraft dazu findet". Genau diese Kraft scheint dem alternden Ego Karasek abhanden gekommen zu sein. Zwar ist zu erkennen, dass er mit der Schilderung der erwähnten Fälle die allgemeine Neigung des alternden Menschen vorführen möchte, vor dem Schreckbild des Todes in den tröstenden Widerschein blühender Jugendlichkeit zu fliehen - der Buchtitel deutet es an. Dabei tut Karasek aber so, als sei solches Verhalten eine naturgegebene Konstante, und den Leser beschleicht das unangenehme Gefühl, unfreiwilliger Adressat eines Rechtfertigungsversuches zu sein.

Anhand einer kurzen Untersuchung der verbitterten, närrischen und tragischen Altersfiguren Shakespeares (Shylock, Polonius und Lear) kommt Karasek halb im Scherz, halb im Ernst zu dem Fazit, dass "Hypochondrie [...] eine Form von Lebenserfahrung [ist], die man früher Altersweisheit genannt hat". Wer Erkenntnisse dieser Art sucht, greife zu Karaseks Buch.

Karasek springt also mit seiner neuen Veröffentlichung keineswegs auf den Schirrmacher-Zug alarmierender demografischer Analysen und Prognosen auf, wonach die Deutschen einer drastischen Überalterung entgegensehen. (Er hat ja schon Schwierigkeiten mit dem Schuhzubinden. Wie soll er da auf einen Zug aufspringen?) Denn obwohl das Werk in den Verkaufslisten unter der Rubrik Sachbücher erscheint, handelt es sich (wie bei vielen Titeln in dieser Rubrik) nicht eigentlich um ein Sachbuch. (Hat Karasek überhaupt jemals ein Sachbuch geschrieben?) "Süßer Vogel Jugend" ist aber auch kein großer Essay, kein monumentales Alterswerk, kein "Doktor Faustus", sondern eben ein echter Karasek: eine durch Erzählleidenschaft motivierte Zusammenstellung von mehr oder weniger unterhaltsamen Anekdoten, teilweise interessanten Reflexionen und elenden Selbstdarstellungen.

Den bedrückenden Begleitumständen des Alterns versucht Karasek mit leichter Feder gleichsam die Schwere zu nehmen und erlebt dabei sein ganz persönliches Marienbad: Das gesamte Buch hindurch umkreist er das Objekt seiner Begierde, den Jungbrunnen, und geht schließlich baden bei dem Versuch, sich von dem Vorgang zu distanzieren. Welche Ironie! Allerdings springen dabei für den Leser auf der anderen Seite weder Casanovas Memoiren noch eine frische "Marienbader Elegie" heraus. Alter schützt vor Torheit nicht, heißt, glaube ich, die entsprechende Redewendung.


Titelbild

Hellmuth Karasek: Süßer Vogel Jugend oder Der Abend wirft längere Schatten.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006.
271 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-10: 3455400167

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