Verstörte Seelen, überforderte Helfer

Paulus Hochgatterers neuer Roman "Die Süße des Lebens"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine alte Krimiregel lautet: Je harmloser sich etwas zu Beginn präsentiert, desto abgründiger ist es in Wirklichkeit. Nicht anders verhält es sich mit dem "gewöhnlichen alten Mann", der zu Beginn von Paulus Hochgatterers Roman "Die Süße des Lebens" ermordet wird. Die Polizei mag rätseln, warum ihm jemand an Weihnachten den Kopf zermalmte. Der Leser erahnt das Motiv schon auf der ersten Seite, wenn er erfährt, dass der Großvater beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel die Figuren seiner Enkelin "Stöpsel", seine eigenen "Soldaten" nennt.

Das Motiv der späten Rache an einem Altnazi ist so unoriginell, dass es wenig schadet, es hier zu verraten. Zumal der Roman seine Spannung und seinen Reiz nur in geringem Maß aus dem Who-dunnit bezieht. Denn wie Hochgatterer die solide konstruierte Handlung nur zersplittert, sie durch die Perspektiven und Sprachmasken sich abwechselnder Figuren serviert, ist schon recht pfiffig. Wobei die mal mehr, mal weniger großen Sympathien des Autors am schwankenden Umfang der 25 Kapitel deutlich werden. Den meisten Raum erhalten der alternde Kommissar Ludwig Kovacs sowie Raffael Horn, der als Jugendpsychiater im Ortskrankenhaus die 7-jährige Enkelin des Ermordeten behandelt. Ihr hat der Anblick der Leiche im Schnee buchstäblich die Sprache geraubt.

"Reizvoll" ist aber auch das Setting, ein fiktives Nest namens Furth am See, irgendwo zwischen Gmunden und Zell gelegen und, wie es sich bei einem österreichischen Autor eigentlich von selbst versteht, ein wahres Lynchville. Dass sich Horns Chef um die Auslastung der Betten der psychiatrischen Abteilung sorgt, kann nur ironisch verstanden werden, ebenso, dass Horn "die fixe Idee, die Landbevölkerung sei weniger psychopathisch", hierher verschlagen hat. Hochgatterer präsentiert ein Panoptikum gefährdeter und verstörter Seelen, die in der alpenländischen Winterlandschaft mit ihren Dämonen kämpfen. Von Müttern, die ihr Neugeborenes für den Teufel halten, bis zu Jugendlichen, die in der Rolle von Darth Vader mit Messer und Hammer die örtliche Fauna dezimieren. Der Autor weiß, wovon er spricht, ist er doch hauptberuflich selbst als Analytiker und Jugendpsychiater tätig.

Hochgatterers Kleinstadt-Psychogramm zeigt: Die Grenze zur Krankheit ist fließend, ebenso die zwischen Fantasie und Realität. Gewaltausbrüche imaginieren in dieser von Fremdenfeindlichkeit und Ressentiments vergifteten Atmosphäre fast alle; selbst der Psychiater träumt schon mal davon, einem verhassten Kollegen eine glühende Nadel in den Oberschenkel zu jagen. Krank wäre demnach nur, wer es nicht beim Traum belässt. Wie der Psychopath Schmidinger, der, seitdem er "die Nutzbarkeit der Psychiatrie" kennen gelernt hat, unter Berufung auf seine Unzurechnungsfähigkeit seiner Tochter fröhlich die Beine bricht.

Kein Wunder, dass die professionellen Helfer ratlos, die Institutionen der Gesundheit längst selbst erkrankt sind. Der Benediktinerpater Bauer etwa kann seine Angst, mental zu fragmentieren, nur bewältigen, indem er selbst beim Zelebrieren der Messe der Musik aus seinem iPod lauscht. Auch Kovacs und Horn zeigen Symptome der Überforderung. Der Kommissar grübelt am liebsten über das Privatleben seiner Kollegen und überhört prompt wichtige Hinweise seines Assistenten. Und der Psychiater verschreibt einem verhinderten Selbstmörder Psychopharmaka, statt ihn nach den Gründen für seine Tat zu fragen.

Leichte Kost ist es also nicht, die Paulus Hochgatterer einem da vorsetzt. Sieben Bücher, Romane und Erzählungen hat der 1961 im niederösterreichischen Amstetten geborene Autor inzwischen vorgelegt, alle im Wiener Deuticke Verlag. Ein Werk, das die alte, spannungsreiche Allianz zwischen Medizin und Literatur fortführt und bislang zu wenig Beachtung gefunden hat.


Titelbild

Paulus Hochgatterer: Die Süße des Lebens. Roman.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2006.
294 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3552060278

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